Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Wein: von dort eilten die Männer nach Collatia, und
fanden Lucretia noch wach, unter ihren Mägden spinnend.
Ihr Anblick entzündete in Sextus böse Lust. An einem
andern Tage machte er sich aus dem Lager nach Collatia
auf. Als Vetter, als Bekannter kehrte er in das Haus
des Collatinus ein; ward bewirthet und beherbergt. In
der Oede der Nacht betrat er die einsame Kammer
der schlafenden und hülflosen Lucretia. Sey still, Lu-
cretia, flüsterte er ihr drohend zu, ich bin Sextus Tar-
quinius. Ich habe Waffen: du bist des Todes wenn
du rufst 83). Er hatte die Gränze verzeihungsfähiger
Schuld ohne Rückkehr überschritten: ihre Tugend, ihr
jammerndes Flehen bewegten ihn nicht: er drohte mit ret-
tungsloser Entehrung ihres Rufs durch falschen Schein:
drohte die Verachtung des geliebten Mannes über sie zu
bringen, dem sie sich nicht fürchtete ihr Leben aufzuopfern.
Eine andre Religion würde ihr auch dieses Opfer geboten,
wie die That untersagt haben mit der sie selbst sich strafte
anders gewählt zu haben: aber sie hätte ihr auch ein Wie-
dersehen, und Erkenntniß ihrer reinen Tugend für die
Ewigkeit verheißen, nach kurzer irrdischer Dauer schreck-
liches Verkennens.


83) Livius scheint hier die Worte selbst des alten Gedichts ge-
braucht und erhalten zu haben; denn sie bilden zwey Verse
saturnischer Art, bey denen der Takt und Abschnitt nicht
das Maaß, noch selbst die Zahl und die genaue Folge der
Versfüße gilt.
Tace, inquit, Lucretia, | Sextus Tarquinius sum.
Ferrum in manu est; moriere, | si emiseri' vocem.

Wein: von dort eilten die Maͤnner nach Collatia, und
fanden Lucretia noch wach, unter ihren Maͤgden ſpinnend.
Ihr Anblick entzuͤndete in Sextus boͤſe Luſt. An einem
andern Tage machte er ſich aus dem Lager nach Collatia
auf. Als Vetter, als Bekannter kehrte er in das Haus
des Collatinus ein; ward bewirthet und beherbergt. In
der Oede der Nacht betrat er die einſame Kammer
der ſchlafenden und huͤlfloſen Lucretia. Sey ſtill, Lu-
cretia, fluͤſterte er ihr drohend zu, ich bin Sextus Tar-
quinius. Ich habe Waffen: du biſt des Todes wenn
du rufſt 83). Er hatte die Graͤnze verzeihungsfaͤhiger
Schuld ohne Ruͤckkehr uͤberſchritten: ihre Tugend, ihr
jammerndes Flehen bewegten ihn nicht: er drohte mit ret-
tungsloſer Entehrung ihres Rufs durch falſchen Schein:
drohte die Verachtung des geliebten Mannes uͤber ſie zu
bringen, dem ſie ſich nicht fuͤrchtete ihr Leben aufzuopfern.
Eine andre Religion wuͤrde ihr auch dieſes Opfer geboten,
wie die That unterſagt haben mit der ſie ſelbſt ſich ſtrafte
anders gewaͤhlt zu haben: aber ſie haͤtte ihr auch ein Wie-
derſehen, und Erkenntniß ihrer reinen Tugend fuͤr die
Ewigkeit verheißen, nach kurzer irrdiſcher Dauer ſchreck-
liches Verkennens.


