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Allgemeine Zeitung. Nr. 7. München, 8. Januar 1924.

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Allgemeine Zeitung. Nr. 7. Dienstag, den 8. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

müssen. Schon spricht man wieder etwas nervös
über die Möglichkeiten einer neuen Inflation, an
der Börse und anderwärts erörtert man diese Ge-
fahren und Eventualitäten.

Hier muß den Anfängen widerstanden werden.
Die Arbeiterschaft muß sich darüber klar sein,
daß jede neue Streikbewegung die Stabilität der
Mark gefährdet, sie muß sich auch darüber klar
sein, daß jeder unnütze Streit über die Arbeits-
zeit in diesem Sinne wirkt. Ähnliche Ausgaben
obliegen dem Unternehmertum. Wir müssen in
der Gesamtwirischaft allen zersetzenden Tendenzen
entgegenarbeiten, denn auch die Zusammenhänge
zwischen Produktion und Währung müssen immer
klarer anerkannt werden, so muß durch gemein-
same Arbeit aller Volksgenossen die deutsche
Währung gestützt
werden.

Das ist die deutsche Antwort auf das Sinken
des französischen Franken.

"Reich in Not."

In einer Versamm-
lung der Deutschen Volkspartei sprach hier Reichs-
tagsabgeordneter Dr. Cremer über das
Thema "Reich in Not". Nach einem Rückblick
auf die Ereignisse, die zur Ruhrbesetzung führten,
und die Vorgänge, die später die Liquidation des
Ruhrkampfes erzwangen, beschäftigte sich Dr.
Cremer mit der Tätigkeit Dr. Strese-
manns
als Reichskanzier. An Hand des Tat-
sachenmaterials über die inner- und außerdeutsche
Politik, Wahrung der Reichseinheit, Schaffung
von Ruhe und Ordnung im Innern, Gesundung
der Währungs- und Finanzverhältnisse, An-
bahnung von Verhandlungen über eine ameri-
kanische Anleihe wies er die damagogische Hetze
gegen Stresemann als völlig unbe-
gründet
zurück.

Wenn die Staatskassen im Dezember leer wa-
ren und die Beamten nicht pünktlich ihr Gehalt
erhielten, weil durch Verzögerung der Steuer-
notverordnung die Einnahmequellen des Reiches
nicht rechtzeitig in dem notwendigen Ausmaße er-
schlossen werden konnte, so habe das deutsche Volk
diese Tatsache den unverantwortlichen Krisen-
machern zuzuschreiben.

Bei der Erörterung der neuen steuerlichen
Maßnahmen forderte Dr. Cremer neben der
Wehrpflicht der Arbeit die Wehrpflicht des
Besitzes.

Gegen Luxus und Schlemmerei.

(Eigener Bericht der
"Allg. Ztg.") Das Reichskabinett be-
schloß heute Maßnahmen gegen die Aus-
schreitungen
einzelner Deutscher in
Kurorten des Auslan des. Die amt-
liche Meldung über den Beschluß lautet:
Das Reichskabinett ist einmütig der Mei-
nung, daß mit großer Energie gegen die
Auswüchse der Vergnügungs-
und Genußsucht
gewisser Kreise einge-
schritten werden muß, wie sie insbesondere
in neutralen Kurorten in die Erscheinung
treten.

Der sächsische Ministerpräsident bleibt.

Die Nachrichtenstelle der
sächsischen Staatskanzlei meldet: Der Partei-
tag
der Sozialdemokratischen Partei hat am
6. Januar beschlossen, daß der am 4. Januar
1924 vom Landtag gewählte Ministerpräsident
Heldt zurücktreten soll.

Ministerpräsident Heldt ist nicht in der Lage,
diesem Beschluß Rechnung zu tragen. Nach Art.
27 der Verfassung hat lediglich der Land-
tag
über das Verbleiben des Ministerpräsidenten
im Amt zu entscheiden. Wollte Heldt von sich
[Spaltenumbruch] aus zurücktreten, noch ehe die neue Regierung
vollständig gebildet war, so müßte eine Unter-
brechung der Regierungsgeschäfte eintreten, für
die er die Verantwortung nicht tragen
kann.

Die Verhandlungen über die Einheitsliste in
Thüringen.

Die Verhandlungen über
die Einheitsliste, die unter dem Vorsitze
Dr. Vernick's in Weimar stattfinden, sind
noch nicht zum Abschluß gelangt. Einzelheiten
über den Stand der Verhandlungen können noch
nicht mitgeteilt werden. Alle übrigen in der
Presse verbreiteten Rachrichten sind teils ent-
stellt, teils erfunden.

