andern objektiven Grund als das Sittengesetz selbst, welches spricht: Du kannst, denn du sollst? Erhebt sich nicht unsre Seele zum Sittlichen, indem sie es als ihr eigenes Gesetz er- kennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug zum Vertrauen, dass das Sittliche, dessen Idee wir haben und als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in uns finden, auch den Sieg behalten muss über alles, was in oder ausser uns ihm widerstrebt? Kann nicht die Grösse dieser Erkenntnis unsre Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Ge- fühl: hier ist das Heil und es ist dir errungen, so du nur in deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur "glauben" wolltest? Ich kann nicht erkennen, dass Religion in ihrem wahren Grunde mehr oder Andres sagte; was sie sonst noch sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der über- schwänglichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen Erlebnisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich gegenwärtige Gottheit. Gewiss muss die reine Idee auch in Beziehung treten zu meinem individuellen Sein und Leben, wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll. Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die mit noch so reiner Selbstgewissheit des Wollens ergriffene sitt- liche Aufgabe aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn das ewig Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich geworden geglaubt wird. Gerade das heisst den tiefsten Quell des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fliesst allein aus dem Bewusstsein der ewigen Aufgabe. "Glaube" ist ein gutes Wort dafür, gerade sofern es einschliesst, dass wir "nicht sehen und doch glauben". Ueberbietet also nicht der sittliche Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) sogar in der Energie des Glaubens selbst?
Die religiöse Symbolik endlich vermag ihre Bedeutung unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, dass sie das endliche, ja sinnliche Zeichen nicht bloss als Zeichen, als Stützpunkt des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch be- hauptet; dass das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst
andern objektiven Grund als das Sittengesetz selbst, welches spricht: Du kannst, denn du sollst? Erhebt sich nicht unsre Seele zum Sittlichen, indem sie es als ihr eigenes Gesetz er- kennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug zum Vertrauen, dass das Sittliche, dessen Idee wir haben und als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in uns finden, auch den Sieg behalten muss über alles, was in oder ausser uns ihm widerstrebt? Kann nicht die Grösse dieser Erkenntnis unsre Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Ge- fühl: hier ist das Heil und es ist dir errungen, so du nur in deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur „glauben“ wolltest? Ich kann nicht erkennen, dass Religion in ihrem wahren Grunde mehr oder Andres sagte; was sie sonst noch sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der über- schwänglichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen Erlebnisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich gegenwärtige Gottheit. Gewiss muss die reine Idee auch in Beziehung treten zu meinem individuellen Sein und Leben, wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll. Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die mit noch so reiner Selbstgewissheit des Wollens ergriffene sitt- liche Aufgabe aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn das ewig Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich geworden geglaubt wird. Gerade das heisst den tiefsten Quell des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fliesst allein aus dem Bewusstsein der ewigen Aufgabe. „Glaube“ ist ein gutes Wort dafür, gerade sofern es einschliesst, dass wir „nicht sehen und doch glauben“. Ueberbietet also nicht der sittliche Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) sogar in der Energie des Glaubens selbst?
Die religiöse Symbolik endlich vermag ihre Bedeutung unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, dass sie das endliche, ja sinnliche Zeichen nicht bloss als Zeichen, als Stützpunkt des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch be- hauptet; dass das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst
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andern objektiven Grund als das Sittengesetz selbst, welches
spricht: Du kannst, denn du sollst? Erhebt sich nicht unsre
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kennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug
zum Vertrauen, dass das Sittliche, dessen Idee wir haben und
als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in uns finden, auch
den Sieg behalten muss über alles, was in oder ausser uns ihm
widerstrebt? Kann nicht die Grösse dieser Erkenntnis unsre
Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Ge-
fühl: hier ist das Heil und es ist dir errungen, so du nur in
deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur „glauben“
wolltest? Ich kann nicht erkennen, dass Religion in ihrem
wahren Grunde mehr oder Andres sagte; was sie sonst noch
sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist
so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der über-
schwänglichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen
Erlebnisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich
gegenwärtige Gottheit. Gewiss muss die reine Idee auch in
Beziehung treten zu meinem individuellen Sein und Leben,
wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll.
Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die
mit noch so reiner Selbstgewissheit des Wollens ergriffene sitt-
liche Aufgabe aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn
das ewig Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich
geworden geglaubt wird. Gerade das heisst den tiefsten Quell
des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fliesst
allein aus dem Bewusstsein der ewigen Aufgabe. „Glaube“ ist ein
gutes Wort dafür, gerade sofern es einschliesst, dass wir „nicht
sehen und doch glauben“. Ueberbietet also nicht der sittliche
Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) sogar in
der Energie des Glaubens selbst?
Die religiöse Symbolik endlich vermag ihre Bedeutung
unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, dass sie das endliche,
ja sinnliche Zeichen nicht bloss als Zeichen, als Stützpunkt
des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen
im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch be-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/356>, abgerufen am 30.11.2024.
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