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Allgemeine Zeitung, Nr. 2, 2. Januar 1872.

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[Spaltenumbruch] der Königin Elisabeth die Uebung daß die Parlamentsmitglieder an die Instructionen
ihrer Wähler gebunden seien, ja in einem Streite der Königin mit dem Parlament
schützten die Unterhausmitglieder als Entschuldigung für ihre Handlungsweise vor
daß sie mit ihren Köpfen für ihre Instructionen aufkommen müßten. Später aber
muß diese Einrichtung vollständig außer Uebung gekommen sein, denn Burke vertritt
die Ansicht daß die Abgeordneten nach den Landesgesetzen in keiner Weise an In-
structionen gebunden seien, und dieß gilt auch heute noch in England wie in Deutsch-
land als bestehendes Recht. Die Pariser Radicalen sind natürlich von der Vor-
trefflichkeit ihrer neuen Erfindung felsenfest überzeugt; wir wollen ihnen diese Ueber-
zeugung nicht stören. Victor Hugo hat in einem heute von den Blättern veröffent-
lichten Schreiben an den Club der Rue d'Arras sich dahin erklärt "das Beispiel zur
Annahme des "contractuellen Mandats" zu geben, welches noch ganz anders wirk-
sam und bindend sei als das "imperative Mandat." Das contractuelle Mandat
d.h. der synallagmatische Vertrag zwischen dem Mandanten und dem Bevollmächtigten,
schaffe zwischen dem Wähler und dem Gewählten absolute Identität des Ziels und
der Grundsätze. Die Wahl welche das Volk von Paris am 7 Januar treffen wird,
solle bedeuten: Republik, Verneinung jeder Monarchie, gleichviel welcher Form;
Amnestie, Abschaffung der Todesstrafe für politische Vergehen und überhaupt,
Rückkehr der Nationalversammlung nach Paris, Aufhebung des Belagerungsstan-
des, Auflösung der Nationalversammlung in möglichst kurzer Frist." Die Candi-
datur Victor Hugo's wird in der Presse bis jetzt nur von der "Republique francaise,"
der "Constitution" und dem "Radical" unterstützt, während "Siecle," "Avenir
national," "Peuple Souverain" u. a. sich noch nicht erklärt haben. Martin Na-
daud hat seine Candidatur zurückgezogen, und so bleibt, da der General Cremer
selbst in der Rue d'Arras nicht ernst genommen wird, als radicaler Candidat nur
Victor Hugo übrig.

In dem Club der Rue d'Arras hat die von Hrn. Victor Hugo beliebte Um-
wandlung des imperativen Mandats in ein contractliches kein Glück gemacht, und
neues Mißtrauen gegen den Candidaten erregt, zumal seine Mitbewerber, Martin
Nadaud und General Cremer, vor dem Ausdruck "imperativ" nicht zurückscheuten.
Man beschloß daher Hrn. Victor Hugo durch eine Deputation aufzufordern sich in
Person nach der Rue d'Arras zu begeben, und den Wählern zu erklären wie er
denn eigentlich sein Mandat verstehe. Man ist begierig ob Hr. Victor Hugo dieser
Einladung Folge leisten wird.

Vorgestern früh um 9 Uhr begaben sich die Zeitungsredacteure Gibiat
("Constitutionnel"), Louis Veuillot ("Univers"), Edouard Herve ("J. de Paris"),
de Saint-Valery ("Patrie") und Eugene Rolland ("Messager de Paris") nach Ver-
sailles zum Marschall Mac-Mahon, um demselben im Namen der conservativen
Preß-Union die Candidatur für Paris anzutragen. Der Marschall erklärte ebenso
freundlich als entschieden daß in seinen Augen die Functionen eines Befehlshabers
in der Armee mit denen eines Abgeordneten schlechterdings unvereinbar seien, daß
er dieser Ansicht sein Leben lang treu geblieben, und daher auch jetzt außer Stande
sei eine Candidatur anzunehmen. Die Deputation mußte unverrichteter Sache
nach Paris zurückkehren. -- Das "Journ. de Deb." veröffentlicht mehrere in-
teressante Schriftstücke die sich auf die Concilsfrage beziehen. Zunächst folgendes
Schreiben, welches der in der Schweiz krank liegende Abbe Gratry an den Erz-
bischof von Paris gerichtet hat:

Monseigneur! Wenn ich nicht
sehr krank und außer Stande wäre einen Brief zu schreiben, so hätte ich Ihnen schon
längst meine Bewillkommnungswünsche dargebracht. Ich will Ihnen, Msgr., wenig-
stens heut in aller Einfachheit sagen -- was meines Bedünkens, nicht einmal gesagt zu
werden brauchte -- daß ich nämlich, wie alle meine Brüder im geistlichen Stande, die
Decrete des vaticanischen Concils annehme. Alles was ich hierüber vor der Entschei-
dung geschrieben haben kann, und das mit den Decreten unvereinbar ist, ich streiche es.
Wollen Sie mir, Msgr., Ihren Segen schicken.

Darauf antwortete der Erzbischof Guibert.

Mein lieber Abbe! Der kurze aber bedeutungsvolle
Brief den Sie von Ihrem Krankenlager an mich richten, gereicht mir zur großen Er-
bauung und zum Trost. Ich kannte Sie hinlänglich, um niemals an Ihrer vollkom-
menen Gelehrigkeit für die Entscheidungen der Kirche zu zweifeln. Diese Unterwürfig-
keit ist der Ruhm und die wahre Größe des Priesters und des Bischofs; sie ist auch die
einzige Sicherheit des Gewissens. Sie haben viel zur Vertheidigung der Wahrheit ge-
schrieben; aber Sie leisten der Kirche einen größeren Dienst indem Sie Ihre letzten
Blätter "streichen," als wenn Sie noch weiter so nützliche und beredte Bücher schrieben,
welche den Glauben in so vielen Seelen gestärkt haben. Durch dieses edelmüthige Bei-
spiel bringen wir unser Verhalten in Einklang mit unserer Ueberzeugung, und beweisen
der Welt daß wir aufrichtig sind, wenn wir sagen daß das Licht des Glaubens mächtiger
ist als das Licht unserer schwachen und wankenden Vernunft. Ich bete innigst für die
Wiederherstellung Ihrer Gesundheit, auf daß Sie noch ferner den Glauben vertheidigen
mögen mit dem Talent welches Sie auszeichnet, und mit dem neuen Ansehen welches
Ihnen Ihr jüngster Unterwerfungsact verleiht. Ich segne Sie von ganzem Herzen,
mein lieber Abbe, und wiederhole Ihnen die Versicherung meiner wohlwollendsten Ge-
sinnungen.