Richtig ist lediglich, daß die verbotenen Par-
teien (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-
partei und Deutsch-völkische Freiheitspartei) ihre
Mitarbeit eingestellt haben.

Volksentscheid in Lübeck.

Die Linksmehrheit der
Bürgerschaft hatte dem Senat mit einfacher
Mehrheit das Mißtrauensvotum ausge-
sprochen, wodurch der Senat einen Volksent-
scheid
herbeirief, der darüber entscheiden sollte,
ob der Senat oder die Bürgerschaft zurückzutreten
habe. Nach einem sehr heftigen Wahlkampf fand
gestern der Volksentscheid statt. Er endete mit
einem Sieg des Senats gegen die vereinigten So-
zialdemokraten und Kommunisten. Von 84462
Wahlberechtigten haben 73932 abgestimmt.

Für den Senat wurden abgegeben 43747, gegen
ihn 30105 Stimmen. In der Stadt herrscht über
[Spaltenumbruch] das Ergebnis große Begeisterung. Die Folge
der Entscheidung ist, daß die Bürgerschaft binnen
45 Tagon neu zu wählen ist.

Reichsfinanzminister Dr. Luther
zur bayerischen Denkschrift.

Ein Mitglied der Redak-
tion der Deutschen Allgemeinen Zeitung hatte mit
dem Reichsfinanzminister Dr. Luther über die
bayerische Verfassungsgedenkschrift eine längere
Unterredung, die sich im wesentlichen mit der
Rückführnug der Steuerverwaltung auf die Län-
der beschäftigte. Dr. Luther wies zunächst dar-
auf hin, daß die Uebernahme der Steuerhoheit
auf das Reich einen beträchtlichen Ausfall an
Steuern gebracht hat, weil die Umstellung die
Steuerämter in ihrer Arbeit außerordentlich ge-
lähmt hat. Es sei eine Lebensfrage des deut-
schen Volkes, daß nicht jetzt wieder eine solche
Ueberlastung der Aemter eintrete, die mit einer
zeitweiligen Unterbrechung des Steuerzuflusses
verbunden wäre. Als Termin für die Rücküber-
führung nannte der Minister den 1. April 1925.

Dr. Luther verteidigte dann die Finanzverwal-
tung gegen den Vorwurf, daß sie die in sie ge-
setzten Erwartungen nicht erfüllt habe. Erst jetzt,
nachdem stabile Währungsverhältnisse geschaffen
wurden, wäre es möglich, die Leistungen des
Reichsfinanzministeriums besser zu übersehen.

Inbezug auf die Zölle erklärte Dr. Luther,
daß hier eine Aenderung der Verfassung not-
wendig wäre, während bei den direkten Steuern
die Rücküberführung auf die Länder mit ein-
[Spaltenumbruch] fachem Reichsgesetz beschlossen werden könnte. In
sachlicher Beziehung werde man bei der Auf-
teilung der Steuern zwischen Reich und Ländern
zunächst den Gedanken prüfen müssen, ob nicht
einerseits das Reich, andererseits die Länder
diejenigen Steuern erheben sollen, deren Ertrag
jedem von beiden zufließt. Dieser Grundsatz
würde zunächst bedeuten, daß die Verbrauchs-
steuern
und Zölle in unmittelbarer Reichs-
verwaltung bleiben werden. Schwieriger sei die
Frage bei den direkten Steuern. Er könne sich
keinen Zustand denken, in dem das Reich auf
die Vermögenssteuer verzichte. Das Reich
trage eben die ungeheuren Lasten aus dem Ver-
sailler Vertrag. Außerdem sei die Vermögens-
steuer für die Goldanleihe verpfändet. Eine ge-
trennte Veranlagung der Einkommenssteuer und
Vermögenssteuer erscheine sehr bedenklich und
zwar auch mit Rücksicht auf die Steuerpflichtigen.

Demokratischer Parteitag in
Württemberg.

