Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der
im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu
unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage
beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen,
was er sich unter "Bildung" vorstellt, vorausgesetzt dass er
die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor
Ueberraschung bereits verstummt ist.

Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur
Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich
zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so
unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu er¬
zählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrin¬
aufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede
Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass
auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus un¬
vergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, ver¬
einzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem
Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der ästhe¬
tische Zuhörer ist.

23.

Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er
dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Ge¬
meinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der
mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit
der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt:
ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psycho¬
logische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit
einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als
ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen
zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet.
Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über¬

9*

Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der
im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu
unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage
beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen,
was er sich unter »Bildung« vorstellt, vorausgesetzt dass er
die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor
Ueberraschung bereits verstummt ist.

Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur
Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich
zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so
unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu er¬
zählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrin¬
aufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede
Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass
auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus un¬
vergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, ver¬
einzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem
Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der ästhe¬
tische Zuhörer ist.

23.

Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er
dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Ge¬
meinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der
mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit
der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt:
ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psycho¬
logische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit
einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als
ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen
zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet.
Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über¬

9*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="131"/>
Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der<lb/>
im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu<lb/>
unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage<lb/>
beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen,<lb/>
was er sich unter »Bildung« vorstellt, vorausgesetzt dass er<lb/>
die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor<lb/>
Ueberraschung bereits verstummt ist.</p><lb/>
        <p>Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur<lb/>
Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich<lb/>
zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so<lb/>
unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu er¬<lb/>
zählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrin¬<lb/>
aufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede<lb/>
Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass<lb/>
auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus un¬<lb/>
vergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, ver¬<lb/>
einzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem<lb/>
Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der ästhe¬<lb/>
tische Zuhörer ist.</p><lb/>
      </div>
      <div n="1">
        <head>23.<lb/></head>
        <p>Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er<lb/>
dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Ge¬<lb/>
meinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der<lb/>
mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit<lb/>
der er das auf der Bühne dargestellte <hi rendition="#i">Wunder</hi> empfängt:<lb/>
ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psycho¬<lb/>
logische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit<lb/>
einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als<lb/>
ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen<lb/>
zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet.<lb/>
Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">9*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[131/0144] Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter »Bildung« vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist. Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu er¬ zählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrin¬ aufführung auf ihn ausübte: nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus un¬ vergleichliche Empfindung, die ihn damals erschütterte, ver¬ einzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der ästhe¬ tische Zuhörer ist. 23. Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren ästhetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Ge¬ meinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfindung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wunder empfängt: ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psycho¬ logische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über¬ 9*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/144
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/144>, abgerufen am 21.11.2024.