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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert gross¬
artigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener
Befriedigung: hier war die Illusion der Cultur von dem Ur¬
bilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der
wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte auf¬
jubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügen¬
haften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der
tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine leben¬
dige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er --
der Satyrchor -- das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, voll¬
ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität
achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht
ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit
eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der
ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben des¬
halb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit
des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser
eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität
gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem
ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesamm¬
ten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem meta¬
physischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes,
bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin¬
weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem
Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Er¬
scheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen
Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden
Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will
die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft -- er sieht
sich zum Satyr verzaubert.

Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die
schwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie
selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich

beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert gross¬
artigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener
Befriedigung: hier war die Illusion der Cultur von dem Ur¬
bilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der
wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte auf¬
jubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügen¬
haften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der
tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine leben¬
dige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er —
der Satyrchor — das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, voll¬
ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität
achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht
ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit
eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der
ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben des¬
halb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit
des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser
eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität
gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem
ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesamm¬
ten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem meta¬
physischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes,
bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin¬
weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem
Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Er¬
scheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen
Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden
Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will
die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft — er sieht
sich zum Satyr verzaubert.

Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die
schwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie
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[37/0050] beleidigt: auf den unverhüllten und unverkümmert gross¬ artigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung: hier war die Illusion der Cultur von dem Ur¬ bilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte auf¬ jubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügen¬ haften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen Kunst hat Schiller Recht: der Chor ist eine leben¬ dige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er — der Satyrchor — das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, voll¬ ständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben des¬ halb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesamm¬ ten Erscheinungswelt: und wie die Tragödie mit ihrem meta¬ physischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hin¬ weist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Er¬ scheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen; der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft — er sieht sich zum Satyr verzaubert. Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende Schaar der Dionysusdiener: deren Macht sie selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/50>, abgerufen am 21.11.2024.