§ 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.
Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf- stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.
Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar- gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge- meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge- meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän- kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un- endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt; für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge- meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das
§ 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.
Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf- stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.
Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar- gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge- meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge- meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän- kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un- endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt; für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge- meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0099"n="[83]"/><divn="2"><head>§ 11.<lb/><hirendition="#b">Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.</hi></head><lb/><p>Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen<lb/>
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft<lb/>
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb<lb/>
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf-<lb/>
stellung eines Systems <hirendition="#g">individueller Tugenden</hi> beginnen.</p><lb/><p>Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar-<lb/>
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht<lb/>
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung<lb/>
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den<lb/>
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss<lb/>
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge-<lb/>
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des<lb/>
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der<lb/>
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge-<lb/>
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän-<lb/>
kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den<lb/>
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un-<lb/>
endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit<lb/>
verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die<lb/>
Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt;<lb/>
für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge-<lb/>
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit<lb/>
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was <hirendition="#i">in concreto</hi> das<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[83]/0099]
§ 11.
Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.
Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf-
stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.
Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar-
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge-
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge-
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän-
kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un-
endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit
verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die
Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt;
für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge-
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. [83]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/99>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.