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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer
Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist,
von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen
Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreis¬
bahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisa¬
tion nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Diony¬
sus erscheinen müssen.

Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen
strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und
Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust
der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer
Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine un¬
endlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen
und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in
Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können :
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der
deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht
auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur
aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?
Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir
an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen
stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene
Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form
ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ord¬
nung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens
analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem
alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tra¬
gödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfin¬
dung; als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den
deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges
Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange
Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in
hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht¬

Nietzsche, Geburt der Tragödie. 8

in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer
Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist,
von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen
Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreis¬
bahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisa¬
tion nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Diony¬
sus erscheinen müssen.

Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen
strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und
Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust
der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer
Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine un¬
endlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen
und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in
Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können :
wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der
deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht
auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur
aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?
Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir
an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen
stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene
Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form
ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ord¬
nung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens
analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem
alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tra¬
gödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfin¬
dung; als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den
deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges
Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange
Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in
hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht¬

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[113/0126] in Acht nehmen: denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreis¬ bahn bewegen: alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisa¬ tion nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Diony¬ sus erscheinen müssen. Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste der deutschen Philosophie, durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine un¬ endlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste dionysische Weisheit bezeichnen können : wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in umgekehrter Ord¬ nung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tra¬ gödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfin¬ dung; als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht¬ Nietzsche, Geburt der Tragödie. 8

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/126>, abgerufen am 21.11.2024.