Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

stürzen, um das wenige Brod für die von deren Ernäh-
rung die Erhaltung der Republik abhing zu ersparen.
Eine Grausamkeit die im Alterthum so wenig unerhört
war daß sie vielmehr auf Keos als Gesetz bestand, und,
natürlich außer den Ufern der Insel, gepriesen ward.
Doch der Fortgang der Erzählung enthüllt ihren mythi-
schen Charakter: ein einziger Greis sey von seinem from-
men Sohn verborgen worden, und zum Dank für den
weisen Rath den die Republik von ihm durch den Mund
dieses Sohns oft empfangen habe, wäre das Gesetz ab-
geschafft worden. An solchen einheimischen Geschichten,
wie vom Papirius Prätextatus, von dem zum Hunger-
tode verurtheilten gesäugten Vater, war die römische
Sage reich ehe sich die Historie bildete; was als Ent-
schluß der Verzweiflung denkbar wäre, ist in Rom als
Gesetz ganz unglaublich.

Es bedarf aber keiner mythischen Darstellung, um
ein Bild von Roms Elend zu fassen. Die Blüthe der
Männer war am Allia 74) vertilgt. In der Stadt selbst
und auf dem Lande an beyden Ufern des Strohms fielen
alle die nicht entfliehen konnten unter dem Schwerdt
oder in die Knechtschaft des Siegers. Unmöglich schützte

74) Indem ich hier zum letztenmal diesen den Römern ver-
fluchten Nahmen nenne, mag es erlaubt seyn zu bemerken
daß unsere Aussprache und Schreibart von den Dichtern
herrührt, welche den kurzen Vocal der ersten Sylbe von
Alia, wie die wirkliche Aussprache lautete, durch Verdop-
pelung des Consonanten verlängerten. Servius zur Ae-
neis VII. v. 717.

ſtuͤrzen, um das wenige Brod fuͤr die von deren Ernaͤh-
rung die Erhaltung der Republik abhing zu erſparen.
Eine Grauſamkeit die im Alterthum ſo wenig unerhoͤrt
war daß ſie vielmehr auf Keos als Geſetz beſtand, und,
natuͤrlich außer den Ufern der Inſel, geprieſen ward.
Doch der Fortgang der Erzaͤhlung enthuͤllt ihren mythi-
ſchen Charakter: ein einziger Greis ſey von ſeinem from-
men Sohn verborgen worden, und zum Dank fuͤr den
weiſen Rath den die Republik von ihm durch den Mund
dieſes Sohns oft empfangen habe, waͤre das Geſetz ab-
geſchafft worden. An ſolchen einheimiſchen Geſchichten,
wie vom Papirius Praͤtextatus, von dem zum Hunger-
tode verurtheilten geſaͤugten Vater, war die roͤmiſche
Sage reich ehe ſich die Hiſtorie bildete; was als Ent-
ſchluß der Verzweiflung denkbar waͤre, iſt in Rom als
Geſetz ganz unglaublich.

Es bedarf aber keiner mythiſchen Darſtellung, um
ein Bild von Roms Elend zu faſſen. Die Bluͤthe der
Maͤnner war am Allia 74) vertilgt. In der Stadt ſelbſt
und auf dem Lande an beyden Ufern des Strohms fielen
alle die nicht entfliehen konnten unter dem Schwerdt
oder in die Knechtſchaft des Siegers. Unmoͤglich ſchuͤtzte