Der Abbe Gratry hatte seinen Brief dem Pere Hyacynthe zur Nachachtung
mitgetheilt; dieser antwortete ihm aber von München d. d. 23 Dec. ablehnend in
einem längeren Schreiben, dem wir folgende charakteristische Stellen entnehmen:

Seien Sie überzeugt, mein Vater, es würde mich keine Ueberwindung kosten
mich äußerlich zu unterwerfen, wenn ich innerlich glauben könnte, und meinen Irrthum
vor der Welt anzuerkennen wenn ich ihn vor meinem eigenen Gewissen anzuerkennen
vermöchte. Ich habe niemals an meine persönliche Unfehlbarkeit geglaubt, und es
scheint mir gar nicht so schwer, wie man insgemein sagt, zu gestehen daß man sich in
gutem Glauben getäuscht hat. Aber gestatten Sie mir Ihnen zu bemerken: wenn
man so Aufsehen erregende Blätter geschrieben hat wie Ihre letzten Briefe, so genügt
es nicht hinterher in aller Unschuld zu sagen daß man dieselben "streiche." Dazu müßten
Sie mit ebenso leichter Hand die lichtvollen und schmerzlichen Spuren entfernen können
welche Ihre Briefe in den Seelen zurückgelassen haben. Wie, mein ehrwürdiger Vater,
es ist nur wenige Monate her daß Sie sich plötzlich, wie ein Prophet, in der Verwirrung
Israels erhoben, und uns versicherten: "Sie hätten Befehle von Gott erhalten, und
um diese auszuführen, seien Sie bereit zu erdulden was Sie erdulden müßten!" Sie
schrieben jenen eben so logischen als heredten Nachweis, den man wohl beschimpfen,
aber nicht widerlegen kann, und nachdem Sie an der Hand der Thatsachen entwickelt
hatten daß die Frage der Unfehlbarkeit eine angefaulte sei (es ist dieß Ihr eigener Aus-
druck), stießen Sie in Ihrer heiligen Entrüstung jenen Ruf aus der noch wiederhallt:
"Numquid Deus indiget mendacio vestro? Hat Gott Eure Lügen nöthig?" Und
nun begnügen Sie sich, mit einer Ungezwungenheit welche überraschen und betrüben muß,
an Ihren Bischof: "Ich will, Msgr., u. s. w." Will man also mit der Wahrheit in
der Kirche Jesu Christi umgehen?

[Spaltenumbruch]

Das Pariser Schwurgericht verhandelte gestern gegen mehrere Mitschuldige
der unter der Commune vollzogenen Plünderung des Justizpalastes, der, wie man
weiß, schließlich in Brand gesteckt wurde. Franz Simonne, einer der Hauswächter
des Justizgebäudes, welcher den Sendlingen der Commune in die Hände arbeitete,
wurde zu neunjähriger Einschließung, seine Mitschuldigen Boucquemont und dessen
Frau zu fünf-, resp. dreijähriger Einschließung verurtheilt.

Italien.

Die neulich von mir besprochene "Wiederherstellung
der Mehrheit" hat sofort ihren erklärenden Commentar erhalten in den Gerüchten
von einer bevorstehenden Umbildung des Ministeriums, welche durch die Kaffee-
häuser und durch die Blätter schwirren. Die Mehrheit ist wiederhergestellt, die
für ein parlamentarisches Ministerium erforderliche Grundlage ist wieder gegeben,
eine feste dauerhafte Regierung wieder möglich geworden, ergo -- fangen wir da-
mit an: zwei oder drei der gegenwärtigen Minister zu beseitigen, und durch her-
vorragende Talente der wiederhergestellten Mehrheit zu ersetzen. Wozu
wäre man denn die Mehrheit, wenn man nicht das Recht hätte Mini-
ster zu schaffen und abzuschaffen, und wozu hätte man das Recht, wenn man
keinen Gebrauch davon machte? Die wiederhergestellte Mehrheit zeigt im Grund
eine große Rückhaltung, daß sie den Wechsel von nur zwei oder drei Ministern begehrt,
und nicht den des ganzen Cabinets. Die Minister von deren Rücktritt man spricht,
sind der Unterrichtsminister, der Minister der öffentlichen Bauten, der Justizminister.
Der erste dieser drei hat, als neulich sein Fachbudget zur Berathung kam, wuchtige
Angriffe zu erleiden gehabt von Seiten des Berichterstatters Bonghi, und er hat sie
erlitten mit Demuth und Geduld. Doch die Entfaltung dieser christlichen Tugenden
hat das allgemeine Urtheil, welches mit seiner Amtsführung sehr wenig zufrieden
ist, nicht zu versöhnen vermocht. Der Bautenminister De Vicenzi wird von den
Witzblättern Herzog von Falconara genannt, wie Rattazzi sich einst Herzog von
Mentana nennen lassen mußte. Falconara ist eine kleine Eisenbahnstation, wo die
Linie Rom-Ancona in die längs des Adriatischen Meeres laufende Bahn einmündet.
Nach dem von De Vicenzi gutgeheißenen neuen Fahrplan der italienischen Bahnen,
der auch in Deutschland so übel vermerkt wurde, sollten die Schnellzüge zwischen
Rom und Norditalien auf der adriatischen (statt auf der toscanischen) Linie verkehren,
und also den Weg über Falconara nehmen. Aber der neue Fahrplan ist, in Folge
des Widerstandes den er fand, nicht in Kraft getreten; die Züge laufen nach wie
vor über Florenz, und das Städtchen Falconara hat nur die Ehre gehabt der
Niederlage eines Ministers den Namen zu geben. Welche Sünden der Justizminister
De Falco begangen hat, vermag ich nicht zu sagen. Uebrigens wäre es auch curios
wenn eine Mehrheit, die einen Minister nicht mehr mag, Gründe anzugeben hätte.
-- Die französische Regierung hat dem italienischen Cabinet den Wunsch zu erken-
nen gegeben es möchte in diesem Jahre von einer Aufhebung der in Rom bestehen-
den Klöster Abstand genommen werden. Allein das italienische Cabinet ist gebun-
den durch die Versprechungen die es der Kammer gegeben; nichtsdestoweniger will es
Rücksichten nehmen, und jenem französischen Wunsche, soweit es füglich angeht, zu Ge-
fallen sein. Der betreffende Gesetzentwurf soll erst in vorgerückter Session vorgelegt
werden, und einen transitorischen Charakter haben. Die General-Ordenshäuser sollen
dadurch nicht angetastet werden, das Schicksal der Klöster welche internationaler
Natur sind besondern Vereinbarungen mit den betreffenden Staaten vorbehalten
bleiben, und nur die lediglich italienischen Klöster zwar aufgehoben, jedoch ihr Eigen-
thum weder ganz noch theilweise eingekämmert, sondern ganz und gar für Cultus-
zwecke bestimmt werden. Wenn der Senat, dem vermuthlich der Gesetzentwurf
zunächst unterbreitet werden wird, oder auch die Kammer den Wunsch ausdrücken
sollte den Gegenstand erst in der nächsten Session zu erledigen auf Grund einer
vollständigen Vorlage, so wird die Regierung sich dazu gerne bereit finden lassen.

