Es war ein Fleck am Wege, der nichts hatte, was einem Todtenacker ähnlich sah. Hier sollten wir nun ein Grab graben; da es aber den Kerlen damit zulange währte, nahmen sie uns verdrießlich die Spaten aus den Händen, schaufelten und schalten uns "Ketzer." Wir hingegen gaben alle mögliche gute Worte; und sobald auch nur das Grab so tief geöffnet war, daß der obere Sarg- deckel unter Erde kommen konnte, senkten wir die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein, füllten die Erde drüber her, nahmen unter tausend heissen Thränen Abschied, und wan- derten bekümmert wieder auf unsern rothen Löwen zu; -- doch nur, um, nach einer ängstlich durchseufzten Nacht, gleich am näch- sten Morgen wieder das Grab des lieben Oheims aufzusuchen und auf demselben zu jammern.
Fürwahr, wer eine menschliche Seele hat, wird unser Elend mit uns fühlen! Da saßen wir drei Jungen, von Achtzehn bis zu vierzehn Jahren herab, in der größten Lei- bes- und Seelen-Noth -- in einem ganz fremden Lande, auf dem freien Felde und über dem frischen Grabhügel unsers geliebten Vaters und Führers! -- saßen, als eine arge Ketzerbrut von Jedermann gemieden und ausgestoßen, ohne einen Pfennig im Vermö-
Es war ein Fleck am Wege, der nichts hatte, was einem Todtenacker aͤhnlich ſah. Hier ſollten wir nun ein Grab graben; da es aber den Kerlen damit zulange waͤhrte, nahmen ſie uns verdrießlich die Spaten aus den Haͤnden, ſchaufelten und ſchalten uns „Ketzer.‟ Wir hingegen gaben alle moͤgliche gute Worte; und ſobald auch nur das Grab ſo tief geoͤffnet war, daß der obere Sarg- deckel unter Erde kommen konnte, ſenkten wir die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein, fuͤllten die Erde druͤber her, nahmen unter tauſend heiſſen Thraͤnen Abſchied, und wan- derten bekuͤmmert wieder auf unſern rothen Loͤwen zu; — doch nur, um, nach einer aͤngſtlich durchſeufzten Nacht, gleich am naͤch- ſten Morgen wieder das Grab des lieben Oheims aufzuſuchen und auf demſelben zu jammern.
Fuͤrwahr, wer eine menſchliche Seele hat, wird unſer Elend mit uns fuͤhlen! Da ſaßen wir drei Jungen, von Achtzehn bis zu vierzehn Jahren herab, in der groͤßten Lei- bes- und Seelen-Noth — in einem ganz fremden Lande, auf dem freien Felde und uͤber dem friſchen Grabhuͤgel unſers geliebten Vaters und Fuͤhrers! — ſaßen, als eine arge Ketzerbrut von Jedermann gemieden und ausgeſtoßen, ohne einen Pfennig im Vermoͤ-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0074"n="58"/><p>Es war ein Fleck am Wege, der nichts<lb/>
hatte, was einem Todtenacker aͤhnlich ſah.<lb/>
Hier ſollten wir nun ein Grab graben; da<lb/>
es aber den Kerlen damit zulange waͤhrte,<lb/>
nahmen ſie uns verdrießlich die Spaten aus<lb/>
den Haͤnden, ſchaufelten und ſchalten uns<lb/>„Ketzer.‟ Wir hingegen gaben alle moͤgliche<lb/>
gute Worte; und ſobald auch nur das Grab<lb/>ſo tief geoͤffnet war, daß der obere Sarg-<lb/>
deckel unter Erde kommen konnte, ſenkten wir<lb/>
die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein,<lb/>
fuͤllten die Erde druͤber her, nahmen unter<lb/>
tauſend heiſſen Thraͤnen Abſchied, und wan-<lb/>
derten bekuͤmmert wieder auf unſern rothen<lb/>
Loͤwen zu; — doch nur, um, nach einer<lb/>
aͤngſtlich durchſeufzten Nacht, gleich am naͤch-<lb/>ſten Morgen wieder das Grab des lieben<lb/>
Oheims aufzuſuchen und auf demſelben zu<lb/>
jammern.</p><lb/><p>Fuͤrwahr, wer eine menſchliche Seele<lb/>
hat, wird unſer Elend mit uns fuͤhlen! Da<lb/>ſaßen wir drei Jungen, von Achtzehn bis zu<lb/>
vierzehn Jahren herab, in der groͤßten Lei-<lb/>
bes- und Seelen-Noth — in einem ganz<lb/>
fremden Lande, auf dem freien Felde und<lb/>
uͤber dem friſchen Grabhuͤgel unſers geliebten<lb/>
Vaters und Fuͤhrers! —ſaßen, als eine<lb/>
arge Ketzerbrut von Jedermann gemieden und<lb/>
ausgeſtoßen, ohne einen Pfennig im Vermoͤ-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[58/0074]
Es war ein Fleck am Wege, der nichts
hatte, was einem Todtenacker aͤhnlich ſah.
Hier ſollten wir nun ein Grab graben; da
es aber den Kerlen damit zulange waͤhrte,
nahmen ſie uns verdrießlich die Spaten aus
den Haͤnden, ſchaufelten und ſchalten uns
„Ketzer.‟ Wir hingegen gaben alle moͤgliche
gute Worte; und ſobald auch nur das Grab
ſo tief geoͤffnet war, daß der obere Sarg-
deckel unter Erde kommen konnte, ſenkten wir
die Leiche mit Weinen und Wehklagen hinein,
fuͤllten die Erde druͤber her, nahmen unter
tauſend heiſſen Thraͤnen Abſchied, und wan-
derten bekuͤmmert wieder auf unſern rothen
Loͤwen zu; — doch nur, um, nach einer
aͤngſtlich durchſeufzten Nacht, gleich am naͤch-
ſten Morgen wieder das Grab des lieben
Oheims aufzuſuchen und auf demſelben zu
jammern.
Fuͤrwahr, wer eine menſchliche Seele
hat, wird unſer Elend mit uns fuͤhlen! Da
ſaßen wir drei Jungen, von Achtzehn bis zu
vierzehn Jahren herab, in der groͤßten Lei-
bes- und Seelen-Noth — in einem ganz
fremden Lande, auf dem freien Felde und
uͤber dem friſchen Grabhuͤgel unſers geliebten
Vaters und Fuͤhrers! — ſaßen, als eine
arge Ketzerbrut von Jedermann gemieden und
ausgeſtoßen, ohne einen Pfennig im Vermoͤ-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/74>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.