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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur "Schein des Scheins"
ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen "Naiven", hat
uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren
des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers
und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner
Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem be¬
sessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos
geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Ur¬
schmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der "Schein" ist
hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der
Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer
Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der
jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen -- ein leuch¬
tendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus
weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in
höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und
ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor
unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegen¬
seitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als
die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in
dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er¬
lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit
erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig
ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der er¬
lösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen
versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten
des Meeres, sitze.

Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie
überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht
wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung
der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen
Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den
Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,

naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur »Schein des Scheins«
ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen »Naiven«, hat
uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren
des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers
und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner
Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem be¬
sessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos
geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Ur¬
schmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der »Schein« ist
hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der
Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer
Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der
jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuch¬
tendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus
weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in
höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und
ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor
unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegen¬
seitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als
die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in
dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er¬
lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit
erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig
ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der er¬
lösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen
versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten
des Meeres, sitze.

Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie
überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht
wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung
der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen
Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den
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[16/0029] naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur »Schein des Scheins« ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen »Naiven«, hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Transfiguration zeigt uns die untere Hälfte, mit dem be¬ sessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Ur¬ schmerzes, des einzigen Grundes der Welt: der »Schein« ist hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuch¬ tendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegen¬ seitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Er¬ lösung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der er¬ lösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze. Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können,

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/29>, abgerufen am 21.11.2024.