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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem
natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen
hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühls¬
erregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns
jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des
paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die
alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und ver¬
lornen Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppo¬
sitionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem
aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus ge¬
funden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei
der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten
gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der
eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunst¬
form in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Be¬
dürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des
Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als
des von Natur guten und künstlerischen Menschen: als wel¬
ches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und
entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Ange¬
sicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht
mehr überhören können. Der "gute Urmensch" will seine
Rechte: welche paradiesischen Aussichten!

Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung
meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien
mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper
ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen
Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten That¬
sachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung
recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem
das Wort verstehen müsse; so dass eine Wiedergeburt der
Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Ge¬
sangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über

guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem
natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen
hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühls¬
erregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns
jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des
paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die
alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und ver¬
lornen Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppo¬
sitionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem
aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus ge¬
funden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei
der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten
gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der
eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunst¬
form in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Be¬
dürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des
Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als
des von Natur guten und künstlerischen Menschen: als wel¬
ches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und
entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Ange¬
sicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht
mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will seine
Rechte: welche paradiesischen Aussichten!

Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung
meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien
mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper
ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen
Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten That¬
sachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung
recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem
das Wort verstehen müsse; so dass eine Wiedergeburt der
Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Ge¬
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[107/0120] guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühls¬ erregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaffnen Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und ver¬ lornen Menschen ankämpften: so dass die Oper als das Oppo¬ sitionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus ge¬ funden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunst¬ form in der Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Be¬ dürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen: als wel¬ ches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Ange¬ sicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können. Der »gute Urmensch« will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten! Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers: eine der befremdlichsten That¬ sachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem das Wort verstehen müsse; so dass eine Wiedergeburt der Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Ge¬ sangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/120>, abgerufen am 21.11.2024.