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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen
Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Klein¬
asien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen.
Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie
von "Volkskrankheiten", spöttisch oder bedauernd im Gefühl
der eigenen Gesundheit abzuwenden: man giebt damit eben
zu verstehen, dass man "gesund" ist, und dass die an einem
Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte,
erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres
flüchten, wenn so ein gesunder "Meister Zettel" plötzlich
vor ihnen erscheint.

Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht
nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen:
auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert
wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem
Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und fried¬
fertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit
Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus über¬
schüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.
Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der "Freude"
in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht
zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken:
so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der
Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feind¬
seligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder "freche Mode"
zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem
Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem
Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, son¬
dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und
nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen
herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch
als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen
und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend

Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen
Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Klein¬
asien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen.
Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie
von »Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Gefühl
der eigenen Gesundheit abzuwenden: man giebt damit eben
zu verstehen, dass man »gesund« ist, und dass die an einem
Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte,
erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres
flüchten, wenn so ein gesunder »Meister Zettel« plötzlich
vor ihnen erscheint.

Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht
nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen:
auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert
wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem
Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und fried¬
fertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit
Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus über¬
schüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.
Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der »Freude«
in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht
zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken:
so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der
Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feind¬
seligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder »freche Mode«
zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem
Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem
Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, son¬
dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und
nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen
herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch
als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen
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[5/0018] Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Klein¬ asien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie von »Volkskrankheiten«, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abzuwenden: man giebt damit eben zu verstehen, dass man »gesund« ist, und dass die an einem Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres flüchten, wenn so ein gesunder »Meister Zettel« plötzlich vor ihnen erscheint. Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und fried¬ fertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus über¬ schüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven'sche Jubellied der »Freude« in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feind¬ seligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder »freche Mode« zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, son¬ dern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/18>, abgerufen am 21.11.2024.