Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite
Vor Sonnen-Aufgang.


Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du
Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor
göttlichen Begierden.

In deine Höhe mich zu werfen -- das ist meine
Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen -- das ist
meine Unschuld!

Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst
du deine Sterne. Du redest nicht: so kündest du
mir deine Weisheit.

Stumm über brausendem Meere bist du heut mir
aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet
Offenbarung zu meiner brausenden Seele.

Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine
Schönheit, dass du stumm zu mir sprichst, offenbar
in deiner Weisheit:

Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner
Seele! Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Ein¬
samsten.

Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram
und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne
ist uns gemeinsam.

Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles
wissen --: wir schweigen uns an, wir lächeln uns
unser Wissen zu.

Vor Sonnen-Aufgang.


Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du
Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor
göttlichen Begierden.

In deine Höhe mich zu werfen — das ist meine
Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen — das ist
meine Unschuld!

Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst
du deine Sterne. Du redest nicht: so kündest du
mir deine Weisheit.

Stumm über brausendem Meere bist du heut mir
aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet
Offenbarung zu meiner brausenden Seele.

Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine
Schönheit, dass du stumm zu mir sprichst, offenbar
in deiner Weisheit:

Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner
Seele! Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Ein¬
samsten.

Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram
und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne
ist uns gemeinsam.

Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles
wissen —: wir schweigen uns an, wir lächeln uns
unser Wissen zu.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0028" n="18"/>
      <div n="1">
        <head>Vor Sonnen-Aufgang.<lb/></head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        <p>Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du<lb/>
Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor<lb/>
göttlichen Begierden.</p><lb/>
        <p>In deine Höhe mich zu werfen &#x2014; das ist <hi rendition="#g">meine</hi><lb/>
Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen &#x2014; das ist<lb/><hi rendition="#g">meine</hi> Unschuld!</p><lb/>
        <p>Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst<lb/>
du deine Sterne. Du redest nicht: <hi rendition="#g">so</hi> kündest du<lb/>
mir deine Weisheit.</p><lb/>
        <p>Stumm über brausendem Meere bist du heut mir<lb/>
aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet<lb/>
Offenbarung zu meiner brausenden Seele.</p><lb/>
        <p>Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine<lb/>
Schönheit, dass du stumm zu mir sprichst, offenbar<lb/>
in deiner Weisheit:</p><lb/>
        <p>Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner<lb/>
Seele! Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Ein¬<lb/>
samsten.</p><lb/>
        <p>Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram<lb/>
und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne<lb/>
ist uns gemeinsam.</p><lb/>
        <p>Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles<lb/>
wissen &#x2014;: wir schweigen uns an, wir lächeln uns<lb/>
unser Wissen zu.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0028] Vor Sonnen-Aufgang. Oh Himmel über mir, du Reiner! Tiefer! Du Licht-Abgrund! Dich schauend schaudere ich vor göttlichen Begierden. In deine Höhe mich zu werfen — das ist meine Tiefe! In deine Reinheit mich zu bergen — das ist meine Unschuld! Den Gott verhüllt seine Schönheit: so verbirgst du deine Sterne. Du redest nicht: so kündest du mir deine Weisheit. Stumm über brausendem Meere bist du heut mir aufgegangen, deine Liebe und deine Scham redet Offenbarung zu meiner brausenden Seele. Dass du schön zu mir kamst, verhüllt in deine Schönheit, dass du stumm zu mir sprichst, offenbar in deiner Weisheit: Oh wie erriethe ich nicht alles Schamhafte deiner Seele! Vor der Sonne kamst du zu mir, dem Ein¬ samsten. Wir sind Freunde von Anbeginn: uns ist Gram und Grauen und Grund gemeinsam; noch die Sonne ist uns gemeinsam. Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen —: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/28
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 3. Chemnitz, 1884, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra03_1884/28>, abgerufen am 21.11.2024.