Montenegro.

Der Plan des
Fürsten von Montenegro sich eine neue -- auch in strategischer Beziehung günstigere --
Residenz zu bauen, geht nun seiner Verwirklichung entgegen. Die Wahl des Platzes fiel
auf ein winziges Dorf, Oria Luka, welches im Thale Bielopawlowits liegt und sich
leicht zu einer starken Festung umgestalten läßt. Festung und Palais sollen gleich-
zeitig in Angriff genommen werden, zum Bau erwartet man Ingenieure aus
St. Petersburg. Ob die Pforte diesem Unternehmen gleichgültig zuschauen
wird, ist freilich eine andere Frage. Wenigstens liegen Anzeichen vor daß die
sultanische Regierung nicht abgeneigt ist Reibungen zu begünstigen, welche leicht
den besagten Plan durchkreuzen könnten. So thut der Vali in Albanien nichts um
dem kleinen Gränzkrieg der zwischen den Podgoritzer Türken und den Montenegrinern
ausgebrochen ist ein Ende zu machen. Die Streitmacht auf beiden Seiten beträgt
bei 1100 Mann, und der Gefallenen werden schon 18 gezählt. Dieser aus Blutrache
entsprungene Kampf hat an und für sich keine Bedeutung, kann aber einen ernsten
Charakter annehmen wenn die Serdars des Fürsten Nikitza Lust dazu bekommen
follten. Es hat also immerhin etwas auffälliges warum die türkischen Behörden
nicht kräftig in diese Vorgänge eingreifen. -- Die Gränzregulirungscommission,
welche in Scutari tagte, hat ihre Arbeiten unterbrochen bis April. Der türkische
Commissär ist nach Konstantinopel abgereist. Diese Unterbrechung ist jedoch von
keiner politischen Bedeutung und scheint ihren Grund lediglich in technischen Gründen
zu haben.

Griechenland.

Wie ich schon vor acht Tagen geschrieben habe, ge-
schehen von Seiten der Deputirten alle möglichen Anstrengungen die Sitzungen
in der Kammer hinauszuschieben, bis sich vielleicht ihre Reihen dichter geschlossen
haben werden, da trotz des Sieges über Kumunduros, der dessen Sturz zur Folge
hatte, die jetzt regierende Partei wahrscheinlich nicht über eine gesicherte Mehrheit
zu verfügen hat. Es kann so leicht geschehen daß die Weihnachts- und Neujahrs-
feiertage vorbeigehen ehe es zu einer Sitzung kommt. Doch auch die nun zum
gemeinsamen Handeln gegen das Cabinet Zaimis vereinigten Oppositionsparteien
Bulgaris, Kumunduros und Deligeorgis wollen gerade im Wegbleiben aus der
Kammer eine Demonstration gegen dasselbe, sowie gegen die Kammer sehen, die
mit der Entlassung des gegenwärtigen Cabinets und der Auflösung der Kammer
endigen soll. (Diese Wendung ward bereits telegraphisch gemeldet. D. R.) Es sind
bisher mehr denn 160 Deputirte in Athen anwesend, und dennoch konnte die ganze

[Spaltenumbruch] der Königin Eliſabeth die Uebung daß die Parlamentsmitglieder an die Inſtructionen
ihrer Wähler gebunden ſeien, ja in einem Streite der Königin mit dem Parlament
ſchützten die Unterhausmitglieder als Entſchuldigung für ihre Handlungsweiſe vor
daß ſie mit ihren Köpfen für ihre Inſtructionen aufkommen müßten. Später aber
muß dieſe Einrichtung vollſtändig außer Uebung gekommen ſein, denn Burke vertritt
die Anſicht daß die Abgeordneten nach den Landesgeſetzen in keiner Weiſe an In-
ſtructionen gebunden ſeien, und dieß gilt auch heute noch in England wie in Deutſch-
land als beſtehendes Recht. Die Pariſer Radicalen ſind natürlich von der Vor-
trefflichkeit ihrer neuen Erfindung felſenfeſt überzeugt; wir wollen ihnen dieſe Ueber-
zeugung nicht ſtören. Victor Hugo hat in einem heute von den Blättern veröffent-
lichten Schreiben an den Club der Rue d’Arras ſich dahin erklärt „das Beiſpiel zur
Annahme des „contractuellen Mandats“ zu geben, welches noch ganz anders wirk-
ſam und bindend ſei als das „imperative Mandat.“ Das contractuelle Mandat
d.h. der ſynallagmatiſche Vertrag zwiſchen dem Mandanten und dem Bevollmächtigten,
ſchaffe zwiſchen dem Wähler und dem Gewählten abſolute Identität des Ziels und
der Grundſätze. Die Wahl welche das Volk von Paris am 7 Januar treffen wird,
ſolle bedeuten: Republik, Verneinung jeder Monarchie, gleichviel welcher Form;
Amneſtie, Abſchaffung der Todesſtrafe für politiſche Vergehen und überhaupt,
Rückkehr der Nationalverſammlung nach Paris, Aufhebung des Belagerungsſtan-
des, Auflöſung der Nationalverſammlung in möglichſt kurzer Friſt.“ Die Candi-
datur Victor Hugo’s wird in der Preſſe bis jetzt nur von der „République francaiſe,“
der „Conſtitution“ und dem „Radical“ unterſtützt, während „Siècle,“ „Avenir
national,“ „Peuple Souverain“ u. a. ſich noch nicht erklärt haben. Martin Na-
daud hat ſeine Candidatur zurückgezogen, und ſo bleibt, da der General Cremer
ſelbſt in der Rue d’Arras nicht ernſt genommen wird, als radicaler Candidat nur
Victor Hugo übrig.

In dem Club der Rue d’Arras hat die von Hrn. Victor Hugo beliebte Um-
wandlung des imperativen Mandats in ein contractliches kein Glück gemacht, und
neues Mißtrauen gegen den Candidaten erregt, zumal ſeine Mitbewerber, Martin
Nadaud und General Cremer, vor dem Ausdruck „imperativ“ nicht zurückſcheuten.
Man beſchloß daher Hrn. Victor Hugo durch eine Deputation aufzufordern ſich in
Perſon nach der Rue d’Arras zu begeben, und den Wählern zu erklären wie er
denn eigentlich ſein Mandat verſtehe. Man iſt begierig ob Hr. Victor Hugo dieſer
Einladung Folge leiſten wird.

