Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vor¬ gelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre: aber der Gott Dionysos ist zu mächtig; der verständigste Gegner -- wie Pentheus in den "Bacchen" -- wird unver¬ muthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es ge¬ zieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber minde¬ stens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplo¬ maten -- wie hier den Kadmus -- schliesslich in einen Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat -- um am Ende desselben mit einer Glorifi¬ cation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf¬ bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war ge¬ schehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz:
Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vor¬ gelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre: aber der Gott Dionysos ist zu mächtig; der verständigste Gegner — wie Pentheus in den »Bacchen« — wird unver¬ muthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es ge¬ zieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber minde¬ stens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen: wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplo¬ maten — wie hier den Kadmus — schliesslich in einen Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat — um am Ende desselben mit einer Glorifi¬ cation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf¬ bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war ge¬ schehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz:
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Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vor¬
gelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn? Ist es
nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten?
Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre:
aber der Gott Dionysos ist zu mächtig; der verständigste
Gegner — wie Pentheus in den »Bacchen« — wird unver¬
muthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser
Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden
Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des
greisen Dichters zu sein: das Nachdenken der klügsten
Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig
fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es ge¬
zieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber minde¬
stens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen:
wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an
einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplo¬
maten — wie hier den Kadmus — schliesslich in einen
Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit
heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus
widerstanden hat — um am Ende desselben mit einer Glorifi¬
cation seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf¬
bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um
nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu
entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie
ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach,
und sie war bereits ausgeführt! Das Wunderbare war ge¬
schehn: als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz
gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne
verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende
dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne
nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht
Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner
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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/76>, abgerufen am 16.02.2025.
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