83) Livius ſcheint hier die Worte ſelbſt des alten Gedichts ge-
braucht und erhalten zu haben; denn ſie bilden zwey Verſe
ſaturniſcher Art, bey denen der Takt und Abſchnitt nicht
das Maaß, noch ſelbſt die Zahl und die genaue Folge der
Versfuͤße gilt.
Tace, inquit, Lucretia, | Sextus Tarquinius sum.
Ferrum in manu est; moriere, | si emiseri’ vocem.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0340" n="318"/>
Wein: von dort eilten die Ma&#x0364;nner nach Collatia, und<lb/>
fanden Lucretia noch wach, unter ihren Ma&#x0364;gden &#x017F;pinnend.<lb/>
Ihr Anblick entzu&#x0364;ndete in Sextus bo&#x0364;&#x017F;e Lu&#x017F;t. An einem<lb/>
andern Tage machte er &#x017F;ich aus dem Lager nach Collatia<lb/>
auf. Als Vetter, als Bekannter kehrte er in das Haus<lb/>
des Collatinus ein; ward bewirthet und beherbergt. In<lb/>
der Oede der Nacht betrat er die ein&#x017F;ame Kammer<lb/>
der &#x017F;chlafenden und hu&#x0364;lflo&#x017F;en Lucretia. Sey &#x017F;till, Lu-<lb/>
cretia, flu&#x0364;&#x017F;terte er ihr drohend zu, ich bin Sextus Tar-<lb/>
quinius. Ich habe Waffen: du bi&#x017F;t des Todes wenn<lb/>
du ruf&#x017F;t <note place="foot" n="83)">Livius &#x017F;cheint hier die Worte &#x017F;elb&#x017F;t des alten Gedichts ge-<lb/>
braucht und erhalten zu haben; denn &#x017F;ie bilden zwey Ver&#x017F;e<lb/>
&#x017F;aturni&#x017F;cher Art, bey denen der Takt und Ab&#x017F;chnitt nicht<lb/>
das Maaß, noch &#x017F;elb&#x017F;t die Zahl und die genaue Folge der<lb/>
Versfu&#x0364;ße gilt.<lb/><lg type="poem"><l><hi rendition="#aq">Tace, inquit, Lucretia, | Sextus Tarquinius sum.</hi></l><lb/><l><hi rendition="#aq">Ferrum in manu est; moriere, | si emiseri&#x2019; vocem.</hi></l></lg></note>. Er hatte die Gra&#x0364;nze verzeihungsfa&#x0364;higer<lb/>
Schuld ohne Ru&#x0364;ckkehr u&#x0364;ber&#x017F;chritten: ihre Tugend, ihr<lb/>
jammerndes Flehen bewegten ihn nicht: er drohte mit ret-<lb/>
tungslo&#x017F;er Entehrung ihres Rufs durch fal&#x017F;chen Schein:<lb/>
drohte die Verachtung des geliebten Mannes u&#x0364;ber &#x017F;ie zu<lb/>
bringen, dem &#x017F;ie &#x017F;ich nicht fu&#x0364;rchtete ihr Leben aufzuopfern.<lb/>
Eine andre Religion wu&#x0364;rde ihr auch die&#x017F;es Opfer geboten,<lb/>
wie die That unter&#x017F;agt haben mit der &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;trafte<lb/>
anders gewa&#x0364;hlt zu haben: aber &#x017F;ie ha&#x0364;tte ihr auch ein Wie-<lb/>
der&#x017F;ehen, und Erkenntniß ihrer reinen Tugend fu&#x0364;r die<lb/>
Ewigkeit verheißen, nach kurzer irrdi&#x017F;cher Dauer &#x017F;chreck-<lb/>
liches Verkennens.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[318/0340] Wein: von dort eilten die Maͤnner nach Collatia, und fanden Lucretia noch wach, unter ihren Maͤgden ſpinnend. Ihr Anblick entzuͤndete in Sextus boͤſe Luſt. An einem andern Tage machte er ſich aus dem Lager nach Collatia auf. Als Vetter, als Bekannter kehrte er in das Haus des Collatinus ein; ward bewirthet und beherbergt. In der Oede der Nacht betrat er die einſame Kammer der ſchlafenden und huͤlfloſen Lucretia. Sey ſtill, Lu- cretia, fluͤſterte er ihr drohend zu, ich bin Sextus Tar- quinius. Ich habe Waffen: du biſt des Todes wenn du rufſt 83). Er hatte die Graͤnze verzeihungsfaͤhiger Schuld ohne Ruͤckkehr uͤberſchritten: ihre Tugend, ihr jammerndes Flehen bewegten ihn nicht: er drohte mit ret- tungsloſer Entehrung ihres Rufs durch falſchen Schein: drohte die Verachtung des geliebten Mannes uͤber ſie zu bringen, dem ſie ſich nicht fuͤrchtete ihr Leben aufzuopfern. Eine andre Religion wuͤrde ihr auch dieſes Opfer geboten, wie die That unterſagt haben mit der ſie ſelbſt ſich ſtrafte anders gewaͤhlt zu haben: aber ſie haͤtte ihr auch ein Wie- derſehen, und Erkenntniß ihrer reinen Tugend fuͤr die Ewigkeit verheißen, nach kurzer irrdiſcher Dauer ſchreck- liches Verkennens. 83) Livius ſcheint hier die Worte ſelbſt des alten Gedichts ge- braucht und erhalten zu haben; denn ſie bilden zwey Verſe ſaturniſcher Art, bey denen der Takt und Abſchnitt nicht das Maaß, noch ſelbſt die Zahl und die genaue Folge der Versfuͤße gilt. Tace, inquit, Lucretia, | Sextus Tarquinius sum. Ferrum in manu est; moriere, | si emiseri’ vocem.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/340
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/340>, abgerufen am 22.11.2024.