Vorgeſtern früh um 9 Uhr begaben ſich die Zeitungsredacteure Gibiat
(„Conſtitutionnel“), Louis Veuillot („Univers“), Edouard Hervé („J. de Paris“),
de Saint-Valery („Patrie“) und Eugène Rolland („Meſſager de Paris“) nach Ver-
ſailles zum Marſchall Mac-Mahon, um demſelben im Namen der conſervativen
Preß-Union die Candidatur für Paris anzutragen. Der Marſchall erklärte ebenſo
freundlich als entſchieden daß in ſeinen Augen die Functionen eines Befehlshabers
in der Armee mit denen eines Abgeordneten ſchlechterdings unvereinbar ſeien, daß
er dieſer Anſicht ſein Leben lang treu geblieben, und daher auch jetzt außer Stande
ſei eine Candidatur anzunehmen. Die Deputation mußte unverrichteter Sache
nach Paris zurückkehren. — Das „Journ. de Déb.“ veröffentlicht mehrere in-
tereſſante Schriftſtücke die ſich auf die Concilsfrage beziehen. Zunächſt folgendes
Schreiben, welches der in der Schweiz krank liegende Abbé Gratry an den Erz-
biſchof von Paris gerichtet hat:

Monſeigneur! Wenn ich nicht
ſehr krank und außer Stande wäre einen Brief zu ſchreiben, ſo hätte ich Ihnen ſchon
längſt meine Bewillkommnungswünſche dargebracht. Ich will Ihnen, Mſgr., wenig-
ſtens heut in aller Einfachheit ſagen — was meines Bedünkens, nicht einmal geſagt zu
werden brauchte — daß ich nämlich, wie alle meine Brüder im geiſtlichen Stande, die
Decrete des vaticaniſchen Concils annehme. Alles was ich hierüber vor der Entſchei-
dung geſchrieben haben kann, und das mit den Decreten unvereinbar iſt, ich ſtreiche es.
Wollen Sie mir, Mſgr., Ihren Segen ſchicken.

Darauf antwortete der Erzbiſchof Guibert.

Mein lieber Abbe! Der kurze aber bedeutungsvolle
Brief den Sie von Ihrem Krankenlager an mich richten, gereicht mir zur großen Er-
bauung und zum Troſt. Ich kannte Sie hinlänglich, um niemals an Ihrer vollkom-
menen Gelehrigkeit für die Entſcheidungen der Kirche zu zweifeln. Dieſe Unterwürfig-
keit iſt der Ruhm und die wahre Größe des Prieſters und des Biſchofs; ſie iſt auch die
einzige Sicherheit des Gewiſſens. Sie haben viel zur Vertheidigung der Wahrheit ge-
ſchrieben; aber Sie leiſten der Kirche einen größeren Dienſt indem Sie Ihre letzten
Blätter „ſtreichen,“ als wenn Sie noch weiter ſo nützliche und beredte Bücher ſchrieben,
welche den Glauben in ſo vielen Seelen geſtärkt haben. Durch dieſes edelmüthige Bei-
ſpiel bringen wir unſer Verhalten in Einklang mit unſerer Ueberzeugung, und beweiſen
der Welt daß wir aufrichtig ſind, wenn wir ſagen daß das Licht des Glaubens mächtiger
iſt als das Licht unſerer ſchwachen und wankenden Vernunft. Ich bete innigſt für die
Wiederherſtellung Ihrer Geſundheit, auf daß Sie noch ferner den Glauben vertheidigen
mögen mit dem Talent welches Sie auszeichnet, und mit dem neuen Anſehen welches
Ihnen Ihr jüngſter Unterwerfungsact verleiht. Ich ſegne Sie von ganzem Herzen,
mein lieber Abbé, und wiederhole Ihnen die Verſicherung meiner wohlwollendſten Ge-
ſinnungen.

Der Abbé Gratry hatte ſeinen Brief dem Père Hyacynthe zur Nachachtung
mitgetheilt; dieſer antwortete ihm aber von München d. d. 23 Dec. ablehnend in
einem längeren Schreiben, dem wir folgende charakteriſtiſche Stellen entnehmen:

Seien Sie überzeugt, mein Vater, es würde mich keine Ueberwindung koſten
mich äußerlich zu unterwerfen, wenn ich innerlich glauben könnte, und meinen Irrthum
vor der Welt anzuerkennen wenn ich ihn vor meinem eigenen Gewiſſen anzuerkennen
vermöchte. Ich habe niemals an meine perſönliche Unfehlbarkeit geglaubt, und es
ſcheint mir gar nicht ſo ſchwer, wie man insgemein ſagt, zu geſtehen daß man ſich in
gutem Glauben getäuſcht hat. Aber geſtatten Sie mir Ihnen zu bemerken: wenn
man ſo Aufſehen erregende Blätter geſchrieben hat wie Ihre letzten Briefe, ſo genügt
es nicht hinterher in aller Unſchuld zu ſagen daß man dieſelben „ſtreiche.“ Dazu müßten
Sie mit ebenſo leichter Hand die lichtvollen und ſchmerzlichen Spuren entfernen können
welche Ihre Briefe in den Seelen zurückgelaſſen haben. Wie, mein ehrwürdiger Vater,
es iſt nur wenige Monate her daß Sie ſich plötzlich, wie ein Prophet, in der Verwirrung
Iſraels erhoben, und uns verſicherten: „Sie hätten Befehle von Gott erhalten, und
um dieſe auszuführen, ſeien Sie bereit zu erdulden was Sie erdulden müßten!“ Sie
ſchrieben jenen eben ſo logiſchen als heredten Nachweis, den man wohl beſchimpfen,
aber nicht widerlegen kann, und nachdem Sie an der Hand der Thatſachen entwickelt
hatten daß die Frage der Unfehlbarkeit eine angefaulte ſei (es iſt dieß Ihr eigener Aus-
druck), ſtießen Sie in Ihrer heiligen Entrüſtung jenen Ruf aus der noch wiederhallt:
„Numquid Deus indiget mendacio vestro? Hat Gott Eure Lügen nöthig?“ Und
nun begnügen Sie ſich, mit einer Ungezwungenheit welche überraſchen und betrüben muß,
an Ihren Biſchof: „Ich will, Mſgr., u. ſ. w.“ Will man alſo mit der Wahrheit in
der Kirche Jeſu Chriſti umgehen?

[Spaltenumbruch]

Das Pariſer Schwurgericht verhandelte geſtern gegen mehrere Mitſchuldige
der unter der Commune vollzogenen Plünderung des Juſtizpalaſtes, der, wie man
weiß, ſchließlich in Brand geſteckt wurde. Franz Simonne, einer der Hauswächter
des Juſtizgebäudes, welcher den Sendlingen der Commune in die Hände arbeitete,
wurde zu neunjähriger Einſchließung, ſeine Mitſchuldigen Boucquemont und deſſen
Frau zu fünf-, reſp. dreijähriger Einſchließung verurtheilt.

Italien.

