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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates
gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung ge¬
boten, die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes,
Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze
weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht ge¬
wesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen.
Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn
ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger
Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode,
durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod. mit jener Ruhe,
mit der er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher
im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen
neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm, auf den Bänken
und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurück¬
bleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träu¬
men. Der sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat
sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrün¬
stigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde
niedergeworfen.

14.

Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des
Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie
der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat
-- denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die
dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen -- was
eigentlich musste es in der "erhabenen und hochgepriesenen"
tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas recht
Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit
Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das
Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen

war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates
gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung ge¬
boten, die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes,
Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze
weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht ge¬
wesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen.
Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn
ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger
Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode,
durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod. mit jener Ruhe,
mit der er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher
im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen
neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm, auf den Bänken
und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurück¬
bleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träu¬
men. Der ſterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst
geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat
sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrün¬
stigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde
niedergeworfen.

14.

Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des
Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie
der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat
— denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die
dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen — was
eigentlich musste es in der »erhabenen und hochgepriesenen«
tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas recht
Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit
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Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen

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[73/0086] war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung ge¬ boten, die Verbannung; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht ge¬ wesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zu haben: er ging in den Tod. mit jener Ruhe, mit der er nach Plato's Schilderung als der letzte der Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen; indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurück¬ bleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träu¬ men. Der ſterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrün¬ stigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen. 14. Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat — denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen — was eigentlich musste es in der »erhabenen und hochgepriesenen« tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken? Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/86>, abgerufen am 24.11.2024.