Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

Bild:
<< vorherige Seite

Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unsrer Cultur fast haben untergehen lassen -- die
Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch
ungetrenntem Gemüth und ungetheiltem Streben her-
vorgegangen, durch Harmonie des Gefühls und des
Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre
Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre
Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-
reichte Muster für uns sind, uns zu erheben und zu
begeistern, sondern auch leuchtende Sterne, in dem
Kampfe der Zeit unserm Herzen Beruhigung und Hoff-
nung auf die Zukunft der Versöhnung einzuflößen, und
dem Geist in der Verwirrung des Streites das rechte
Ziel unverrückt vor Augen zu halten? Dürfen wir
uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-
cher der Leitstern der Vorzeit verschwunden ist, kein
Ziel mehr kennt?

Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit
kann in Absicht auf Bildung des Geschmackes der Mu-
ster des Alterthums weniger entbehren, als gerade
die unsrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-
länder, die Franzosen haben ihre Classiker und halten
darauf. Die Teutschen aber? Ihre Classiker haben
sie wohl unstreitig so gut, wie jene: aber halten sie
denn auch darauf? Hat nicht ein unseeliger Schwin-
delgeist unsre Nation in ihrer Lesewuth ergriffen? Wird
nicht der ärmlichste Roman, das frivolste Schauspiel
mit eben der Gier als ein Meisterwerk von Göthe oder
Schiller verschlungen, mit eben dem Leichtsinn das
letztere wie die erstern vergessen? Welche Plattheit

Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — die
Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch
ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her-
vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des
Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre
Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre
Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-
reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu
begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem
Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff-
nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und
dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte
Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir
uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-
cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein
Ziel mehr kennt?

Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit
kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu-
ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade
die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-
laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten
darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben
ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie
denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin-
delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird
nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel
mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder
Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das
letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0247" n="235"/><fw place="top" type="header">Von d. Grund&#x017F;. d. Erziehungsunterr. im Allgem.</fw><lb/>
un&#x017F;rer Cultur fa&#x017F;t haben untergehen la&#x017F;&#x017F;en &#x2014; die<lb/>
Kenntniß der <hi rendition="#g">Urbilder</hi> der Vorzeit, die, aus noch<lb/>
ungetrenntem Gemu&#x0364;th und ungetheiltem Streben her-<lb/>
vorgegangen, durch Harmonie des Gefu&#x0364;hls und des<lb/>
Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre<lb/>
Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre<lb/>
Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-<lb/>
reichte Mu&#x017F;ter fu&#x0364;r uns &#x017F;ind, uns zu erheben und zu<lb/>
begei&#x017F;tern, &#x017F;ondern auch leuchtende Sterne, in dem<lb/>
Kampfe der Zeit un&#x017F;erm Herzen Beruhigung und Hoff-<lb/>
nung auf die Zukunft der Ver&#x017F;o&#x0364;hnung einzuflo&#x0364;ßen, und<lb/>
dem Gei&#x017F;t in der Verwirrung des Streites das rechte<lb/>
Ziel unverru&#x0364;ckt vor Augen zu halten? Du&#x0364;rfen wir<lb/>
uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-<lb/>
cher der Leit&#x017F;tern der Vorzeit ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t, kein<lb/>
Ziel mehr kennt?</p><lb/>
                  <p>Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit<lb/>
kann in Ab&#x017F;icht auf Bildung des Ge&#x017F;chmackes der Mu-<lb/>
&#x017F;ter des Alterthums weniger entbehren, als gerade<lb/>
die un&#x017F;rige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-<lb/>
la&#x0364;nder, die Franzo&#x017F;en haben ihre Cla&#x017F;&#x017F;iker und halten<lb/>
darauf. Die Teut&#x017F;chen aber? Ihre Cla&#x017F;&#x017F;iker haben<lb/>
&#x017F;ie wohl un&#x017F;treitig &#x017F;o gut, wie jene: aber halten &#x017F;ie<lb/>
denn auch darauf? Hat nicht ein un&#x017F;eeliger Schwin-<lb/>
delgei&#x017F;t un&#x017F;re Nation in ihrer Le&#x017F;ewuth ergriffen? Wird<lb/>
nicht der a&#x0364;rmlich&#x017F;te Roman, das frivol&#x017F;te Schau&#x017F;piel<lb/>
mit eben der Gier als ein Mei&#x017F;terwerk von Go&#x0364;the oder<lb/>
Schiller ver&#x017F;chlungen, mit eben dem Leicht&#x017F;inn das<lb/>
letztere wie die er&#x017F;tern verge&#x017F;&#x017F;en? Welche Plattheit<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0247] Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — die Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her- vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner- reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff- nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel- cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein Ziel mehr kennt? Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu- ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng- laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin- delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/247
Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/247>, abgerufen am 04.12.2024.