Die neulich von mir beſprochene „Wiederherſtellung
der Mehrheit“ hat ſofort ihren erklärenden Commentar erhalten in den Gerüchten
von einer bevorſtehenden Umbildung des Miniſteriums, welche durch die Kaffee-
häuſer und durch die Blätter ſchwirren. Die Mehrheit iſt wiederhergeſtellt, die
für ein parlamentariſches Miniſterium erforderliche Grundlage iſt wieder gegeben,
eine feſte dauerhafte Regierung wieder möglich geworden, ergo — fangen wir da-
mit an: zwei oder drei der gegenwärtigen Miniſter zu beſeitigen, und durch her-
vorragende Talente der wiederhergeſtellten Mehrheit zu erſetzen. Wozu
wäre man denn die Mehrheit, wenn man nicht das Recht hätte Mini-
ſter zu ſchaffen und abzuſchaffen, und wozu hätte man das Recht, wenn man
keinen Gebrauch davon machte? Die wiederhergeſtellte Mehrheit zeigt im Grund
eine große Rückhaltung, daß ſie den Wechſel von nur zwei oder drei Miniſtern begehrt,
und nicht den des ganzen Cabinets. Die Miniſter von deren Rücktritt man ſpricht,
ſind der Unterrichtsminiſter, der Miniſter der öffentlichen Bauten, der Juſtizminiſter.
Der erſte dieſer drei hat, als neulich ſein Fachbudget zur Berathung kam, wuchtige
Angriffe zu erleiden gehabt von Seiten des Berichterſtatters Bonghi, und er hat ſie
erlitten mit Demuth und Geduld. Doch die Entfaltung dieſer chriſtlichen Tugenden
hat das allgemeine Urtheil, welches mit ſeiner Amtsführung ſehr wenig zufrieden
iſt, nicht zu verſöhnen vermocht. Der Bautenminiſter De Vicenzi wird von den
Witzblättern Herzog von Falconara genannt, wie Rattazzi ſich einſt Herzog von
Mentana nennen laſſen mußte. Falconara iſt eine kleine Eiſenbahnſtation, wo die
Linie Rom-Ancona in die längs des Adriatiſchen Meeres laufende Bahn einmündet.
Nach dem von De Vicenzi gutgeheißenen neuen Fahrplan der italieniſchen Bahnen,
der auch in Deutſchland ſo übel vermerkt wurde, ſollten die Schnellzüge zwiſchen
Rom und Norditalien auf der adriatiſchen (ſtatt auf der toscaniſchen) Linie verkehren,
und alſo den Weg über Falconara nehmen. Aber der neue Fahrplan iſt, in Folge
des Widerſtandes den er fand, nicht in Kraft getreten; die Züge laufen nach wie
vor über Florenz, und das Städtchen Falconara hat nur die Ehre gehabt der
Niederlage eines Miniſters den Namen zu geben. Welche Sünden der Juſtizminiſter
De Falco begangen hat, vermag ich nicht zu ſagen. Uebrigens wäre es auch curios
wenn eine Mehrheit, die einen Miniſter nicht mehr mag, Gründe anzugeben hätte.
— Die franzöſiſche Regierung hat dem italieniſchen Cabinet den Wunſch zu erken-
nen gegeben es möchte in dieſem Jahre von einer Aufhebung der in Rom beſtehen-
den Klöſter Abſtand genommen werden. Allein das italieniſche Cabinet iſt gebun-
den durch die Verſprechungen die es der Kammer gegeben; nichtsdeſtoweniger will es
Rückſichten nehmen, und jenem franzöſiſchen Wunſche, ſoweit es füglich angeht, zu Ge-
fallen ſein. Der betreffende Geſetzentwurf ſoll erſt in vorgerückter Seſſion vorgelegt
werden, und einen tranſitoriſchen Charakter haben. Die General-Ordenshäuſer ſollen
dadurch nicht angetaſtet werden, das Schickſal der Klöſter welche internationaler
Natur ſind beſondern Vereinbarungen mit den betreffenden Staaten vorbehalten
bleiben, und nur die lediglich italieniſchen Klöſter zwar aufgehoben, jedoch ihr Eigen-
thum weder ganz noch theilweiſe eingekämmert, ſondern ganz und gar für Cultus-
zwecke beſtimmt werden. Wenn der Senat, dem vermuthlich der Geſetzentwurf
zunächſt unterbreitet werden wird, oder auch die Kammer den Wunſch ausdrücken
ſollte den Gegenſtand erſt in der nächſten Seſſion zu erledigen auf Grund einer
vollſtändigen Vorlage, ſo wird die Regierung ſich dazu gerne bereit finden laſſen.

Montenegro.

Der Plan des
Fürſten von Montenegro ſich eine neue — auch in ſtrategiſcher Beziehung günſtigere —
Reſidenz zu bauen, geht nun ſeiner Verwirklichung entgegen. Die Wahl des Platzes fiel
auf ein winziges Dorf, Oria Luka, welches im Thale Bielopawlowits liegt und ſich
leicht zu einer ſtarken Feſtung umgeſtalten läßt. Feſtung und Palais ſollen gleich-
zeitig in Angriff genommen werden, zum Bau erwartet man Ingenieure aus
St. Petersburg. Ob die Pforte dieſem Unternehmen gleichgültig zuſchauen
wird, iſt freilich eine andere Frage. Wenigſtens liegen Anzeichen vor daß die
ſultaniſche Regierung nicht abgeneigt iſt Reibungen zu begünſtigen, welche leicht
den beſagten Plan durchkreuzen könnten. So thut der Vali in Albanien nichts um
dem kleinen Gränzkrieg der zwiſchen den Podgoritzer Türken und den Montenegrinern
ausgebrochen iſt ein Ende zu machen. Die Streitmacht auf beiden Seiten beträgt
bei 1100 Mann, und der Gefallenen werden ſchon 18 gezählt. Dieſer aus Blutrache
entſprungene Kampf hat an und für ſich keine Bedeutung, kann aber einen ernſten
Charakter annehmen wenn die Serdars des Fürſten Nikitza Luſt dazu bekommen
follten. Es hat alſo immerhin etwas auffälliges warum die türkiſchen Behörden
nicht kräftig in dieſe Vorgänge eingreifen. — Die Gränzregulirungscommiſſion,
welche in Scutari tagte, hat ihre Arbeiten unterbrochen bis April. Der türkiſche
Commiſſär iſt nach Konſtantinopel abgereist. Dieſe Unterbrechung iſt jedoch von
keiner politiſchen Bedeutung und ſcheint ihren Grund lediglich in techniſchen Gründen
zu haben.

Griechenland.

