Auf dieser Seite steht das System des oben so benannten Philanthropinismus, das bei aller Solidität und Nüchternheit seiner Ansichten von dem Wesen und der Bestimmung des Menschen, und bei aller Nachdrücklichkeit seiner Forderungen an die Erzie- hung und den Unterricht desselben, gleichwohl dem Vor- wurfe der gefährlichsten Einseitigkeit nicht entgehen kann: -- gefährlich, nicht bloß weil sie das unbedingt Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige versäumt, sondern auch weil sie, den Sinn auf das Sichtbare heftend, den Unglauben in Absicht auf das Unsichtbare verbreitet und vermehrt. Es ist wohl na- türlich, auf die Realität dieser sichtbaren Welt etwas rechtes zu halten; und ich will in diesem soliden Glau- ben um so weniger jemanden stören, da ich die Bedeu- tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich solid ist, welche jedoch schwerlich bei jenen zutreffen möchte, die das Zuverlässige in die Handgreiflichkeit setzen. Aber es ist doch auch fast handgreiflich unwahr, daß dem Sichtbaren allein Realität zukomme, und der Mensch muß seine ganze bessere Natur verläugnen, dem nichts für wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die Sinne fällt, und der darauf den seichten Grundsatz baut: am sichersten sey es, für das zu sorgen, was wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange- lium entgegensetzt: du Narr, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern!
Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von Ernst Au- gust Evers. Aarau, 1807. 41 S. 4.
Zweiter Abſchnitt.
Auf dieſer Seite ſteht das Syſtem des oben ſo benannten Philanthropinismus, das bei aller Soliditaͤt und Nuͤchternheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, und bei aller Nachdruͤcklichkeit ſeiner Forderungen an die Erzie- hung und den Unterricht deſſelben, gleichwohl dem Vor- wurfe der gefaͤhrlichſten Einſeitigkeit nicht entgehen kann: — gefaͤhrlich, nicht bloß weil ſie das unbedingt Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige verſaͤumt, ſondern auch weil ſie, den Sinn auf das Sichtbare heftend, den Unglauben in Abſicht auf das Unſichtbare verbreitet und vermehrt. Es iſt wohl na- tuͤrlich, auf die Realitaͤt dieſer ſichtbaren Welt etwas rechtes zu halten; und ich will in dieſem ſoliden Glau- ben um ſo weniger jemanden ſtoͤren, da ich die Bedeu- tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich ſolid iſt, welche jedoch ſchwerlich bei jenen zutreffen moͤchte, die das Zuverlaͤſſige in die Handgreiflichkeit ſetzen. Aber es iſt doch auch faſt handgreiflich unwahr, daß dem Sichtbaren allein Realitaͤt zukomme, und der Menſch muß ſeine ganze beſſere Natur verlaͤugnen, dem nichts fuͤr wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die Sinne faͤllt, und der darauf den ſeichten Grundſatz baut: am ſicherſten ſey es, fuͤr das zu ſorgen, was wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange- lium entgegenſetzt: du Narr, dieſe Nacht wird man deine Seele von dir fordern!
Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von Ernst Au- gust Evers. Aarau, 1807. 41 S. 4.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0060"n="48"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Zweiter Abſchnitt</hi>.</fw><lb/><p>Auf dieſer Seite ſteht das Syſtem des oben ſo<lb/>
benannten <hirendition="#g">Philanthropinismus</hi>, das bei aller<lb/>
Soliditaͤt und Nuͤchternheit ſeiner Anſichten von dem<lb/>
Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, und bei<lb/>
aller Nachdruͤcklichkeit ſeiner Forderungen an die Erzie-<lb/>
hung und den Unterricht deſſelben, gleichwohl dem Vor-<lb/>
wurfe der gefaͤhrlichſten Einſeitigkeit nicht entgehen<lb/>
kann: — gefaͤhrlich, nicht bloß weil ſie das unbedingt<lb/>
Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige<lb/>
verſaͤumt, ſondern auch weil ſie, den Sinn auf das<lb/>
Sichtbare heftend, den Unglauben in Abſicht auf das<lb/>
Unſichtbare verbreitet und vermehrt. Es iſt wohl na-<lb/>
tuͤrlich, auf die Realitaͤt dieſer ſichtbaren Welt etwas<lb/>
rechtes zu halten; und ich will in dieſem ſoliden Glau-<lb/>
ben um ſo weniger jemanden ſtoͤren, da ich die Bedeu-<lb/>
tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich ſolid iſt,<lb/>
welche jedoch ſchwerlich bei jenen zutreffen moͤchte, die<lb/>
das Zuverlaͤſſige in die Handgreiflichkeit ſetzen. Aber<lb/>
es iſt doch auch faſt handgreiflich unwahr, daß dem<lb/>
Sichtbaren allein Realitaͤt zukomme, und der Menſch<lb/>
muß ſeine ganze beſſere Natur verlaͤugnen, dem nichts<lb/>
fuͤr wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die<lb/>
Sinne faͤllt, und der darauf den ſeichten Grundſatz<lb/>
baut: am ſicherſten ſey es, fuͤr das zu ſorgen, was<lb/>
wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange-<lb/>
lium entgegenſetzt: du Narr, dieſe Nacht wird man<lb/>
deine Seele von dir fordern!</p><lb/><notexml:id="note-0060"prev="#note-0059"place="foot"n="*)"><hirendition="#aq">Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von <hirendition="#i"><hirendition="#g">Ernst Au-<lb/>
gust Evers</hi></hi>. Aarau, 1807. 41 S.</hi> 4.</note><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[48/0060]
Zweiter Abſchnitt.
Auf dieſer Seite ſteht das Syſtem des oben ſo
benannten Philanthropinismus, das bei aller
Soliditaͤt und Nuͤchternheit ſeiner Anſichten von dem
Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, und bei
aller Nachdruͤcklichkeit ſeiner Forderungen an die Erzie-
hung und den Unterricht deſſelben, gleichwohl dem Vor-
wurfe der gefaͤhrlichſten Einſeitigkeit nicht entgehen
kann: — gefaͤhrlich, nicht bloß weil ſie das unbedingt
Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige
verſaͤumt, ſondern auch weil ſie, den Sinn auf das
Sichtbare heftend, den Unglauben in Abſicht auf das
Unſichtbare verbreitet und vermehrt. Es iſt wohl na-
tuͤrlich, auf die Realitaͤt dieſer ſichtbaren Welt etwas
rechtes zu halten; und ich will in dieſem ſoliden Glau-
ben um ſo weniger jemanden ſtoͤren, da ich die Bedeu-
tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich ſolid iſt,
welche jedoch ſchwerlich bei jenen zutreffen moͤchte, die
das Zuverlaͤſſige in die Handgreiflichkeit ſetzen. Aber
es iſt doch auch faſt handgreiflich unwahr, daß dem
Sichtbaren allein Realitaͤt zukomme, und der Menſch
muß ſeine ganze beſſere Natur verlaͤugnen, dem nichts
fuͤr wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die
Sinne faͤllt, und der darauf den ſeichten Grundſatz
baut: am ſicherſten ſey es, fuͤr das zu ſorgen, was
wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange-
lium entgegenſetzt: du Narr, dieſe Nacht wird man
deine Seele von dir fordern!
*)
*) Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von Ernst Au-
gust Evers. Aarau, 1807. 41 S. 4.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/60>, abgerufen am 19.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.