Auf dem demokratischen Parteitag in Stutt-
gart hielt der württembergische Staatspräsi-
dent
Dr. Hieber eine bemerkenswerte Rede,
in der er sagte, daß dem in der bayerischen
Denkschrift
beanspruchten Recht der Einzel-
staaten, mit fremden Staaten wieder eigene Ver-
träge zu schließen, Bismarck eine Antwort gege-
ben hätte, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig gelassen hätte. Man müsse es hier mit
dem Worte des Freiherrn vom Stein halten: ich
kenne nur ein Vaterland und das heißt Deutsch-
land! Was den Ausnahmezustand an-
lange, so könne er in Württemberg ohne weiteres
aufgehoben werden, denn hier werde auch die
Zivilregierung dafür zu sorgen wissen, daß es
bei den bisher geordneten Zuständen bleibe. An
unruhigen Köpfen fehle es ja auch im Schwaben-
lande nicht, aber es könne den Bedarf im eigenen
Lande decken und brauche keinen Import von
Bayern oder noch weiter von Osten her (Heiter-
keit).

Reichswehrminister Dr. Geßler erklärte un-
ter anderem, die nächste Aufgabe der Reichs-
regierung sei die Schaffung der notwendigen
Klarheit über den Umfang unserer Repara-
tionsverpflichtungen.
Daneben stehe
im Vordergrund die Beseitigung der Separatisten.
Was die französische Antwortnote anlangt, so
wäre ein französisches Entgegenkommen ein
Bruch mit der ganzen bisherigen Politik Frank-
reichs und seiner ganzen geschichtlichen Ueber-
lieferung.

Bei der Besprechung der Vorgänge in München
und Dresden bemerkte Dr. Geßler, ein Gefühl
der Schmach gewinne die Oberhand, daß an sol-
chem Vorgehen selbst Männer wie Ludendorff
beteiligt waren. Wenn man die Dinge nehme,
wie sie sind, so müsse man sagen, daß der Ge-
fahrenpunkt noch nicht überwunden sei, wenn es
auch erfreulich sei, daß sich jetzt auch in Sachsen
Bürgertum und verständige Arbeiterschaft zur
Aufrechterhaltung der Ordnung zusammengetan
haben. Die Arbeiterschaft mache in diesen Ta-
gen der Wirtschaftskrise den Eindruck der Wehr-
losigkeit und das habe an anderen Stellen ein
Herrenbewußtsein groß werden lassen, das ver-
hängnisvoll und verheerend sei. Es wäre ein
Verhängnis, wenn jetzt die Arbeiterschaft nieder-
geritten werden wollte.

Das Resultat wäre ein Syndikalismus, der
vor nichts halt machen würde, am allerwenigsten
vor den Führern der Wirtschaft. Gerade jetzt
müsse sich zeigen, wer ein richtiger, weitblickender
Führer sei und über die nächstliegenden Instinkte
hinwegzukommen wisse. Das Jahr 1924 werde
kein Friedens-, sondern ein Kampfjahr sein. Ueber
die Verfassungsfrage sagte der Reichsminister,
daß die Weimarer Verfassung nur eine Art Not-
bau sein konnte, der weiter ausgestaltet werden
müsse. Aber dabei könne es nur eins geben: zu-
erst das Reich und die Einheit der Nation. Da-
mit werde auch das Interesse der einzelnen Staa-
ten am besten vertreten, die nicht leben können,
wenn das Reich zerfalle.

[Spaltenumbruch]
Der Minister sammelt für die Bundestheater.

Der Unterrichtsminister richtet einen
Aufruf an die "Gesellschaft", sie möge bei-
tragen, damit Oper und Burgtheater er-
halten bleiben. Jedem Bürger des Staates
müsse das Herzens- und Ehrensache sein
Darum werde er demnächst Vertreter der
Gesellschaft, "den Begriff in seiner weitesten
Bedeutung genommen", zu sich bitten, um
Richtlinien für die geplante Aktion fest-
zulegen.

Man will bei uns Carnegies züchten. Da
sie nicht von selber wachsen, so wird den
reichen Leuten sanft zugeredet, sie möchten
sich doch die Bürgerkrone verdienen.
Gelingt es, so war es eine gute Idee.

Saniert zu werden, wie dies zurzeit mit
uns geschieht, ist nämlich weder so einfach,
noch so restlos angenehm, wie man sich das
vielleicht vorstellt. Wir haben bekanntlich
einen "Generalkommissär des Völker-
bundes", der sein Amt nicht als Sinekure
auffaßt. Er hält den Finger fest auf den
Geldsäcken und läßt nichts "Ueberflüssiges"
geschehen. Die Decke, nach der wir uns
strecken müssen, reicht oben und unten,
rechts und links nicht. Darum hat kürzlich
der Bundeskanzler Seipel den Begriff
"Gesellschaft" erfunden und hat alte und
neue Reiche daran erinnert, daß die Sena-
toren des klassischen Rom Straßen auf ihre
Kosten bauten und den Proletariern Ge-
treide schenkten. Dieses und anderes er-
zählte er nicht ganz ohne Bitterkeit in
einem Vortrag, den er in der "Oesterreichi-
schen Politischen Gesellschaft", einem unpo-
litischen Club von Wiener Bürgern hielt.