Wie ich ſchon vor acht Tagen geſchrieben habe, ge-
ſchehen von Seiten der Deputirten alle möglichen Anſtrengungen die Sitzungen
in der Kammer hinauszuſchieben, bis ſich vielleicht ihre Reihen dichter geſchloſſen
haben werden, da trotz des Sieges über Kumunduros, der deſſen Sturz zur Folge
hatte, die jetzt regierende Partei wahrſcheinlich nicht über eine geſicherte Mehrheit
zu verfügen hat. Es kann ſo leicht geſchehen daß die Weihnachts- und Neujahrs-
feiertage vorbeigehen ehe es zu einer Sitzung kommt. Doch auch die nun zum
gemeinſamen Handeln gegen das Cabinet Zaïmis vereinigten Oppoſitionsparteien
Bulgaris, Kumunduros und Deligeorgis wollen gerade im Wegbleiben aus der
Kammer eine Demonſtration gegen dasſelbe, ſowie gegen die Kammer ſehen, die
mit der Entlaſſung des gegenwärtigen Cabinets und der Auflöſung der Kammer
endigen ſoll. (Dieſe Wendung ward bereits telegraphiſch gemeldet. D. R.) Es ſind
bisher mehr denn 160 Deputirte in Athen anweſend, und dennoch konnte die ganze

