Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0065" n="52"/> nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener<lb/> Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden<lb/> der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wunder¬<lb/> volle Myten herzählen, wie er als Knabe von den Titanen<lb/> zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als<lb/> Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese<lb/> Zerstückelung, das eigentlich dionysische <hi rendition="#i">Leiden</hi>, gleich einer<lb/> Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass<lb/> wir also den Zustand der Individuation als den Quell und<lb/> Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu<lb/> betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind<lb/> die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen<lb/> entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat<lb/> Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dä¬<lb/> mons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff¬<lb/> nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des<lb/> Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungs¬<lb/> voll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus<lb/> erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur<lb/> in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem<lb/> Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt:<lb/> wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte De¬<lb/> meter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich <hi rendition="#i">freut</hi>,<lb/> als man ihr sagt, sie könne den Dionysus <hi rendition="#i">noch einmal</hi> ge¬<lb/> bären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits<lb/> alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Welt¬<lb/> betrachtung und zugleich damit <hi rendition="#i">die Mysterienlehre der Tra¬<lb/> gödie</hi> zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles<lb/> Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des<lb/> Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als<lb/> die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation<lb/> zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten<lb/> Einheit. —</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [52/0065]
nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener
Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden
der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wunder¬
volle Myten herzählen, wie er als Knabe von den Titanen
zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als
Zagreus verehrt werde: wobei angedeutet wird, dass diese
Zerstückelung, das eigentlich dionysische Leiden, gleich einer
Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass
wir also den Zustand der Individuation als den Quell und
Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu
betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind
die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen
entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat
Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dä¬
mons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff¬
nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des
Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungs¬
voll zu begreifen haben: diesem kommenden dritten Dionysus
erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur
in dieser Hoffnung giebt es einen Strahl von Freude auf dem
Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt:
wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte De¬
meter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich freut,
als man ihr sagt, sie könne den Dionysus noch einmal ge¬
bären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits
alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Welt¬
betrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tra¬
gödie zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles
Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des
Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als
die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation
zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten
Einheit. —
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