Wirklich hatte der Appell einen starken
[Spaltenumbruch] Erfolg. Allerdings vorläufig nur einen
einzigen. Der Billionär S. Bosel er-
klärte sich bereit, der Universität zu helfen.
d. h. zu zahlen, was, trotz anerkannter Not-
wendigheit oder Nützlichkeit, der schwer
sanierte Staat nicht tragen kann. Man
berechnet, daß das dem großen Finanzier
10 bis 12 Millionen Goldkronen im Jahr
kosten kann. Ja, es gibt sogar Leute, die
zweifeln, ob er reich genug dazu ist.

Der Unterrichtsminister, wie gesagt, folgt
den Spuren seines größeren Kollegen. Er
will, wie es scheint, aber nicht die Hilfe
eines einzelnen Krösus haben, sondern die
Unterstützung vieler kleinerer Krösusse. Das
hätte das Gute, daß viele nicht so viel
stören können, wie es einer könnte.

Allerdings erzählt man sich, der Minister
habe vorher anders gedacht und ganz ein-
fach Castiglioni, dem Bosel Nr. 2, das
Defizit der Bundestheater angetragen.
Castiglioni habe verlangt, man müsse das
Burgtheater Reinhard überlassen. Darauf
ist rätselhafter Weise der Minister nicht
eingegangen. Er wäre sonst mit der finan-
ziellen zugleich auch die künstlerische Sorge
los gewesen. Und da Max Reinhard dem
Erzbischof von Salzburg klerikal genug
war, hätte er es auch der regierenden
christlichsozialen Partei sein können.

Wie dem auch sei -- es bleibt abzu-
warten, ob sich Leute finden, die die fünf-
zehn Milliarden -- eine Million Goldmark
etwa -- hergeben. Oesterreich hat keine
Orden, keine Adelstitel mehr. Um so mehr
Grund, sollte man meinen, für seine Bür-
ger, dem Staat zu helfen, der jetzt erst recht
ihr Staat ist.

[Spaltenumbruch]
Der gerettete Orphens

Wenn Glucks Himmelslieder und Höllenchöre
wirklich (einmal im Jahr) von der Berliner Hof-
bühne erklangen, dann war selbst Glucks Geister-
hand durch die ganze Stumpfheit und Allegorie
gehemmt, in der das Zeitalter Wilhelms Griechen-
land verstand; die Herren dachten an das Achil-
leion. Wenn sich im Elysium die Abgeschiedenen
mit Diskuswerfen die Ewigkeit vertrieben, so sah
man links oben -- Abteilung für Helden -- den,
der daran war, kopfschüttelnd und mit Achselzucken
stumm bedauern, daß er wieder fehl geworfen.
In Berlin und Wien, in München und Paris
mußte ich der Bühne den Rücken kehren, um
dem inneren Blick jene Dämmerlandschaften zu
erschließen, die diese schmelzende Musik erschafft,
doch auch fordert. Dies Chorwerk, in Frack und
grande toilette im Saal gesungen, schien der
Bühne verloren.

Nun ist es gerettet: Das Opernhaus in Frank-
furt hat durch eine neue Inßenierung plötzlich
den Stil gefunden, in dem sich dies fast hand-
lungslose, nach Bildern dürstende Werk vor dem
Auge so entbreitet, wie es das Ohr verlangt.
Einem Dr. Wallerstein, der hier als Gast Regie
führte, gebührt das Verdienst; ich weiß nicht, von
wo er herkommt.

Jedenfalls von der Malerei: Puvis de Cha-
vannes hat er studiert und überhaupt für Glucks
deutsch-gallische Zwischenstimmung einen Stil ge-
funden, der Ingres näher ist als Feuerbach, die
griechische Linie also mehr in Gruppen und
[Spaltenumbruch] Farben als in einzelnen Gesten und Zügen fühlt;
was nur nach Winkelmann. Cornelius und der
Greque-Leiste schmeckt, war glücklich vermieden.

