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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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einer unübersehbaren Zahl unmerklicher solcher Tendenzen
sind: sollte ich, bei dieser Erkenntnis, gleichwohl nichts Festeres
und Klareres mir zum Ziel meines Bestrebens setzen können
oder vielmehr müssen als immer wieder diese ungewissen
Lüste und Meidungen von Unlust? Diese Behauptung schiene
mir nicht besser begründet als die andre: weil ich nötig habe
zu essen und zu trinken um zu leben, so müsse Essen und
Trinken allen Inhalt meines Lebens, meines Denkens, Fühlens
und Strebens ausmachen, und alles andre nur eine, man weiss
nicht wozu dienliche, Verkleidung dieses allein wahren Lebens-
inhalts sein.

Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der
Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus-
setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck
an sich, nicht der einzige letztbestimmende Zweck. Der Trieb
zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen und
umgekehrt; Beweis genug, dass keiner von beiden der allein
oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme
überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose
Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die
eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag.
Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie
dann mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich
strebt kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben.
Warum auch? Blosses Dasein ist kein Zweck, bei dem sich
stehen bleiben liesse. Dass man nach dem Zweck des Daseins
so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin-
reichender Beweis, dass wenigstens der Gedanke im blossen
Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine
sittliche Erwägung, dass es thöricht ist propter vitam vitae
perdere causas
, um des Lebens willen das daran zu geben, was
allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein,
worin man einen zureichenden Grund zu leben findet.

Und so bleibt es dabei, dass mindestens von dem Augen-
blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens
erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke giebt (und es
giebt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h.

einer unübersehbaren Zahl unmerklicher solcher Tendenzen
sind: sollte ich, bei dieser Erkenntnis, gleichwohl nichts Festeres
und Klareres mir zum Ziel meines Bestrebens setzen können
oder vielmehr müssen als immer wieder diese ungewissen
Lüste und Meidungen von Unlust? Diese Behauptung schiene
mir nicht besser begründet als die andre: weil ich nötig habe
zu essen und zu trinken um zu leben, so müsse Essen und
Trinken allen Inhalt meines Lebens, meines Denkens, Fühlens
und Strebens ausmachen, und alles andre nur eine, man weiss
nicht wozu dienliche, Verkleidung dieses allein wahren Lebens-
inhalts sein.

Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der
Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus-
setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck
an sich, nicht der einzige letztbestimmende Zweck. Der Trieb
zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen und
umgekehrt; Beweis genug, dass keiner von beiden der allein
oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme
überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose
Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die
eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag.
Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie
dann mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich
strebt kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben.
Warum auch? Blosses Dasein ist kein Zweck, bei dem sich
stehen bleiben liesse. Dass man nach dem Zweck des Daseins
so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin-
reichender Beweis, dass wenigstens der Gedanke im blossen
Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine
sittliche Erwägung, dass es thöricht ist propter vitam vitae
perdere causas
, um des Lebens willen das daran zu geben, was
allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein,
worin man einen zureichenden Grund zu leben findet.

Und so bleibt es dabei, dass mindestens von dem Augen-
blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens
erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke giebt (und es
giebt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h.

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[42/0058] einer unübersehbaren Zahl unmerklicher solcher Tendenzen sind: sollte ich, bei dieser Erkenntnis, gleichwohl nichts Festeres und Klareres mir zum Ziel meines Bestrebens setzen können oder vielmehr müssen als immer wieder diese ungewissen Lüste und Meidungen von Unlust? Diese Behauptung schiene mir nicht besser begründet als die andre: weil ich nötig habe zu essen und zu trinken um zu leben, so müsse Essen und Trinken allen Inhalt meines Lebens, meines Denkens, Fühlens und Strebens ausmachen, und alles andre nur eine, man weiss nicht wozu dienliche, Verkleidung dieses allein wahren Lebens- inhalts sein. Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus- setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck an sich, nicht der einzige letztbestimmende Zweck. Der Trieb zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen und umgekehrt; Beweis genug, dass keiner von beiden der allein oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag. Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie dann mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich strebt kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben. Warum auch? Blosses Dasein ist kein Zweck, bei dem sich stehen bleiben liesse. Dass man nach dem Zweck des Daseins so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin- reichender Beweis, dass wenigstens der Gedanke im blossen Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine sittliche Erwägung, dass es thöricht ist propter vitam vitae perdere causas, um des Lebens willen das daran zu geben, was allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein, worin man einen zureichenden Grund zu leben findet. Und so bleibt es dabei, dass mindestens von dem Augen- blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke giebt (und es giebt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/58>, abgerufen am 21.11.2024.