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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

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gonnen, und jene Annalen wären gegen das Ende des
vierten Jahrhunderts der Stadt geschrieben gewesen.
Dieser Zeitpunkt trifft sonderbar genau mit dem zusammen,
wo in der That die Nation erlosch, welche, kurz vorher rö-
misch geworden, von Sylla acht Jahre später beynahe
ausgerottet ward.

Ein freyes Leben des Geistes in Dichtung und Wis-
senschaft mußte einem Volke fremd bleiben, dessen Stolz
und Studium Zeichendeuterey und Priesterthum war.
Von ihnen hatten die Römer die Wissenschaft entlehnt,
den Willen der Götter aus Zeichen zu errathen, den Sinn
schreckender Wunderzeichen zu verstehen, und den Zorn
der höheren Mächte zu versöhnen: aber die reine und un-
trügliche Quelle dieser Kenntniß schien ein Nationaleigen-
thum der Etrusker zu bleiben, seitdem Tages sich auf ih-
rem Boden aus der Erde erhoben und gelehrt hatte: ein
unterirdischer weiser Zwerg, wie in der Mythologie un-
srer Vorältern.

Der Orient las das Schicksal in den Sternen: Etrurien
im Blitz und in den zufälligen Erscheinungen am Himmels-
gewölbe. Im Orient und in Italien ward der Wahrsager
der Tyrann und der Gehülfe der Herrscher, immer fesselte er
das Volk. Der lebensvolle Geist der Griechen befreyte sich
früh vom Joch der Wahrsager; obgleich sie gern und oft
sich einen Blick in die Zukunft aus dem Innersten ihrer
Seele durch Ahndungen und Träume gewährt glaubten.
Der edlere Held der Ilias verachtet Wahrzeichen, bey
dem Beruf das Vaterland zu vertheidigen: dem Römer
brach erst der mit dem Verfall der Sitten einheimisch ge-

gonnen, und jene Annalen waͤren gegen das Ende des
vierten Jahrhunderts der Stadt geſchrieben geweſen.
Dieſer Zeitpunkt trifft ſonderbar genau mit dem zuſammen,
wo in der That die Nation erloſch, welche, kurz vorher roͤ-
miſch geworden, von Sylla acht Jahre ſpaͤter beynahe
ausgerottet ward.

Ein freyes Leben des Geiſtes in Dichtung und Wiſ-
ſenſchaft mußte einem Volke fremd bleiben, deſſen Stolz
und Studium Zeichendeuterey und Prieſterthum war.
Von ihnen hatten die Roͤmer die Wiſſenſchaft entlehnt,
den Willen der Goͤtter aus Zeichen zu errathen, den Sinn
ſchreckender Wunderzeichen zu verſtehen, und den Zorn
der hoͤheren Maͤchte zu verſoͤhnen: aber die reine und un-
truͤgliche Quelle dieſer Kenntniß ſchien ein Nationaleigen-
thum der Etrusker zu bleiben, ſeitdem Tages ſich auf ih-
rem Boden aus der Erde erhoben und gelehrt hatte: ein
unterirdiſcher weiſer Zwerg, wie in der Mythologie un-
ſrer Voraͤltern.

Der Orient las das Schickſal in den Sternen: Etrurien
im Blitz und in den zufaͤlligen Erſcheinungen am Himmels-
gewoͤlbe. Im Orient und in Italien ward der Wahrſager
der Tyrann und der Gehuͤlfe der Herrſcher, immer feſſelte er
das Volk. Der lebensvolle Geiſt der Griechen befreyte ſich
fruͤh vom Joch der Wahrſager; obgleich ſie gern und oft
ſich einen Blick in die Zukunft aus dem Innerſten ihrer
Seele durch Ahndungen und Traͤume gewaͤhrt glaubten.
Der edlere Held der Ilias verachtet Wahrzeichen, bey
dem Beruf das Vaterland zu vertheidigen: dem Roͤmer
brach erſt der mit dem Verfall der Sitten einheimiſch ge-

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[93/0115] gonnen, und jene Annalen waͤren gegen das Ende des vierten Jahrhunderts der Stadt geſchrieben geweſen. Dieſer Zeitpunkt trifft ſonderbar genau mit dem zuſammen, wo in der That die Nation erloſch, welche, kurz vorher roͤ- miſch geworden, von Sylla acht Jahre ſpaͤter beynahe ausgerottet ward. Ein freyes Leben des Geiſtes in Dichtung und Wiſ- ſenſchaft mußte einem Volke fremd bleiben, deſſen Stolz und Studium Zeichendeuterey und Prieſterthum war. Von ihnen hatten die Roͤmer die Wiſſenſchaft entlehnt, den Willen der Goͤtter aus Zeichen zu errathen, den Sinn ſchreckender Wunderzeichen zu verſtehen, und den Zorn der hoͤheren Maͤchte zu verſoͤhnen: aber die reine und un- truͤgliche Quelle dieſer Kenntniß ſchien ein Nationaleigen- thum der Etrusker zu bleiben, ſeitdem Tages ſich auf ih- rem Boden aus der Erde erhoben und gelehrt hatte: ein unterirdiſcher weiſer Zwerg, wie in der Mythologie un- ſrer Voraͤltern. Der Orient las das Schickſal in den Sternen: Etrurien im Blitz und in den zufaͤlligen Erſcheinungen am Himmels- gewoͤlbe. Im Orient und in Italien ward der Wahrſager der Tyrann und der Gehuͤlfe der Herrſcher, immer feſſelte er das Volk. Der lebensvolle Geiſt der Griechen befreyte ſich fruͤh vom Joch der Wahrſager; obgleich ſie gern und oft ſich einen Blick in die Zukunft aus dem Innerſten ihrer Seele durch Ahndungen und Traͤume gewaͤhrt glaubten. Der edlere Held der Ilias verachtet Wahrzeichen, bey dem Beruf das Vaterland zu vertheidigen: dem Roͤmer brach erſt der mit dem Verfall der Sitten einheimiſch ge-

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/115>, abgerufen am 24.11.2024.