Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0135" n="122"/> <p>Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung<lb/> und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held,<lb/> im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten That¬<lb/> sachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden<lb/> kann. Als Gleichniss würde nun aber der Mythus, wenn<lb/> wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich wirkungslos<lb/> und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen<lb/> Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wieder¬<lb/> klang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch<lb/> die <hi rendition="#i">apollinische</hi> Kraft, auf Wiederherstellung des fast zer¬<lb/> sprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer<lb/> wonnevollen Täuschung hervor: plötzlich glauben wir nur<lb/> noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich<lb/> fragt: »die alte Weise; was weckt sie mich?« Und was uns<lb/> früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins<lb/> anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie »öd und leer das<lb/> Meer«. Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im<lb/> krampfartigen Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges<lb/> uns mit dieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen<lb/> wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht<lb/> sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe:<lb/> »Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehn¬<lb/> sucht nicht zu sterben!« Und wenn früher der Jubel des<lb/> Horn's nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl ver¬<lb/> zehrender Qualen fast wie der Qualen höchste uns das Herz<lb/> zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem »Jubel an<lb/> sich« der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden<lb/> trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns<lb/> hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das<lb/> Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild<lb/> des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschaun der höch¬<lb/> sten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor<lb/> dem ungedämmten Erguss des unbewussten Willens rettet.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [122/0135]
Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung
und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held,
im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten That¬
sachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden
kann. Als Gleichniss würde nun aber der Mythus, wenn
wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich wirkungslos
und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen
Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wieder¬
klang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch
die apollinische Kraft, auf Wiederherstellung des fast zer¬
sprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer
wonnevollen Täuschung hervor: plötzlich glauben wir nur
noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich
fragt: »die alte Weise; was weckt sie mich?« Und was uns
früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins
anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie »öd und leer das
Meer«. Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im
krampfartigen Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges
uns mit dieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen
wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht
sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe:
»Sehnen! Sehnen! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehn¬
sucht nicht zu sterben!« Und wenn früher der Jubel des
Horn's nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl ver¬
zehrender Qualen fast wie der Qualen höchste uns das Herz
zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem »Jubel an
sich« der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden
trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns
hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das
Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild
des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschaun der höch¬
sten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor
dem ungedämmten Erguss des unbewussten Willens rettet.
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