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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und
abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie
sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein
eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde
der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.

Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegen¬
überstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu
erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene
Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind:
wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss
des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach
dem aristotelischen Ausdrucke, "die Nachahmung der Natur"
tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der
Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahl¬
reichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch
mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich
bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges,
sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man
sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Später¬
geborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität
der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren
besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen,
deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich
wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende
Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu be¬
zeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne
Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu
vergleichen wagt.

Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu
sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll,
welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Bar¬
baren trennt. Aus allen Enden der alten Welt -- um die
neuere hier bei Seite zu lassen -- von Rom bis Babylon

Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und
abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie
sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein
eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde
der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart.

Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegen¬
überstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu
erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene
Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind:
wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss
des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach
dem aristotelischen Ausdrucke, »die Nachahmung der Natur«
tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der
Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahl¬
reichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch
mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich
bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges,
sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man
sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Später¬
geborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität
der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren
besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen,
deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich
wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende
Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu be¬
zeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne
Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu
vergleichen wagt.

Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu
sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll,
welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Bar¬
baren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — um die
neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon

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[7/0020] Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt in einem gleichnissartigen Traumbilde offenbart. Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegen¬ überstellungen nahen wir uns jetzt den Griechen, um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene Kunsttriebe der Natur in ihnen entwickelt gewesen sind: wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, »die Nachahmung der Natur« tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Träumen der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahl¬ reichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen: bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Später¬ geborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu be¬ zeichnen: in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt. Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Bar¬ baren trennt. Aus allen Enden der alten Welt — um die neuere hier bei Seite zu lassen — von Rom bis Babylon

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/20>, abgerufen am 21.11.2024.