latinische Nation ganz unverändert italisch erscheint, ob- gleich der Thron an die Fremden gekommen seyn soll.
Die Sage ist an sich innig und unzertrennlich ver- webt mit dem ganzen mythischen Theil der römischen Ge- schichte, welchen wir absondern müssen, aber nicht über- gehen dürfen. Es wäre eine leichtsinnige und träge Unkri- tik wenn man sie wegen vermeinter innrer Unhaltbarkeit, hätte diese auch noch so großen Schein, ungeprüft vernach- lässigen wollte; eben so sehr als es unhistorisch seyn würde, wenn jemand wähnte hier factische Gewißheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, da mehr als ein hal- bes Jahrtausend nach dieser Zeit vergeht, ehe in der rö- mischen Geschichte einiges Licht dämmert. Das ist der Gegenstand der Untersuchung: ob die troische Sage alt und einheimisch war, oder von den Griechen ausgegangen, und von den Latinern aufgenommen worden ist.
Niemand verwerfe sie schlechthin, weil auch Ilion eine Fabel, und eine Schiffahrt nach dem unbekannten Westen unmöglich gewesen sey. Mythisch ist der troische Krieg allerdings, so daß auch nicht ein einziger Punkt seiner Begebenheiten wegen mehrerer oder minderer Wahr- scheinlichkeit von den übrigen ausgezeichnet werden kann: dennoch ist ein historischer Grund unläugbar, und dieser ist weniger tief versteckt als in manchen andern dichteri- schen Sagen. Die Atriden als Könige des Peloponnesus sind nicht zu bezweifeln. Unmöglich kann auch die Schif- fahrt nach Latium nicht genannt werden, da Kuma im zweyten Jahrhundert nachher gegründet ward; und Kühn- heit der Schiffer keineswegs durch Unvollkommenheit ih-
latiniſche Nation ganz unveraͤndert italiſch erſcheint, ob- gleich der Thron an die Fremden gekommen ſeyn ſoll.
Die Sage iſt an ſich innig und unzertrennlich ver- webt mit dem ganzen mythiſchen Theil der roͤmiſchen Ge- ſchichte, welchen wir abſondern muͤſſen, aber nicht uͤber- gehen duͤrfen. Es waͤre eine leichtſinnige und traͤge Unkri- tik wenn man ſie wegen vermeinter innrer Unhaltbarkeit, haͤtte dieſe auch noch ſo großen Schein, ungepruͤft vernach- laͤſſigen wollte; eben ſo ſehr als es unhiſtoriſch ſeyn wuͤrde, wenn jemand waͤhnte hier factiſche Gewißheit oder auch nur Wahrſcheinlichkeit zu gewinnen, da mehr als ein hal- bes Jahrtauſend nach dieſer Zeit vergeht, ehe in der roͤ- miſchen Geſchichte einiges Licht daͤmmert. Das iſt der Gegenſtand der Unterſuchung: ob die troiſche Sage alt und einheimiſch war, oder von den Griechen ausgegangen, und von den Latinern aufgenommen worden iſt.
Niemand verwerfe ſie ſchlechthin, weil auch Ilion eine Fabel, und eine Schiffahrt nach dem unbekannten Weſten unmoͤglich geweſen ſey. Mythiſch iſt der troiſche Krieg allerdings, ſo daß auch nicht ein einziger Punkt ſeiner Begebenheiten wegen mehrerer oder minderer Wahr- ſcheinlichkeit von den uͤbrigen ausgezeichnet werden kann: dennoch iſt ein hiſtoriſcher Grund unlaͤugbar, und dieſer iſt weniger tief verſteckt als in manchen andern dichteri- ſchen Sagen. Die Atriden als Koͤnige des Peloponneſus ſind nicht zu bezweifeln. Unmoͤglich kann auch die Schif- fahrt nach Latium nicht genannt werden, da Kuma im zweyten Jahrhundert nachher gegruͤndet ward; und Kuͤhn- heit der Schiffer keineswegs durch Unvollkommenheit ih-
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latiniſche Nation ganz unveraͤndert italiſch erſcheint, ob-
gleich der Thron an die Fremden gekommen ſeyn ſoll.
Die Sage iſt an ſich innig und unzertrennlich ver-
webt mit dem ganzen mythiſchen Theil der roͤmiſchen Ge-
ſchichte, welchen wir abſondern muͤſſen, aber nicht uͤber-
gehen duͤrfen. Es waͤre eine leichtſinnige und traͤge Unkri-
tik wenn man ſie wegen vermeinter innrer Unhaltbarkeit,
haͤtte dieſe auch noch ſo großen Schein, ungepruͤft vernach-
laͤſſigen wollte; eben ſo ſehr als es unhiſtoriſch ſeyn wuͤrde,
wenn jemand waͤhnte hier factiſche Gewißheit oder auch
nur Wahrſcheinlichkeit zu gewinnen, da mehr als ein hal-
bes Jahrtauſend nach dieſer Zeit vergeht, ehe in der roͤ-
miſchen Geſchichte einiges Licht daͤmmert. Das iſt der
Gegenſtand der Unterſuchung: ob die troiſche Sage alt
und einheimiſch war, oder von den Griechen ausgegangen,
und von den Latinern aufgenommen worden iſt.
Niemand verwerfe ſie ſchlechthin, weil auch Ilion
eine Fabel, und eine Schiffahrt nach dem unbekannten
Weſten unmoͤglich geweſen ſey. Mythiſch iſt der troiſche
Krieg allerdings, ſo daß auch nicht ein einziger Punkt
ſeiner Begebenheiten wegen mehrerer oder minderer Wahr-
ſcheinlichkeit von den uͤbrigen ausgezeichnet werden kann:
dennoch iſt ein hiſtoriſcher Grund unlaͤugbar, und dieſer
iſt weniger tief verſteckt als in manchen andern dichteri-
ſchen Sagen. Die Atriden als Koͤnige des Peloponneſus
ſind nicht zu bezweifeln. Unmoͤglich kann auch die Schif-
fahrt nach Latium nicht genannt werden, da Kuma im
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/148>, abgerufen am 21.11.2024.
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