Mit riesiger Vision reißt man die Hölle auf:
Michelangelos "Jüngstes Gericht" ist erstanden,
doch bewegt. Zwischen Schleiern und Dämpfen,
auf ungeheuren Treppen bergaufwärts gesteigert,
wälzen und wühlen ein paar hundert Arme und
Beine durcheinander, in schwälenden Purpur, ge-
waltig kämpfende Furien, deren Einzelschicksal
aufgehoben, die zu Klumpen geballt in brennen-
dem Haß Erlösung zu suchen scheinen; und man
gedenkt Botticellis erstaunlicher Zeichnungen zu
Dantes Inferno. Dann, wie sie beim ersten Ein-
satz der blau belichteten Triolen sich zu rühren
scheinen, wie diese gefesselten Tiere das Mitgefühl
überrascht und an die Stelle ihres hingestampften
"Nein" ein Wunsch tritt, dem Sterblichen die
Wege dennoch zu bereiten: da bilden diese Arme,
diese Beine eine Gasse -- und von hoch oben
schreitet der Sänger abwärts.

Elysium aber ist eine Wiese am Meer. Nord-
lichtartig, doch unter dieser Hochebene gedacht als
irdisch hinaufstrahlendes Gestirn, so schickt die
Sonne den Orangestern ihrer Strahlen empor.
Was sich nun hier, vorher und später, an Frauen
schreitend bewegt, wird nur durch ständig ver-
schobene Lichter in Farben verwandelt und so in
zartesten Varianten von Seegrün, Königsblau,
Karmesin gleitend geschmückt. Unwirklich, nicht zu
fangen, immer einander verwandt wie fern: so
erhebt sichs vor dem Auge und kommentiert diese
Himmelsmusiken, die der Meister "Ballet" 1, 2,
3, 4 nennt -- und die in Wahrheit den einzigen
Opernversuch darstellen, jene andere Welt zu
[Spaltenumbruch] bannen in Tönen, wie es Goethes Pandora gegen
Ende in Worten gelang.

Da kommt lautlos ein Boot geglitten, es landet
neun Paare; Jünglinge, von Frauen fast hüllen-
los dargestellt, schweben über die Blumen hin,
und wie alles am Ende fort ist, bleibt noch ein
Kranz von Kindern, Girlanden windend, allein
inmitten der einsam schweigenden Wiese zurück.
Die findet Orpheus, und wie er, außerhalb des
Bühnenrahmens, heraufsteigt, wird die Wande-
rung vom Inferno her deutlich.

Dann verengt sich im anderen Akte die hoch-
stilisierte Treppenlandschaft zum großen Duo, in
blau leuchtendem Rahmen jagen und zögern die
beiden getrennten Vereinten über die Stufen,
aber das Tempo agitato der Szene wird durch
Wolkenzüge gekräftigt, die schmal zwischen hohen
Vorhängen vorüberziehen.

Als dann endlich die ergreifend heiteren Akkorde
siegen (und das Publikum schon erlöst in die
Garderoben eilen wollte), schlug der Vorhang vor
einer neuen Ueberraschung auseinander: jetzt, da
die Liebenden sich halten dürfen, herrscht Dionysos,
und ein Fangen und Haschen von fellumschlage-
nen, thyrsostragenden Paaren hebt an, das die
lange Mollstimmung in ein schimmerndes Dur
erlöst; bis ein Schlußbild -- mir schien es ver-
unglückt -- in allzu grellem Lichte nach so viel
gnädiger Dämmerung die Gewöhnlichkeit sterb-
licher Züge enthüllt.

Eine holde Legende läßt Gluck, als er das
Elysium schrieb, den Flügel auf die Wiese vor
seinem Hause befehlen, dazu eine Flasche Cham-
pagner. Etwas von der überglänzten Erotik, von
dieser Corregio-Musik, die vor ihm höchstens ge-
[Spaltenumbruch] malt wurde, hat den Neuentdecker des auch hohen
Werkes beschwingt. Seit uns die Russen vor
einem Dutzend Jahren ihre neue Tanzkunst wie-
sen, habe ich nichts so überraschend Gelungenes
im Tanz gesehen, als diesen Frankfurter Orpheus.

Frankfurt, im Dezember.

Seemannsleben.

Seemannsleben ... Nicht jeder kann festen
Herzens den Gefahren trotzen; nicht jeder erträgt
die furchtbare Mühsal -- zum Seemann muß man
geboren sein. -- Das hab ich auf dem Bodensee-
dampferli "Suchard" der Schweizer Flotte oft
beobachten können.

