Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821.

Bild:
<< vorherige Seite

Märsche ungewohnt, hatten die Füße voller
Blasen und fanden sich auch anderweitig un-
bequem; so daß mir's immer schwerer fiel,
sie des Weges vorwärts zu bringen. Gieng
ich meinen guten Schritt vorweg und sah
dann hinter mich, so war der Eine noch im-
mer weiter, als der Andre, zurückgeblieben.
Bat ich sie, sich zu fördern: -- sie wollten
nicht, sie konnten nicht; sie weinten. Es
gedieh endlich so weit damit, daß mein Bru-
der auf einem Düngerhaufen am Wege sitzen
blieb und unter heißen Thränen betheuerte:
Jetzt vermöchte er nicht weiter; ich möchte
nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt'
ich ihm von unserm Gelde nichts zukommen
lassen, so möcht' es darum seyn. Es sey
ihm ohnehin so zu Sinne, als müss' er hier
sitzen bleiben und Hungers sterben.

Meine Angst war unaussprechlich. Jch
weinte mit ihm um die Wette; ich tröstete,
ich versprach ihm goldene Berge, wenn er
nur aufstehen und es versuchen wollte, mit
mir fort zu humpeln. Nur bis aus nächste
Dorf noch sollt' er sich fortschleppen, bevor
es Abend würde. Morgen wollten wir ein
Fuhrwerk nehmen, und Alles sollte besser
werden. Unter solchem kräftigen Zureden
nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte
mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er

1. Bändchen. (6)

Maͤrſche ungewohnt, hatten die Fuͤße voller
Blaſen und fanden ſich auch anderweitig un-
bequem; ſo daß mir’s immer ſchwerer fiel,
ſie des Weges vorwaͤrts zu bringen. Gieng
ich meinen guten Schritt vorweg und ſah
dann hinter mich, ſo war der Eine noch im-
mer weiter, als der Andre, zuruͤckgeblieben.
Bat ich ſie, ſich zu foͤrdern: — ſie wollten
nicht, ſie konnten nicht; ſie weinten. Es
gedieh endlich ſo weit damit, daß mein Bru-
der auf einem Duͤngerhaufen am Wege ſitzen
blieb und unter heißen Thraͤnen betheuerte:
Jetzt vermoͤchte er nicht weiter; ich moͤchte
nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt’
ich ihm von unſerm Gelde nichts zukommen
laſſen, ſo moͤcht’ es darum ſeyn. Es ſey
ihm ohnehin ſo zu Sinne, als muͤſſ’ er hier
ſitzen bleiben und Hungers ſterben.

Meine Angſt war unausſprechlich. Jch
weinte mit ihm um die Wette; ich troͤſtete,
ich verſprach ihm goldene Berge, wenn er
nur aufſtehen und es verſuchen wollte, mit
mir fort zu humpeln. Nur bis aus naͤchſte
Dorf noch ſollt’ er ſich fortſchleppen, bevor
es Abend wuͤrde. Morgen wollten wir ein
Fuhrwerk nehmen, und Alles ſollte beſſer
werden. Unter ſolchem kraͤftigen Zureden
nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte
mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er

