tischen Form unter den Griechen unzertrennlich schienen. Sehr viel entscheidet dabey unläugbar der angestammte Nationalcharakter, der einzelne Nationen durchaus unfä- hig macht bürgerliche Freyheit über eine gewisse Gränze zu fassen, welche andre ohne Gefahr überschreiten können. Die Griechen konnten eine festbestimmte ererbte Verfas- sung und unverrückbare Gesetze nicht ertragen: es war ihnen Bedürfniß in einem leidenschaftlichen politischen Zustande zu leben. Wie groß auch der Nachtheil und der Mißbrauch dieser Sinnesart war, so ist es doch wohl außer Zweifel daß, bey größerer Gesetzlichkeit und Einen- gung, der griechische Geist sich ungleich weniger lebendig und reich gezeigt haben würde. Für die Römer welche ge- nügsam in den Geschäften und Gedanken bürgerliches und häusliches Berufs lebten, war Gesetzlichkeit Bedürfniß, eben aus der Ursache die sie von den Künsten der Rede und Darstellung entfernt hielt. Ein kaltes Volk, wenn es de- mokratisch ausartet, sinkt weit tiefer als ein lebendiges und leidenschaftliches: es raubt und wüthet, und verdirbt ohne Rückkehr, während dieses aus seinem Taumel erwa- chen und mit gleicher Leidenschaft einen edeln Gegenstand ergreifen kann. Das römische Volk enthielt, wenigstens in den guten alten Tagen, nur Landeigenthümer: und es ist schon bemerkt daß, nach der ursprünglichen Gesetzge- bung, das Stimmrecht nothwendig an Ansässigkeit mit Eigenthum gebunden gewesen seyn muß. Allerdings war der Antheil des wenig Begüterten an der Souverainetät ungleich größer in den Tribus als in den Centurien; aber das ist eine verläumderische Vorstellung daß in ihnen der
tiſchen Form unter den Griechen unzertrennlich ſchienen. Sehr viel entſcheidet dabey unlaͤugbar der angeſtammte Nationalcharakter, der einzelne Nationen durchaus unfaͤ- hig macht buͤrgerliche Freyheit uͤber eine gewiſſe Graͤnze zu faſſen, welche andre ohne Gefahr uͤberſchreiten koͤnnen. Die Griechen konnten eine feſtbeſtimmte ererbte Verfaſ- ſung und unverruͤckbare Geſetze nicht ertragen: es war ihnen Beduͤrfniß in einem leidenſchaftlichen politiſchen Zuſtande zu leben. Wie groß auch der Nachtheil und der Mißbrauch dieſer Sinnesart war, ſo iſt es doch wohl außer Zweifel daß, bey groͤßerer Geſetzlichkeit und Einen- gung, der griechiſche Geiſt ſich ungleich weniger lebendig und reich gezeigt haben wuͤrde. Fuͤr die Roͤmer welche ge- nuͤgſam in den Geſchaͤften und Gedanken buͤrgerliches und haͤusliches Berufs lebten, war Geſetzlichkeit Beduͤrfniß, eben aus der Urſache die ſie von den Kuͤnſten der Rede und Darſtellung entfernt hielt. Ein kaltes Volk, wenn es de- mokratiſch ausartet, ſinkt weit tiefer als ein lebendiges und leidenſchaftliches: es raubt und wuͤthet, und verdirbt ohne Ruͤckkehr, waͤhrend dieſes aus ſeinem Taumel erwa- chen und mit gleicher Leidenſchaft einen edeln Gegenſtand ergreifen kann. Das roͤmiſche Volk enthielt, wenigſtens in den guten alten Tagen, nur Landeigenthuͤmer: und es iſt ſchon bemerkt daß, nach der urſpruͤnglichen Geſetzge- bung, das Stimmrecht nothwendig an Anſaͤſſigkeit mit Eigenthum gebunden geweſen ſeyn muß. Allerdings war der Antheil des wenig Beguͤterten an der Souverainetaͤt ungleich groͤßer in den Tribus als in den Centurien; aber das iſt eine verlaͤumderiſche Vorſtellung daß in ihnen der
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tiſchen Form unter den Griechen unzertrennlich ſchienen.
Sehr viel entſcheidet dabey unlaͤugbar der angeſtammte
Nationalcharakter, der einzelne Nationen durchaus unfaͤ-
hig macht buͤrgerliche Freyheit uͤber eine gewiſſe Graͤnze zu
faſſen, welche andre ohne Gefahr uͤberſchreiten koͤnnen.
Die Griechen konnten eine feſtbeſtimmte ererbte Verfaſ-
ſung und unverruͤckbare Geſetze nicht ertragen: es war
ihnen Beduͤrfniß in einem leidenſchaftlichen politiſchen
Zuſtande zu leben. Wie groß auch der Nachtheil und der
Mißbrauch dieſer Sinnesart war, ſo iſt es doch wohl
außer Zweifel daß, bey groͤßerer Geſetzlichkeit und Einen-
gung, der griechiſche Geiſt ſich ungleich weniger lebendig
und reich gezeigt haben wuͤrde. Fuͤr die Roͤmer welche ge-
nuͤgſam in den Geſchaͤften und Gedanken buͤrgerliches und
haͤusliches Berufs lebten, war Geſetzlichkeit Beduͤrfniß,
eben aus der Urſache die ſie von den Kuͤnſten der Rede und
Darſtellung entfernt hielt. Ein kaltes Volk, wenn es de-
mokratiſch ausartet, ſinkt weit tiefer als ein lebendiges
und leidenſchaftliches: es raubt und wuͤthet, und verdirbt
ohne Ruͤckkehr, waͤhrend dieſes aus ſeinem Taumel erwa-
chen und mit gleicher Leidenſchaft einen edeln Gegenſtand
ergreifen kann. Das roͤmiſche Volk enthielt, wenigſtens
in den guten alten Tagen, nur Landeigenthuͤmer: und es
iſt ſchon bemerkt daß, nach der urſpruͤnglichen Geſetzge-
bung, das Stimmrecht nothwendig an Anſaͤſſigkeit mit
Eigenthum gebunden geweſen ſeyn muß. Allerdings war
der Antheil des wenig Beguͤterten an der Souverainetaͤt
ungleich groͤßer in den Tribus als in den Centurien; aber
das iſt eine verlaͤumderiſche Vorſtellung daß in ihnen der
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 1. Berlin, 1811, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische01_1811/443>, abgerufen am 24.11.2024.
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