In grausem Schneewehen wie unter glühender
Tropensonne heißt es den Fahrplan einhalten
ab Reichenau 3 Uhr 10, an Konstanz 4.32.

Im Meridian von Mannenbach sind die tük-
kischen Zackenriffe; da bräut der Tod rechts und
links; eine Seemeile zu weit nach Backbord, und
das stolze Schiff ist auf der Veranda des Kur-
hotels gestrandet.

Bei Ermatting gurgeln die schauerlichen Stru-
del; wenn Einem da die Wurststulle hineinfällt,
ist sie unrettbar verloren.

In der Grätsche auf zwei mächtigen Säulen
steht der sturmererobte Kapitän auf der Kom-
mandobrücke, selbst ein Granitblock. Er äugt in
die ferne Kimmung, ob da nicht ein Flaumwölk-
chen das Nahen des Orkans verrate; doch auch die
geringste Regung auf Deck entgeht seinem Scharf-
blick nicht.

"Volldampf voraus!" ruft er ins Sprachrohr.
Mächtigbrausend peitscht die Schraube die Fluten,
die Kielwelle brandet hinten nach. -- Jagt die

Allgemeine Zeitung. Nr. 7. Dienstag, den 8. Januar 1924.
[Spaltenumbruch]

müſſen. Schon ſpricht man wieder etwas nervös
über die Möglichkeiten einer neuen Inflation, an
der Börſe und anderwärts erörtert man dieſe Ge-
fahren und Eventualitäten.

Hier muß den Anfängen widerſtanden werden.
Die Arbeiterſchaft muß ſich darüber klar ſein,
daß jede neue Streikbewegung die Stabilität der
Mark gefährdet, ſie muß ſich auch darüber klar
ſein, daß jeder unnütze Streit über die Arbeits-
zeit in dieſem Sinne wirkt. Ähnliche Auſgaben
obliegen dem Unternehmertum. Wir müſſen in
der Geſamtwiriſchaft allen zerſetzenden Tendenzen
entgegenarbeiten, denn auch die Zuſammenhänge
zwiſchen Produktion und Währung müſſen immer
klarer anerkannt werden, ſo muß durch gemein-
ſame Arbeit aller Volksgenoſſen die deutſche
Währung geſtützt
werden.

Das iſt die deutſche Antwort auf das Sinken
des franzöſiſchen Franken.

„Reich in Not.“

In einer Verſamm-
lung der Deutſchen Volkspartei ſprach hier Reichs-
tagsabgeordneter Dr. Cremer über das
Thema „Reich in Not“. Nach einem Rückblick
auf die Ereigniſſe, die zur Ruhrbeſetzung führten,
und die Vorgänge, die ſpäter die Liquidation des
Ruhrkampfes erzwangen, beſchäftigte ſich Dr.
Cremer mit der Tätigkeit Dr. Streſe-
manns
als Reichskanzier. An Hand des Tat-
ſachenmaterials über die inner- und außerdeutſche
Politik, Wahrung der Reichseinheit, Schaffung
von Ruhe und Ordnung im Innern, Geſundung
der Währungs- und Finanzverhältniſſe, An-
bahnung von Verhandlungen über eine ameri-
kaniſche Anleihe wies er die damagogiſche Hetze
gegen Streſemann als völlig unbe-
gründet
zurück.

Wenn die Staatskaſſen im Dezember leer wa-
ren und die Beamten nicht pünktlich ihr Gehalt
erhielten, weil durch Verzögerung der Steuer-
notverordnung die Einnahmequellen des Reiches
nicht rechtzeitig in dem notwendigen Ausmaße er-
ſchloſſen werden konnte, ſo habe das deutſche Volk
dieſe Tatſache den unverantwortlichen Kriſen-
machern zuzuſchreiben.

Bei der Erörterung der neuen ſteuerlichen
Maßnahmen forderte Dr. Cremer neben der
Wehrpflicht der Arbeit die Wehrpflicht des
Beſitzes.

Gegen Luxus und Schlemmerei.

(Eigener Bericht der
„Allg. Ztg.“) Das Reichskabinett be-
ſchloß heute Maßnahmen gegen die Aus-
ſchreitungen
einzelner Deutſcher in
Kurorten des Auslan des. Die amt-
liche Meldung über den Beſchluß lautet:
Das Reichskabinett iſt einmütig der Mei-
nung, daß mit großer Energie gegen die
Auswüchſe der Vergnügungs-
und Genußſucht
gewiſſer Kreiſe einge-
ſchritten werden muß, wie ſie insbeſondere
in neutralen Kurorten in die Erſcheinung
treten.