1. Bändchen. (6)
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0097" n="81"/>
Ma&#x0364;r&#x017F;che ungewohnt, hatten die Fu&#x0364;ße voller<lb/>
Bla&#x017F;en und fanden &#x017F;ich auch anderweitig un-<lb/>
bequem; &#x017F;o daß mir&#x2019;s immer &#x017F;chwerer fiel,<lb/>
&#x017F;ie des Weges vorwa&#x0364;rts zu bringen. Gieng<lb/>
ich meinen guten Schritt vorweg und &#x017F;ah<lb/>
dann hinter mich, &#x017F;o war der Eine noch im-<lb/>
mer weiter, als der Andre, zuru&#x0364;ckgeblieben.<lb/>
Bat ich &#x017F;ie, &#x017F;ich zu fo&#x0364;rdern: &#x2014; &#x017F;ie wollten<lb/>
nicht, &#x017F;ie konnten nicht; &#x017F;ie weinten. Es<lb/>
gedieh endlich &#x017F;o weit damit, daß mein Bru-<lb/>
der auf einem Du&#x0364;ngerhaufen am Wege &#x017F;itzen<lb/>
blieb und unter heißen Thra&#x0364;nen betheuerte:<lb/>
Jetzt vermo&#x0364;chte er nicht weiter; ich mo&#x0364;chte<lb/>
nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt&#x2019;<lb/>
ich ihm von un&#x017F;erm Gelde nichts zukommen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o mo&#x0364;cht&#x2019; es darum &#x017F;eyn. Es &#x017F;ey<lb/>
ihm ohnehin &#x017F;o zu Sinne, als mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;&#x2019; er hier<lb/>
&#x017F;itzen bleiben und Hungers &#x017F;terben.</p><lb/>
        <p>Meine Ang&#x017F;t war unaus&#x017F;prechlich. Jch<lb/>
weinte mit ihm um die Wette; ich tro&#x0364;&#x017F;tete,<lb/>
ich ver&#x017F;prach ihm goldene Berge, wenn er<lb/>
nur auf&#x017F;tehen und es ver&#x017F;uchen wollte, mit<lb/>
mir fort zu humpeln. Nur bis aus na&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Dorf noch &#x017F;ollt&#x2019; er &#x017F;ich fort&#x017F;chleppen, bevor<lb/>
es Abend wu&#x0364;rde. Morgen wollten wir ein<lb/>
Fuhrwerk nehmen, und Alles &#x017F;ollte be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
werden. Unter &#x017F;olchem kra&#x0364;ftigen Zureden<lb/>
nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte<lb/>
mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1. Bändchen. (6)</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[81/0097] Maͤrſche ungewohnt, hatten die Fuͤße voller Blaſen und fanden ſich auch anderweitig un- bequem; ſo daß mir’s immer ſchwerer fiel, ſie des Weges vorwaͤrts zu bringen. Gieng ich meinen guten Schritt vorweg und ſah dann hinter mich, ſo war der Eine noch im- mer weiter, als der Andre, zuruͤckgeblieben. Bat ich ſie, ſich zu foͤrdern: — ſie wollten nicht, ſie konnten nicht; ſie weinten. Es gedieh endlich ſo weit damit, daß mein Bru- der auf einem Duͤngerhaufen am Wege ſitzen blieb und unter heißen Thraͤnen betheuerte: Jetzt vermoͤchte er nicht weiter; ich moͤchte nur meinen Weg vor mich hingehen. Wollt’ ich ihm von unſerm Gelde nichts zukommen laſſen, ſo moͤcht’ es darum ſeyn. Es ſey ihm ohnehin ſo zu Sinne, als muͤſſ’ er hier ſitzen bleiben und Hungers ſterben. Meine Angſt war unausſprechlich. Jch weinte mit ihm um die Wette; ich troͤſtete, ich verſprach ihm goldene Berge, wenn er nur aufſtehen und es verſuchen wollte, mit mir fort zu humpeln. Nur bis aus naͤchſte Dorf noch ſollt’ er ſich fortſchleppen, bevor es Abend wuͤrde. Morgen wollten wir ein Fuhrwerk nehmen, und Alles ſollte beſſer werden. Unter ſolchem kraͤftigen Zureden nahm ich ihn endlich unter die Arme; hinkte mit ihm weiter, und trug ihn mehr, als er 1. Bändchen. (6)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/97
Zitationshilfe: Nettelbeck, Joachim: Joachim Nettelbeck, Bürger zu Colberg. Bd. 1. Hrsg. v. Johann Christian Ludwig Haken. Leipzig, 1821, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nettelbeck_lebensbeschreibung01_1821/97>, abgerufen am 21.11.2024.