die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt. Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm, wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men- schen, in einer dem Kinde durchaus fasslichen Form. Will man etwas von dieser Bedeutung sich klarmachen, so vergegen- wärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna: in diesem weit, ins Unermessliche blickenden Auge liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und unergründ- licher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinausragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wunder- sames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind Mensch, nach dem höchsten, was dies Wort einschliessen kann, mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; sowie die Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloss eine Mutter ist, sondern die Mutter, nicht bloss ein Weib, sondern das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen Mutter des menschgewordenen Gottes die Ahnung gefunden werden, dass Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben können, seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen selbst. Und so hat es wiederum auch Sinn, dass der Mensch von Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer künst- lerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an die Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. Das Selbstbewusstsein des zur Mannheit erstarkten Menschen ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke einherfahrenden Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt. So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen Grund-
die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt. Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm, wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men- schen, in einer dem Kinde durchaus fasslichen Form. Will man etwas von dieser Bedeutung sich klarmachen, so vergegen- wärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna: in diesem weit, ins Unermessliche blickenden Auge liegt eine Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und unergründ- licher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinausragt. Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wunder- sames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind Mensch, nach dem höchsten, was dies Wort einschliessen kann, mit dem Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; sowie die Mutter, die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, nein, der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloss eine Mutter ist, sondern die Mutter, nicht bloss ein Weib, sondern das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen Mutter des menschgewordenen Gottes die Ahnung gefunden werden, dass Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben können, seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen selbst. Und so hat es wiederum auch Sinn, dass der Mensch von Gott geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer künst- lerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an die Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. Das Selbstbewusstsein des zur Mannheit erstarkten Menschen ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke einherfahrenden Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt. So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen Grund-
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Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen
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wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht
vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es
ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men-
schen, in einer dem Kinde durchaus fasslichen Form. Will
man etwas von dieser Bedeutung sich klarmachen, so vergegen-
wärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna:
in diesem weit, ins Unermessliche blickenden Auge liegt eine
Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und unergründ-
licher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinausragt.
Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wunder-
sames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind Mensch,
nach dem höchsten, was dies Wort einschliessen kann, mit dem
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die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, nein,
der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloss eine
Mutter ist, sondern die Mutter, nicht bloss ein Weib, sondern
das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit
ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen Mutter
des menschgewordenen Gottes die Ahnung gefunden werden,
dass Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben können,
seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen selbst.
Und so hat es wiederum auch Sinn, dass der Mensch von Gott
geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den
Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist
der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer künst-
lerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an die
Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. Das
Selbstbewusstsein des zur Mannheit erstarkten Menschen
ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke
einherfahrenden Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde
dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt.
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/361>, abgerufen am 30.11.2024.
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