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Wollen Sie mir, M&#x017F;gr., Ihren Segen &#x017F;chicken.</p>
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&#x017F;chrieben; aber Sie lei&#x017F;ten der Kirche einen größeren Dien&#x017F;t indem Sie Ihre letzten<lb/>
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&#x017F;piel bringen wir un&#x017F;er Verhalten in Einklang mit un&#x017F;erer Ueberzeugung, und bewei&#x017F;en<lb/>
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Wiederher&#x017F;tellung Ihrer Ge&#x017F;undheit, auf daß Sie noch ferner den Glauben vertheidigen<lb/>
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vermöchte. Ich habe niemals an meine per&#x017F;önliche Unfehlbarkeit geglaubt, und es<lb/>
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gutem Glauben getäu&#x017F;cht hat. Aber ge&#x017F;tatten Sie mir Ihnen zu bemerken: wenn<lb/>
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Witzblättern Herzog von Falconara genannt, wie Rattazzi &#x017F;ich ein&#x017F;t Herzog von<lb/>
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Nach dem von De Vicenzi gutgeheißenen neuen Fahrplan der italieni&#x017F;chen Bahnen,<lb/>
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Re&#x017F;idenz zu bauen, geht nun &#x017F;einer Verwirklichung entgegen. Die Wahl des Platzes fiel<lb/>
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St. Petersburg. Ob die Pforte die&#x017F;em Unternehmen gleichgültig zu&#x017F;chauen<lb/>
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            <p>Wie ich &#x017F;chon vor acht Tagen ge&#x017F;chrieben habe, ge-<lb/>
&#x017F;chehen von Seiten der Deputirten alle möglichen An&#x017F;trengungen die Sitzungen<lb/>
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[14/0006] der Königin Eliſabeth die Uebung daß die Parlamentsmitglieder an die Inſtructionen ihrer Wähler gebunden ſeien, ja in einem Streite der Königin mit dem Parlament ſchützten die Unterhausmitglieder als Entſchuldigung für ihre Handlungsweiſe vor daß ſie mit ihren Köpfen für ihre Inſtructionen aufkommen müßten. Später aber muß dieſe Einrichtung vollſtändig außer Uebung gekommen ſein, denn Burke vertritt die Anſicht daß die Abgeordneten nach den Landesgeſetzen in keiner Weiſe an In- ſtructionen gebunden ſeien, und dieß gilt auch heute noch in England wie in Deutſch- land als beſtehendes Recht. Die Pariſer Radicalen ſind natürlich von der Vor- trefflichkeit ihrer neuen Erfindung felſenfeſt überzeugt; wir wollen ihnen dieſe Ueber- zeugung nicht ſtören. Victor Hugo hat in einem heute von den Blättern veröffent- lichten Schreiben an den Club der Rue d’Arras ſich dahin erklärt „das Beiſpiel zur Annahme des „contractuellen Mandats“ zu geben, welches noch ganz anders wirk- ſam und bindend ſei als das „imperative Mandat.“ Das contractuelle Mandat d.h. der ſynallagmatiſche Vertrag zwiſchen dem Mandanten und dem Bevollmächtigten, ſchaffe zwiſchen dem Wähler und dem Gewählten abſolute Identität des Ziels und der Grundſätze. Die Wahl welche das Volk von Paris am 7 Januar treffen wird, ſolle bedeuten: Republik, Verneinung jeder Monarchie, gleichviel welcher Form; Amneſtie, Abſchaffung der Todesſtrafe für politiſche Vergehen und überhaupt, Rückkehr der Nationalverſammlung nach Paris, Aufhebung des Belagerungsſtan- des, Auflöſung der Nationalverſammlung in möglichſt kurzer Friſt.“ Die Candi- datur Victor Hugo’s wird in der Preſſe bis jetzt nur von der „République francaiſe,“ der „Conſtitution“ und dem „Radical“ unterſtützt, während „Siècle,“ „Avenir national,“ „Peuple Souverain“ u. a. ſich noch nicht erklärt haben. Martin Na- daud hat ſeine Candidatur zurückgezogen, und ſo bleibt, da der General Cremer ſelbſt in der Rue d’Arras nicht ernſt genommen wird, als radicaler Candidat nur Victor Hugo übrig. In dem Club der Rue d’Arras hat die von Hrn. Victor Hugo beliebte Um- wandlung des imperativen Mandats in ein contractliches kein Glück gemacht, und neues Mißtrauen gegen den Candidaten erregt, zumal ſeine Mitbewerber, Martin Nadaud und General Cremer, vor dem Ausdruck „imperativ“ nicht zurückſcheuten. Man beſchloß daher Hrn. Victor Hugo durch eine Deputation aufzufordern ſich in Perſon nach der Rue d’Arras zu begeben, und den Wählern zu erklären wie er denn eigentlich ſein Mandat verſtehe. Man iſt begierig ob Hr. Victor Hugo dieſer Einladung Folge leiſten wird. Vorgeſtern früh um 9 Uhr begaben ſich die Zeitungsredacteure Gibiat („Conſtitutionnel“), Louis Veuillot („Univers“), Edouard Hervé („J. de Paris“), de Saint-Valery („Patrie“) und Eugène Rolland („Meſſager de Paris“) nach Ver- ſailles zum Marſchall Mac-Mahon, um demſelben im Namen der conſervativen Preß-Union die Candidatur für Paris anzutragen. Der Marſchall erklärte ebenſo freundlich als entſchieden daß in ſeinen Augen die Functionen eines Befehlshabers in der Armee mit denen eines Abgeordneten ſchlechterdings unvereinbar ſeien, daß er dieſer Anſicht ſein Leben lang treu geblieben, und daher auch jetzt außer Stande ſei eine Candidatur anzunehmen. Die Deputation mußte unverrichteter Sache nach Paris zurückkehren. — Das „Journ. de Déb.“ veröffentlicht mehrere in- tereſſante Schriftſtücke die ſich auf die Concilsfrage beziehen. Zunächſt folgendes Schreiben, welches der in der Schweiz krank liegende Abbé Gratry an den Erz- biſchof von Paris gerichtet hat: Montreux, Kanton Waadt, 25 Nov. 1871. Monſeigneur! Wenn ich nicht ſehr krank und außer Stande wäre einen Brief zu ſchreiben, ſo hätte ich Ihnen ſchon längſt meine Bewillkommnungswünſche dargebracht. Ich will Ihnen, Mſgr., wenig- ſtens heut in aller Einfachheit ſagen — was meines Bedünkens, nicht einmal geſagt zu werden brauchte — daß ich nämlich, wie alle meine Brüder im geiſtlichen Stande, die Decrete des vaticaniſchen Concils annehme. Alles was ich hierüber vor der Entſchei- dung geſchrieben haben kann, und das mit den Decreten unvereinbar iſt, ich ſtreiche es. Wollen Sie mir, Mſgr., Ihren Segen ſchicken. A. Gratry, Prieſter der Diöceſe Paris. Darauf antwortete der Erzbiſchof Guibert. Paris, 8 Dec. 1871. Mein lieber Abbe! Der kurze aber bedeutungsvolle Brief den Sie von Ihrem Krankenlager an mich richten, gereicht mir zur großen Er- bauung und zum Troſt. Ich kannte Sie hinlänglich, um niemals an Ihrer vollkom- menen Gelehrigkeit für die Entſcheidungen der Kirche zu zweifeln. Dieſe Unterwürfig- keit iſt der Ruhm und die wahre Größe des Prieſters und des Biſchofs; ſie iſt auch die einzige Sicherheit des Gewiſſens. Sie haben viel zur Vertheidigung der Wahrheit ge- ſchrieben; aber Sie leiſten der Kirche einen größeren Dienſt indem Sie Ihre letzten Blätter „ſtreichen,“ als wenn Sie noch weiter ſo nützliche und beredte Bücher ſchrieben, welche den Glauben in ſo vielen Seelen geſtärkt haben. Durch dieſes edelmüthige Bei- ſpiel bringen wir unſer Verhalten in Einklang mit unſerer Ueberzeugung, und beweiſen der Welt daß wir aufrichtig ſind, wenn wir ſagen daß das Licht des Glaubens mächtiger iſt als das Licht unſerer ſchwachen und wankenden Vernunft. Ich bete innigſt für die Wiederherſtellung Ihrer Geſundheit, auf daß Sie noch ferner den Glauben vertheidigen mögen mit dem Talent welches Sie auszeichnet, und mit dem neuen Anſehen welches Ihnen Ihr jüngſter Unterwerfungsact verleiht. Ich ſegne Sie von ganzem Herzen, mein lieber Abbé, und wiederhole Ihnen die Verſicherung meiner wohlwollendſten Ge- ſinnungen. J. Hippolyte, Erzbiſchof von Paris. Der Abbé Gratry hatte ſeinen Brief dem Père Hyacynthe zur Nachachtung mitgetheilt; dieſer antwortete ihm aber von München d. d. 23 Dec. ablehnend in einem längeren Schreiben, dem wir folgende charakteriſtiſche Stellen entnehmen: Seien Sie überzeugt, mein Vater, es würde mich keine Ueberwindung koſten mich äußerlich zu unterwerfen, wenn ich innerlich glauben könnte, und meinen Irrthum vor der Welt anzuerkennen wenn ich ihn vor meinem eigenen Gewiſſen anzuerkennen vermöchte. Ich habe niemals an meine perſönliche Unfehlbarkeit geglaubt, und es ſcheint mir gar nicht ſo ſchwer, wie man insgemein ſagt, zu geſtehen daß man ſich in gutem Glauben getäuſcht hat. Aber geſtatten Sie mir Ihnen zu bemerken: wenn man ſo Aufſehen erregende Blätter geſchrieben hat wie Ihre letzten Briefe, ſo genügt es nicht hinterher in aller Unſchuld zu ſagen daß man dieſelben „ſtreiche.