Der ſächſiſche Miniſterpräſident bleibt.

Die Nachrichtenſtelle der
ſächſiſchen Staatskanzlei meldet: Der Partei-
tag
der Sozialdemokratiſchen Partei hat am
6. Januar beſchloſſen, daß der am 4. Januar
1924 vom Landtag gewählte Miniſterpräſident
Heldt zurücktreten ſoll.

Miniſterpräſident Heldt iſt nicht in der Lage,
dieſem Beſchluß Rechnung zu tragen. Nach Art.
27 der Verfaſſung hat lediglich der Land-
tag
über das Verbleiben des Miniſterpräſidenten
im Amt zu entſcheiden. Wollte Heldt von ſich
[Spaltenumbruch] aus zurücktreten, noch ehe die neue Regierung
vollſtändig gebildet war, ſo müßte eine Unter-
brechung der Regierungsgeſchäfte eintreten, für
die er die Verantwortung nicht tragen
kann.

Die Verhandlungen über die Einheitsliſte in
Thüringen.

Die Verhandlungen über
die Einheitsliſte, die unter dem Vorſitze
Dr. Vernick’s in Weimar ſtattfinden, ſind
noch nicht zum Abſchluß gelangt. Einzelheiten
über den Stand der Verhandlungen können noch
nicht mitgeteilt werden. Alle übrigen in der
Preſſe verbreiteten Rachrichten ſind teils ent-
ſtellt, teils erfunden.

Richtig iſt lediglich, daß die verbotenen Par-
teien (Nationalſozialiſtiſche Deutſche Arbeiter-
partei und Deutſch-völkiſche Freiheitspartei) ihre
Mitarbeit eingeſtellt haben.

Volksentſcheid in Lübeck.

Die Linksmehrheit der
Bürgerſchaft hatte dem Senat mit einfacher
Mehrheit das Mißtrauensvotum ausge-
ſprochen, wodurch der Senat einen Volksent-
ſcheid
herbeirief, der darüber entſcheiden ſollte,
ob der Senat oder die Bürgerſchaft zurückzutreten
habe. Nach einem ſehr heftigen Wahlkampf fand
geſtern der Volksentſcheid ſtatt. Er endete mit
einem Sieg des Senats gegen die vereinigten So-
zialdemokraten und Kommuniſten. Von 84462
Wahlberechtigten haben 73932 abgeſtimmt.

Für den Senat wurden abgegeben 43747, gegen
ihn 30105 Stimmen. In der Stadt herrſcht über
[Spaltenumbruch] das Ergebnis große Begeiſterung. Die Folge
der Entſcheidung iſt, daß die Bürgerſchaft binnen
45 Tagon neu zu wählen iſt.

Reichsfinanzminiſter Dr. Luther
zur bayeriſchen Denkſchrift.

Ein Mitglied der Redak-
tion der Deutſchen Allgemeinen Zeitung hatte mit
dem Reichsfinanzminiſter Dr. Luther über die
bayeriſche Verfaſſungsgedenkſchrift eine längere
Unterredung, die ſich im weſentlichen mit der
Rückführnug der Steuerverwaltung auf die Län-
der beſchäftigte. Dr. Luther wies zunächſt dar-
auf hin, daß die Uebernahme der Steuerhoheit
auf das Reich einen beträchtlichen Ausfall an
Steuern gebracht hat, weil die Umſtellung die
Steuerämter in ihrer Arbeit außerordentlich ge-
lähmt hat. Es ſei eine Lebensfrage des deut-
ſchen Volkes, daß nicht jetzt wieder eine ſolche
Ueberlaſtung der Aemter eintrete, die mit einer
zeitweiligen Unterbrechung des Steuerzufluſſes
verbunden wäre. Als Termin für die Rücküber-
führung nannte der Miniſter den 1. April 1925.

Dr. Luther verteidigte dann die Finanzverwal-
tung gegen den Vorwurf, daß ſie die in ſie ge-
ſetzten Erwartungen nicht erfüllt habe. Erſt jetzt,
nachdem ſtabile Währungsverhältniſſe geſchaffen
wurden, wäre es möglich, die Leiſtungen des
Reichsfinanzminiſteriums beſſer zu überſehen.

