Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite



selbe in tiefen Gedanken einher gieng, und anstatt
auf seine entzückten Ausrufungen zu antworten, eini-
gemal tief seufzete.

,Was fehlt Jhnen? fragte ihn Sebaldus, Sie
"scheinen ganz tiefsinnig zu seyn.'

,Jhre Geschichte, autwortete Hr. F. bringt mir
"das ganze finstere Gemälde der Jntoleranz und der
"Priestergewalt lebhaft wieder zu Gemüthe. Jch
"bin selbst ein Opfer derselben gewesen. Jch habe er-
"fahren, was es heiße, seine gesunde Vernunft un-
"ter den Gehorsam vorgeschriebener symbolischer Bü-
"cher gefangen zu nehmen; ich habe erfahren, welchen
"bequemen Vorwand solche Vorschriften herrschsüchti-
"gen und eigennützigen Geistlichen darbieten, um ihre
"Absichten in der Stille auszuführen; ich habe erfah-
"ren wie bitter der Haß ist, den sie angenblicklich ge-
"gen jeden, den sie einer Abweichung zeihen können,
"erregen können, so lange das Volk in der Meinung
"unterhalten wird, daß solche Vorschriften unwieder-
"ruflich fest stehen bleiben müssen.'

Sebaldus war begierig diese Geschichte zu hören,
und Hr. F. erzählte sie folgendermaßen:

,Jch war in meinen jüngern Jahren dritter Dia-
"kon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fürsten-
"thums. Jch lebte vergnügt, ich hatte Freunde.

"Der
D 4



ſelbe in tiefen Gedanken einher gieng, und anſtatt
auf ſeine entzuͤckten Ausrufungen zu antworten, eini-
gemal tief ſeufzete.

‚Was fehlt Jhnen? fragte ihn Sebaldus, Sie
”ſcheinen ganz tiefſinnig zu ſeyn.‛

‚Jhre Geſchichte, autwortete Hr. F. bringt mir
”das ganze finſtere Gemaͤlde der Jntoleranz und der
”Prieſtergewalt lebhaft wieder zu Gemuͤthe. Jch
”bin ſelbſt ein Opfer derſelben geweſen. Jch habe er-
”fahren, was es heiße, ſeine geſunde Vernunft un-
”ter den Gehorſam vorgeſchriebener ſymboliſcher Buͤ-
”cher gefangen zu nehmen; ich habe erfahren, welchen
”bequemen Vorwand ſolche Vorſchriften herrſchſuͤchti-
”gen und eigennuͤtzigen Geiſtlichen darbieten, um ihre
”Abſichten in der Stille auszufuͤhren; ich habe erfah-
”ren wie bitter der Haß iſt, den ſie angenblicklich ge-
”gen jeden, den ſie einer Abweichung zeihen koͤnnen,
”erregen koͤnnen, ſo lange das Volk in der Meinung
”unterhalten wird, daß ſolche Vorſchriften unwieder-
”ruflich feſt ſtehen bleiben muͤſſen.‛

Sebaldus war begierig dieſe Geſchichte zu hoͤren,
und Hr. F. erzaͤhlte ſie folgendermaßen:

‚Jch war in meinen juͤngern Jahren dritter Dia-
”kon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fuͤrſten-
”thums. Jch lebte vergnuͤgt, ich hatte Freunde.

