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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides
überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das
Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische
Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokra¬
tismus
schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz
ungefähr so lautet: "alles muss verständig sein, um schön
zu sein"; als Parallelsatz zu dem sokratischen "nur der
Wissende ist tugendhaft". Mit diesem Kanon in der Hand
maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss die¬
sem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen
Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der
sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dich¬
terischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das
ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Pro¬
zesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische
Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität jener ra¬
tionalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik
widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides.
Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des
Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe,
was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes ge¬
schehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als
ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten
auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles,
was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies
wirklich geschieht? -- da ja hier keinesfalls das aufregende
Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später ein¬
tretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte
Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf
der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit,
was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf
jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Lei¬

Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides
überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das
Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische
Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt
hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokra¬
tismus
schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz
ungefähr so lautet: »alles muss verständig sein, um schön
zu sein«; als Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der
Wissende ist tugendhaft«. Mit diesem Kanon in der Hand
maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss die¬
sem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen
Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der
sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dich¬
terischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das
ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Pro¬
zesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische
Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität jener ra¬
tionalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik
widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides.
Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des
Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe,
was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes ge¬
schehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als
ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten
auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles,
was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies
wirklich geschieht? — da ja hier keinesfalls das aufregende
Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später ein¬
tretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte
Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf
der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit,
was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf
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[66/0079] Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ästhetischen Sokra¬ tismus schon näher treten dürfen; dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: »alles muss verständig sein, um schön zu sein«; als Parallelsatz zu dem sokratischen »nur der Wissende ist tugendhaft«. Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss die¬ sem Princip: die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen Aufbau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dich¬ terischen Mangel und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Pro¬ zesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische Prolog diene uns als Beispiel für die Productivität jener ra¬ tionalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes ge¬ schehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird; wer wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht? — da ja hier keinesfalls das aufregende Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später ein¬ tretenden Wirklichkeit stattfindet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde: vielmehr auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Lei¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/79>, abgerufen am 21.11.2024.