diente Strafe, dass ich, im Besitz des Erstrebten, es als trüg- liches, im Grunde gar nicht von mir gewolltes Ziel erkenne. Also entweder, ich nehme fort und fort bloss Empirisches für Unbedingtes, um zu schmerzlicher Enttäuschung immer wieder durch Erfahrung Lügen gestraft zu werden; oder ich mache mir ein für allemal voraus klar, dass man nur Unbedingtes unbedingt wollen, dann aber auch nicht erwarten soll, es in Erfahrung je anzutreffen. Wird dadurch es selbst oder der auf es sich richtende Wille zur Chimäre? Keineswegs: das Unbedingte bestimmt als Richtpunkt unsern Weg, ohne dass dieser darum bis zu ihm hin führen müsste. Das Ziel liegt über aller Erfahrung, aber es ist dennoch, ja eben damit fest und gewiss, denn es ist bestimmt durch das Gesetz der Ein- heit, das ich als Urgesetz meines Bewusstseins erkenne, und auch in der Erfahrung immer befolge und bewährt finde.
Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des Willens Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei- heit des Bewusstseins, die Erhebung des geistigen Blicks, des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver- meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es lässt thatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden. Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, inso- fern zu deren Begriff gehört, dass sie mit und aus dem prak- tischen Bewusstsein geschieht.
Nicht der kleinste Gewinn unsrer Untersuchung ist, dass nach ihrem Ergebnis zwischen Verstand und Willen keine Kluft mehr besteht, während doch die begriffliche Grenze zwischen beiden fest und unverrückt bleibt. Sie sind für uns nicht mehr zwei an sich selbständige, erst hinterher zusammen- wirkende Vermögen oder seelische Kräfte, sondern als ver- schiedene, doch notwendig zusammengehörende Richtungen eines und desselben Bewusstseins nur in der Abstraktion zu scheiden. Der Mensch versteht nur, indem er will, er will nur, indem er versteht. Auch bedarf es gar keiner psycholo-
diente Strafe, dass ich, im Besitz des Erstrebten, es als trüg- liches, im Grunde gar nicht von mir gewolltes Ziel erkenne. Also entweder, ich nehme fort und fort bloss Empirisches für Unbedingtes, um zu schmerzlicher Enttäuschung immer wieder durch Erfahrung Lügen gestraft zu werden; oder ich mache mir ein für allemal voraus klar, dass man nur Unbedingtes unbedingt wollen, dann aber auch nicht erwarten soll, es in Erfahrung je anzutreffen. Wird dadurch es selbst oder der auf es sich richtende Wille zur Chimäre? Keineswegs: das Unbedingte bestimmt als Richtpunkt unsern Weg, ohne dass dieser darum bis zu ihm hin führen müsste. Das Ziel liegt über aller Erfahrung, aber es ist dennoch, ja eben damit fest und gewiss, denn es ist bestimmt durch das Gesetz der Ein- heit, das ich als Urgesetz meines Bewusstseins erkenne, und auch in der Erfahrung immer befolge und bewährt finde.
Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des Willens Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei- heit des Bewusstseins, die Erhebung des geistigen Blicks, des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver- meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es lässt thatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden. Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, inso- fern zu deren Begriff gehört, dass sie mit und aus dem prak- tischen Bewusstsein geschieht.
Nicht der kleinste Gewinn unsrer Untersuchung ist, dass nach ihrem Ergebnis zwischen Verstand und Willen keine Kluft mehr besteht, während doch die begriffliche Grenze zwischen beiden fest und unverrückt bleibt. Sie sind für uns nicht mehr zwei an sich selbständige, erst hinterher zusammen- wirkende Vermögen oder seelische Kräfte, sondern als ver- schiedene, doch notwendig zusammengehörende Richtungen eines und desselben Bewusstseins nur in der Abstraktion zu scheiden. Der Mensch versteht nur, indem er will, er will nur, indem er versteht. Auch bedarf es gar keiner psycholo-
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diente Strafe, dass ich, im Besitz des Erstrebten, es als trüg-
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Unbedingtes, um zu schmerzlicher Enttäuschung immer wieder
durch Erfahrung Lügen gestraft zu werden; oder ich mache
mir ein für allemal voraus klar, dass man nur Unbedingtes
unbedingt wollen, dann aber auch nicht erwarten soll, es in
Erfahrung je anzutreffen. Wird dadurch es selbst oder der
auf es sich richtende Wille zur Chimäre? Keineswegs: das
Unbedingte bestimmt als Richtpunkt unsern Weg, ohne dass
dieser darum bis zu ihm hin führen müsste. Das Ziel liegt
über aller Erfahrung, aber es ist dennoch, ja eben damit fest
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Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des
Willens Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei-
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des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver-
meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu
zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es lässt
thatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der
Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn
des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden.
Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, inso-
fern zu deren Begriff gehört, dass sie mit und aus dem prak-
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Nicht der kleinste Gewinn unsrer Untersuchung ist, dass
nach ihrem Ergebnis zwischen Verstand und Willen keine
Kluft mehr besteht, während doch die begriffliche Grenze
zwischen beiden fest und unverrückt bleibt. Sie sind für uns
nicht mehr zwei an sich selbständige, erst hinterher zusammen-
wirkende Vermögen oder seelische Kräfte, sondern als ver-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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