”Der
D 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0057" n="51"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
&#x017F;elbe in tiefen Gedanken einher gieng, und an&#x017F;tatt<lb/>
auf &#x017F;eine entzu&#x0364;ckten Ausrufungen zu antworten, eini-<lb/>
gemal tief &#x017F;eufzete.</p><lb/>
          <p>&#x201A;Was fehlt Jhnen? fragte ihn <hi rendition="#fr">Sebaldus,</hi> Sie<lb/>
&#x201D;&#x017F;cheinen ganz tief&#x017F;innig zu &#x017F;eyn.&#x201B;</p><lb/>
          <p>&#x201A;Jhre Ge&#x017F;chichte, autwortete Hr. <hi rendition="#fr">F.</hi> bringt mir<lb/>
&#x201D;das ganze fin&#x017F;tere Gema&#x0364;lde der Jntoleranz und der<lb/>
&#x201D;Prie&#x017F;tergewalt lebhaft wieder zu Gemu&#x0364;the. Jch<lb/>
&#x201D;bin &#x017F;elb&#x017F;t ein Opfer der&#x017F;elben gewe&#x017F;en. Jch habe er-<lb/>
&#x201D;fahren, was es heiße, &#x017F;eine ge&#x017F;unde Vernunft un-<lb/>
&#x201D;ter den Gehor&#x017F;am vorge&#x017F;chriebener &#x017F;ymboli&#x017F;cher Bu&#x0364;-<lb/>
&#x201D;cher gefangen zu nehmen; ich habe erfahren, welchen<lb/>
&#x201D;bequemen Vorwand &#x017F;olche Vor&#x017F;chriften herr&#x017F;ch&#x017F;u&#x0364;chti-<lb/>
&#x201D;gen und eigennu&#x0364;tzigen Gei&#x017F;tlichen darbieten, um ihre<lb/>
&#x201D;Ab&#x017F;ichten in der Stille auszufu&#x0364;hren; ich habe erfah-<lb/>
&#x201D;ren wie bitter der Haß i&#x017F;t, den &#x017F;ie angenblicklich ge-<lb/>
&#x201D;gen jeden, den &#x017F;ie einer Abweichung zeihen ko&#x0364;nnen,<lb/>
&#x201D;erregen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o lange das Volk in der Meinung<lb/>
&#x201D;unterhalten wird, daß &#x017F;olche Vor&#x017F;chriften unwieder-<lb/>
&#x201D;ruflich fe&#x017F;t &#x017F;tehen bleiben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.&#x201B;</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Sebaldus</hi> war begierig die&#x017F;e Ge&#x017F;chichte zu ho&#x0364;ren,<lb/>
und Hr. <hi rendition="#fr">F.</hi> erza&#x0364;hlte &#x017F;ie folgendermaßen:</p><lb/>
          <p>&#x201A;Jch war in meinen ju&#x0364;ngern Jahren dritter Dia-<lb/>
&#x201D;kon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fu&#x0364;r&#x017F;ten-<lb/>
&#x201D;thums. Jch lebte vergnu&#x0364;gt, ich hatte Freunde.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x201D;Der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0057] ſelbe in tiefen Gedanken einher gieng, und anſtatt auf ſeine entzuͤckten Ausrufungen zu antworten, eini- gemal tief ſeufzete. ‚Was fehlt Jhnen? fragte ihn Sebaldus, Sie ”ſcheinen ganz tiefſinnig zu ſeyn.‛ ‚Jhre Geſchichte, autwortete Hr. F. bringt mir ”das ganze finſtere Gemaͤlde der Jntoleranz und der ”Prieſtergewalt lebhaft wieder zu Gemuͤthe. Jch ”bin ſelbſt ein Opfer derſelben geweſen. Jch habe er- ”fahren, was es heiße, ſeine geſunde Vernunft un- ”ter den Gehorſam vorgeſchriebener ſymboliſcher Buͤ- ”cher gefangen zu nehmen; ich habe erfahren, welchen ”bequemen Vorwand ſolche Vorſchriften herrſchſuͤchti- ”gen und eigennuͤtzigen Geiſtlichen darbieten, um ihre ”Abſichten in der Stille auszufuͤhren; ich habe erfah- ”ren wie bitter der Haß iſt, den ſie angenblicklich ge- ”gen jeden, den ſie einer Abweichung zeihen koͤnnen, ”erregen koͤnnen, ſo lange das Volk in der Meinung ”unterhalten wird, daß ſolche Vorſchriften unwieder- ”ruflich feſt ſtehen bleiben muͤſſen.‛ Sebaldus war begierig dieſe Geſchichte zu hoͤren, und Hr. F. erzaͤhlte ſie folgendermaßen: ‚Jch war in meinen juͤngern Jahren dritter Dia- ”kon an der Kirche einer Stadt eines kleinen Fuͤrſten- ”thums. Jch lebte vergnuͤgt, ich hatte Freunde. ”Der D 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/57
Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/57>, abgerufen am 21.11.2024.