74) Indem ich hier zum letztenmal dieſen den Roͤmern ver-
fluchten Nahmen nenne, mag es erlaubt ſeyn zu bemerken
daß unſere Ausſprache und Schreibart von den Dichtern
herruͤhrt, welche den kurzen Vocal der erſten Sylbe von
Alia, wie die wirkliche Ausſprache lautete, durch Verdop-
pelung des Conſonanten verlaͤngerten. Servius zur Ae-
neis VII. v. 717.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0303" n="287"/>
&#x017F;tu&#x0364;rzen, um das wenige Brod fu&#x0364;r die von deren Erna&#x0364;h-<lb/>
rung die Erhaltung der Republik abhing zu er&#x017F;paren.<lb/>
Eine Grau&#x017F;amkeit die im Alterthum &#x017F;o wenig unerho&#x0364;rt<lb/>
war daß &#x017F;ie vielmehr auf Keos als Ge&#x017F;etz be&#x017F;tand, und,<lb/>
natu&#x0364;rlich außer den Ufern der In&#x017F;el, geprie&#x017F;en ward.<lb/>
Doch der Fortgang der Erza&#x0364;hlung enthu&#x0364;llt ihren mythi-<lb/>
&#x017F;chen Charakter: ein einziger Greis &#x017F;ey von &#x017F;einem from-<lb/>
men Sohn verborgen worden, und zum Dank fu&#x0364;r den<lb/>
wei&#x017F;en Rath den die Republik von ihm durch den Mund<lb/>
die&#x017F;es Sohns oft empfangen habe, wa&#x0364;re das Ge&#x017F;etz ab-<lb/>
ge&#x017F;chafft worden. An &#x017F;olchen einheimi&#x017F;chen Ge&#x017F;chichten,<lb/>
wie vom Papirius Pra&#x0364;textatus, von dem zum Hunger-<lb/>
tode verurtheilten ge&#x017F;a&#x0364;ugten Vater, war die ro&#x0364;mi&#x017F;che<lb/>
Sage reich ehe &#x017F;ich die Hi&#x017F;torie bildete; was als Ent-<lb/>
&#x017F;chluß der Verzweiflung denkbar wa&#x0364;re, i&#x017F;t in Rom als<lb/>
Ge&#x017F;etz ganz unglaublich.</p><lb/>
        <p>Es bedarf aber keiner mythi&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung, um<lb/>
ein Bild von Roms Elend zu fa&#x017F;&#x017F;en. Die Blu&#x0364;the der<lb/>
Ma&#x0364;nner war am Allia <note place="foot" n="74)">Indem ich hier zum letztenmal die&#x017F;en den Ro&#x0364;mern ver-<lb/>
fluchten Nahmen nenne, mag es erlaubt &#x017F;eyn zu bemerken<lb/>
daß un&#x017F;ere Aus&#x017F;prache und Schreibart von den Dichtern<lb/>
herru&#x0364;hrt, welche den kurzen Vocal der er&#x017F;ten Sylbe von<lb/>
Alia, wie die wirkliche Aus&#x017F;prache lautete, durch Verdop-<lb/>
pelung des Con&#x017F;onanten verla&#x0364;ngerten. Servius zur Ae-<lb/>
neis <hi rendition="#aq">VII. v.</hi> 717.</note> vertilgt. In der Stadt &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
und auf dem Lande an beyden Ufern des Strohms fielen<lb/>
alle die nicht entfliehen konnten unter dem Schwerdt<lb/>
oder in die Knecht&#x017F;chaft des Siegers. Unmo&#x0364;glich &#x017F;chu&#x0364;tzte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0303] ſtuͤrzen, um das wenige Brod fuͤr die von deren Ernaͤh- rung die Erhaltung der Republik abhing zu erſparen. Eine Grauſamkeit die im Alterthum ſo wenig unerhoͤrt war daß ſie vielmehr auf Keos als Geſetz beſtand, und, natuͤrlich außer den Ufern der Inſel, geprieſen ward. Doch der Fortgang der Erzaͤhlung enthuͤllt ihren mythi- ſchen Charakter: ein einziger Greis ſey von ſeinem from- men Sohn verborgen worden, und zum Dank fuͤr den weiſen Rath den die Republik von ihm durch den Mund dieſes Sohns oft empfangen habe, waͤre das Geſetz ab- geſchafft worden. An ſolchen einheimiſchen Geſchichten, wie vom Papirius Praͤtextatus, von dem zum Hunger- tode verurtheilten geſaͤugten Vater, war die roͤmiſche Sage reich ehe ſich die Hiſtorie bildete; was als Ent- ſchluß der Verzweiflung denkbar waͤre, iſt in Rom als Geſetz ganz unglaublich. Es bedarf aber keiner mythiſchen Darſtellung, um ein Bild von Roms Elend zu faſſen. Die Bluͤthe der Maͤnner war am Allia 74) vertilgt. In der Stadt ſelbſt und auf dem Lande an beyden Ufern des Strohms fielen alle die nicht entfliehen konnten unter dem Schwerdt oder in die Knechtſchaft des Siegers. Unmoͤglich ſchuͤtzte 74) Indem ich hier zum letztenmal dieſen den Roͤmern ver- fluchten Nahmen nenne, mag es erlaubt ſeyn zu bemerken daß unſere Ausſprache und Schreibart von den Dichtern herruͤhrt, welche den kurzen Vocal der erſten Sylbe von Alia, wie die wirkliche Ausſprache lautete, durch Verdop- pelung des Conſonanten verlaͤngerten. Servius zur Ae- neis VII. v. 717.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/303
Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/303>, abgerufen am 22.11.2024.