Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0141" n="128"/> Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als<lb/> »Nachahmung der Natur« zu begreifen wäre — wie dann<lb/> aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der<lb/> Erscheinungen verschlingt; um hinter ihr und durch ihre<lb/> Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse<lb/> des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser<lb/> Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden<lb/> Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apol¬<lb/> linischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere<lb/> Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde<lb/> werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den<lb/> Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie<lb/> bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische<lb/> zu charakterisiren: als welche Unverdrossenheit mich auf den<lb/> Gedanken bringt, sie möchten überhaupt keine ästhetisch<lb/> erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie<lb/> vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen.<lb/> Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen<lb/> Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände,<lb/> auf eine ästhetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen wer¬<lb/> den dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die<lb/> ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt<lb/> werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler<lb/> Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer<lb/> sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen; und<lb/> so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade<lb/> das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich<lb/> ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpre¬<lb/> tirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten<lb/><hi rendition="#i">Kunst</hi> nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung,<lb/> die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht<lb/> recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die mora¬<lb/> lischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merk¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [128/0141]
Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als
»Nachahmung der Natur« zu begreifen wäre — wie dann
aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der
Erscheinungen verschlingt; um hinter ihr und durch ihre
Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse
des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser
Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden
Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apol¬
linischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere
Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde
werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den
Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie
bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische
zu charakterisiren: als welche Unverdrossenheit mich auf den
Gedanken bringt, sie möchten überhaupt keine ästhetisch
erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie
vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen.
Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen
Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände,
auf eine ästhetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen wer¬
den dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die
ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt
werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler
Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer
sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen; und
so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade
das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich
ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpre¬
tirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten
Kunst nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung,
die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht
recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die mora¬
lischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merk¬
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