“ Dazu müßten Sie mit ebenſo leichter Hand die lichtvollen und ſchmerzlichen Spuren entfernen können welche Ihre Briefe in den Seelen zurückgelaſſen haben. Wie, mein ehrwürdiger Vater, es iſt nur wenige Monate her daß Sie ſich plötzlich, wie ein Prophet, in der Verwirrung Iſraels erhoben, und uns verſicherten: „Sie hätten Befehle von Gott erhalten, und um dieſe auszuführen, ſeien Sie bereit zu erdulden was Sie erdulden müßten!“ Sie ſchrieben jenen eben ſo logiſchen als heredten Nachweis, den man wohl beſchimpfen, aber nicht widerlegen kann, und nachdem Sie an der Hand der Thatſachen entwickelt hatten daß die Frage der Unfehlbarkeit eine angefaulte ſei (es iſt dieß Ihr eigener Aus- druck), ſtießen Sie in Ihrer heiligen Entrüſtung jenen Ruf aus der noch wiederhallt: „Numquid Deus indiget mendacio vestro? Hat Gott Eure Lügen nöthig?“ Und nun begnügen Sie ſich, mit einer Ungezwungenheit welche überraſchen und betrüben muß, an Ihren Biſchof: „Ich will, Mſgr., u. ſ. w.“ Will man alſo mit der Wahrheit in der Kirche Jeſu Chriſti umgehen? Das Pariſer Schwurgericht verhandelte geſtern gegen mehrere Mitſchuldige der unter der Commune vollzogenen Plünderung des Juſtizpalaſtes, der, wie man weiß, ſchließlich in Brand geſteckt wurde. Franz Simonne, einer der Hauswächter des Juſtizgebäudes, welcher den Sendlingen der Commune in die Hände arbeitete, wurde zu neunjähriger Einſchließung, ſeine Mitſchuldigen Boucquemont und deſſen Frau zu fünf-, reſp. dreijähriger Einſchließung verurtheilt. Italien. # Rom, 29 Dec. Die neulich von mir beſprochene „Wiederherſtellung der Mehrheit“ hat ſofort ihren erklärenden Commentar erhalten in den Gerüchten von einer bevorſtehenden Umbildung des Miniſteriums, welche durch die Kaffee- häuſer und durch die Blätter ſchwirren. Die Mehrheit iſt wiederhergeſtellt, die für ein parlamentariſches Miniſterium erforderliche Grundlage iſt wieder gegeben, eine feſte dauerhafte Regierung wieder möglich geworden, ergo — fangen wir da- mit an: zwei oder drei der gegenwärtigen Miniſter zu beſeitigen, und durch her- vorragende Talente der wiederhergeſtellten Mehrheit zu erſetzen. Wozu wäre man denn die Mehrheit, wenn man nicht das Recht hätte Mini- ſter zu ſchaffen und abzuſchaffen, und wozu hätte man das Recht, wenn man keinen Gebrauch davon machte? Die wiederhergeſtellte Mehrheit zeigt im Grund eine große Rückhaltung, daß ſie den Wechſel von nur zwei oder drei Miniſtern begehrt, und nicht den des ganzen Cabinets. Die Miniſter von deren Rücktritt man ſpricht, ſind der Unterrichtsminiſter, der Miniſter der öffentlichen Bauten, der Juſtizminiſter. Der erſte dieſer drei hat, als neulich ſein Fachbudget zur Berathung kam, wuchtige Angriffe zu erleiden gehabt von Seiten des Berichterſtatters Bonghi, und er hat ſie erlitten mit Demuth und Geduld. Doch die Entfaltung dieſer chriſtlichen Tugenden hat das allgemeine Urtheil, welches mit ſeiner Amtsführung ſehr wenig zufrieden iſt, nicht zu verſöhnen vermocht. Der Bautenminiſter De Vicenzi wird von den Witzblättern Herzog von Falconara genannt, wie Rattazzi ſich einſt Herzog von Mentana nennen laſſen mußte. Falconara iſt eine kleine Eiſenbahnſtation, wo die Linie Rom-Ancona in die längs des Adriatiſchen Meeres laufende Bahn einmündet. Nach dem von De Vicenzi gutgeheißenen neuen Fahrplan der italieniſchen Bahnen, der auch in Deutſchland ſo übel vermerkt wurde, ſollten die Schnellzüge zwiſchen Rom und Norditalien auf der adriatiſchen (ſtatt auf der toscaniſchen) Linie verkehren, und alſo den Weg über Falconara nehmen. Aber der neue Fahrplan iſt, in Folge des Widerſtandes den er fand, nicht in Kraft getreten; die Züge laufen nach wie vor über Florenz, und das Städtchen Falconara hat nur die Ehre gehabt der Niederlage eines Miniſters den Namen zu geben. Welche Sünden der Juſtizminiſter De Falco begangen hat, vermag ich nicht zu ſagen. Uebrigens wäre es auch curios wenn eine Mehrheit, die einen Miniſter nicht mehr mag, Gründe anzugeben hätte. — Die franzöſiſche Regierung hat dem italieniſchen Cabinet den Wunſch zu erken- nen gegeben es möchte in dieſem Jahre von einer Aufhebung der in Rom beſtehen- den Klöſter Abſtand genommen werden. Allein das italieniſche Cabinet iſt gebun- den durch die Verſprechungen die es der Kammer gegeben; nichtsdeſtoweniger will es Rückſichten nehmen, und jenem franzöſiſchen Wunſche, ſoweit es füglich angeht, zu Ge- fallen ſein. Der betreffende Geſetzentwurf ſoll erſt in vorgerückter Seſſion vorgelegt werden, und einen tranſitoriſchen Charakter haben. Die General-Ordenshäuſer ſollen dadurch nicht angetaſtet werden, das Schickſal der Klöſter welche internationaler Natur ſind beſondern Vereinbarungen mit den betreffenden Staaten vorbehalten bleiben, und nur die lediglich italieniſchen Klöſter zwar aufgehoben, jedoch ihr Eigen- thum weder ganz noch theilweiſe eingekämmert, ſondern ganz und gar für Cultus- zwecke beſtimmt werden. Wenn der Senat, dem vermuthlich der Geſetzentwurf zunächſt unterbreitet werden wird, oder auch die Kammer den Wunſch ausdrücken ſollte den Gegenſtand erſt in der nächſten Seſſion zu erledigen auf Grund einer vollſtändigen Vorlage, ſo wird die Regierung ſich dazu gerne bereit finden laſſen. Montenegro. * Von der montenegriniſchen Gränze, 20 Dec. Der Plan des Fürſten von Montenegro ſich eine neue — auch in ſtrategiſcher Beziehung günſtigere — Reſidenz zu bauen, geht nun ſeiner Verwirklichung entgegen. Die Wahl des Platzes fiel auf ein winziges Dorf, Oria Luka, welches im Thale Bielopawlowits liegt und ſich leicht zu einer ſtarken Feſtung umgeſtalten läßt. Feſtung und Palais ſollen gleich- zeitig in Angriff genommen werden, zum Bau erwartet man Ingenieure aus St. Petersburg. Ob die Pforte dieſem Unternehmen gleichgültig zuſchauen wird, iſt freilich eine andere Frage. Wenigſtens liegen Anzeichen vor daß die ſultaniſche Regierung nicht abgeneigt iſt Reibungen zu begünſtigen, welche leicht den beſagten Plan durchkreuzen könnten. So thut der Vali in Albanien nichts um dem kleinen Gränzkrieg der zwiſchen den Podgoritzer Türken und den Montenegrinern ausgebrochen iſt ein Ende zu machen. Die Streitmacht auf beiden Seiten beträgt bei 1100 Mann, und der Gefallenen werden ſchon 18 gezählt. Dieſer aus Blutrache entſprungene Kampf hat an und für ſich keine Bedeutung, kann aber einen ernſten Charakter annehmen wenn die Serdars des Fürſten Nikitza Luſt dazu bekommen follten. Es hat alſo immerhin etwas auffälliges warum die türkiſchen Behörden nicht kräftig in dieſe Vorgänge eingreifen. — Die Gränzregulirungscommiſſion, welche in Scutari tagte, hat ihre Arbeiten unterbrochen bis April. Der türkiſche Commiſſär iſt nach Konſtantinopel abgereist. Dieſe Unterbrechung iſt jedoch von keiner politiſchen Bedeutung und ſcheint ihren Grund lediglich in techniſchen Gründen zu haben. Griechenland. ⦿ Athen, 23 Dec. Wie ich ſchon vor acht Tagen geſchrieben habe, ge- ſchehen von Seiten der Deputirten alle möglichen Anſtrengungen die Sitzungen in der Kammer hinauszuſchieben, bis ſich vielleicht ihre Reihen dichter geſchloſſen haben werden, da trotz des Sieges über Kumunduros, der deſſen Sturz zur Folge hatte, die jetzt regierende Partei wahrſcheinlich nicht über eine geſicherte Mehrheit zu verfügen hat. Es kann ſo leicht geſchehen daß die Weihnachts- und Neujahrs- feiertage vorbeigehen ehe es zu einer Sitzung kommt. Doch auch die nun zum gemeinſamen Handeln gegen das Cabinet Zaïmis vereinigten Oppoſitionsparteien Bulgaris, Kumunduros und Deligeorgis wollen gerade im Wegbleiben aus der Kammer eine Demonſtration gegen dasſelbe, ſowie gegen die Kammer ſehen, die mit der Entlaſſung des gegenwärtigen Cabinets und der Auflöſung der Kammer endigen ſoll. (Dieſe Wendung ward bereits telegraphiſch gemeldet. D. R.) Es ſind bisher mehr denn 160 Deputirte in Athen anweſend, und dennoch konnte die ganze

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 2, 2. Januar 1872, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine02_1872/6>, abgerufen am 03.12.2024.