Schein rechtliches Verfahrens zu heucheln, sprach der Decemvir, ohne den Vater, ohne auch nur falsche Zeu- gen des Anklägers zu hören, die Jungfrau als Skla- vin seinem Diener zu. Dieser eilte Virginia zu ergrei- fen: er ward von dem Kreise der Freunde und Frauen zurückgestoßen: der Vater flehte um Schutz zu den Bür- gern. Appius und sein Gefolge enthüllten Waffen: das Volk flüchtete: die Jungfrau stand verlassen: die Licto- ren näherten sich ihr: alle Hülfe war verschwunden. Da bat Virginius den Decemvir um die einzige Gunst von seiner Tochter Abschied nehmen zu dürfen, und in ihrer Gegenwart ihre Wärterin über die Wahrheit zu befragen. Er entfernte sich mit den Frauen: ergriff ein Messer von einer Fleischerbank, und erstach das Mäd- chen. Keiner wagte sich ihm zu nahen, als er, das blu- tige Messer empor haltend, nach dem Thore wandelte: bald schützte ihn eine begleitende Menge. Auf dem Fo- rum sammelte sich alles um Icilius und Numitorius, die an der keuschen Leiche das Volk zur Freyheit auf- riefen. Die Lictoren wurden zurückgetrieben. Appius warf sich mit seiner Schaar unter das Volk, um Ici- lius zu ergreifen. Er ward überwältigt: die Stecken- bündel zerbrochen. Vergebens versuchte Appius die Bür- ger anzureden, sie hörten nur die Reden ihrer Freunde. Er entfloh verhüllt nach seiner Wohnung.
In diesem Tumult berief der andre anwesende De- cemvir Sp. Oppius den Senat. Diese Botschaft be- ruhigte das Volk; man vertraute, nach jener That müsse sich auch dieser gegen die Decemvirn erklären,
Schein rechtliches Verfahrens zu heucheln, ſprach der Decemvir, ohne den Vater, ohne auch nur falſche Zeu- gen des Anklaͤgers zu hoͤren, die Jungfrau als Skla- vin ſeinem Diener zu. Dieſer eilte Virginia zu ergrei- fen: er ward von dem Kreiſe der Freunde und Frauen zuruͤckgeſtoßen: der Vater flehte um Schutz zu den Buͤr- gern. Appius und ſein Gefolge enthuͤllten Waffen: das Volk fluͤchtete: die Jungfrau ſtand verlaſſen: die Licto- ren naͤherten ſich ihr: alle Huͤlfe war verſchwunden. Da bat Virginius den Decemvir um die einzige Gunſt von ſeiner Tochter Abſchied nehmen zu duͤrfen, und in ihrer Gegenwart ihre Waͤrterin uͤber die Wahrheit zu befragen. Er entfernte ſich mit den Frauen: ergriff ein Meſſer von einer Fleiſcherbank, und erſtach das Maͤd- chen. Keiner wagte ſich ihm zu nahen, als er, das blu- tige Meſſer empor haltend, nach dem Thore wandelte: bald ſchuͤtzte ihn eine begleitende Menge. Auf dem Fo- rum ſammelte ſich alles um Icilius und Numitorius, die an der keuſchen Leiche das Volk zur Freyheit auf- riefen. Die Lictoren wurden zuruͤckgetrieben. Appius warf ſich mit ſeiner Schaar unter das Volk, um Ici- lius zu ergreifen. Er ward uͤberwaͤltigt: die Stecken- buͤndel zerbrochen. Vergebens verſuchte Appius die Buͤr- ger anzureden, ſie hoͤrten nur die Reden ihrer Freunde. Er entfloh verhuͤllt nach ſeiner Wohnung.
In dieſem Tumult berief der andre anweſende De- cemvir Sp. Oppius den Senat. Dieſe Botſchaft be- ruhigte das Volk; man vertraute, nach jener That muͤſſe ſich auch dieſer gegen die Decemvirn erklaͤren,
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Schein rechtliches Verfahrens zu heucheln, ſprach der
Decemvir, ohne den Vater, ohne auch nur falſche Zeu-
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vin ſeinem Diener zu. Dieſer eilte Virginia zu ergrei-
fen: er ward von dem Kreiſe der Freunde und Frauen
zuruͤckgeſtoßen: der Vater flehte um Schutz zu den Buͤr-
gern. Appius und ſein Gefolge enthuͤllten Waffen: das
Volk fluͤchtete: die Jungfrau ſtand verlaſſen: die Licto-
ren naͤherten ſich ihr: alle Huͤlfe war verſchwunden.
Da bat Virginius den Decemvir um die einzige Gunſt
von ſeiner Tochter Abſchied nehmen zu duͤrfen, und in
ihrer Gegenwart ihre Waͤrterin uͤber die Wahrheit zu
befragen. Er entfernte ſich mit den Frauen: ergriff ein
Meſſer von einer Fleiſcherbank, und erſtach das Maͤd-
chen. Keiner wagte ſich ihm zu nahen, als er, das blu-
tige Meſſer empor haltend, nach dem Thore wandelte:
bald ſchuͤtzte ihn eine begleitende Menge. Auf dem Fo-
rum ſammelte ſich alles um Icilius und Numitorius,
die an der keuſchen Leiche das Volk zur Freyheit auf-
riefen. Die Lictoren wurden zuruͤckgetrieben. Appius
warf ſich mit ſeiner Schaar unter das Volk, um Ici-
lius zu ergreifen. Er ward uͤberwaͤltigt: die Stecken-
buͤndel zerbrochen. Vergebens verſuchte Appius die Buͤr-
ger anzureden, ſie hoͤrten nur die Reden ihrer Freunde.
Er entfloh verhuͤllt nach ſeiner Wohnung.
In dieſem Tumult berief der andre anweſende De-
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ruhigte das Volk; man vertraute, nach jener That
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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/153>, abgerufen am 24.11.2024.
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