Inbezug auf die Zölle erklärte Dr. Luther,
daß hier eine Aenderung der Verfaſſung not-
wendig wäre, während bei den direkten Steuern
die Rücküberführung auf die Länder mit ein-
[Spaltenumbruch] fachem Reichsgeſetz beſchloſſen werden könnte. In
ſachlicher Beziehung werde man bei der Auf-
teilung der Steuern zwiſchen Reich und Ländern
zunächſt den Gedanken prüfen müſſen, ob nicht
einerſeits das Reich, andererſeits die Länder
diejenigen Steuern erheben ſollen, deren Ertrag
jedem von beiden zufließt. Dieſer Grundſatz
würde zunächſt bedeuten, daß die Verbrauchs-
ſteuern
und Zölle in unmittelbarer Reichs-
verwaltung bleiben werden. Schwieriger ſei die
Frage bei den direkten Steuern. Er könne ſich
keinen Zuſtand denken, in dem das Reich auf
die Vermögensſteuer verzichte. Das Reich
trage eben die ungeheuren Laſten aus dem Ver-
ſailler Vertrag. Außerdem ſei die Vermögens-
ſteuer für die Goldanleihe verpfändet. Eine ge-
trennte Veranlagung der Einkommensſteuer und
Vermögensſteuer erſcheine ſehr bedenklich und
zwar auch mit Rückſicht auf die Steuerpflichtigen.

Demokratiſcher Parteitag in
Württemberg.

Auf dem demokratiſchen Parteitag in Stutt-
gart hielt der württembergiſche Staatspräſi-
dent
Dr. Hieber eine bemerkenswerte Rede,
in der er ſagte, daß dem in der bayeriſchen
Denkſchrift
beanſpruchten Recht der Einzel-
ſtaaten, mit fremden Staaten wieder eigene Ver-
träge zu ſchließen, Bismarck eine Antwort gege-
ben hätte, die an Deutlichkeit nichts zu wünſchen
übrig gelaſſen hätte. Man müſſe es hier mit
dem Worte des Freiherrn vom Stein halten: ich
kenne nur ein Vaterland und das heißt Deutſch-
land! Was den Ausnahmezuſtand an-
lange, ſo könne er in Württemberg ohne weiteres
aufgehoben werden, denn hier werde auch die
Zivilregierung dafür zu ſorgen wiſſen, daß es
bei den bisher geordneten Zuſtänden bleibe. An
unruhigen Köpfen fehle es ja auch im Schwaben-
lande nicht, aber es könne den Bedarf im eigenen
Lande decken und brauche keinen Import von
Bayern oder noch weiter von Oſten her (Heiter-
keit).

Reichswehrminiſter Dr. Geßler erklärte un-
ter anderem, die nächſte Aufgabe der Reichs-
regierung ſei die Schaffung der notwendigen
Klarheit über den Umfang unſerer Repara-
tionsverpflichtungen.
Daneben ſtehe
im Vordergrund die Beſeitigung der Separatiſten.
Was die franzöſiſche Antwortnote anlangt, ſo
wäre ein franzöſiſches Entgegenkommen ein
Bruch mit der ganzen bisherigen Politik Frank-
reichs und ſeiner ganzen geſchichtlichen Ueber-
lieferung.

Bei der Beſprechung der Vorgänge in München
und Dresden bemerkte Dr. Geßler, ein Gefühl
der Schmach gewinne die Oberhand, daß an ſol-
chem Vorgehen ſelbſt Männer wie Ludendorff
beteiligt waren. Wenn man die Dinge nehme,
wie ſie ſind, ſo müſſe man ſagen, daß der Ge-
fahrenpunkt noch nicht überwunden ſei, wenn es
auch erfreulich ſei, daß ſich jetzt auch in Sachſen
Bürgertum und verſtändige Arbeiterſchaft zur
Aufrechterhaltung der Ordnung zuſammengetan
haben. Die Arbeiterſchaft mache in dieſen Ta-
gen der Wirtſchaftskriſe den Eindruck der Wehr-
loſigkeit und das habe an anderen Stellen ein
Herrenbewußtſein groß werden laſſen, das ver-
hängnisvoll und verheerend ſei. Es wäre ein
Verhängnis, wenn jetzt die Arbeiterſchaft nieder-
geritten werden wollte.

Das Reſultat wäre ein Syndikalismus, der
vor nichts halt machen würde, am allerwenigſten
vor den Führern der Wirtſchaft. Gerade jetzt
müſſe ſich zeigen, wer ein richtiger, weitblickender
Führer ſei und über die nächſtliegenden Inſtinkte
hinwegzukommen wiſſe. Das Jahr 1924 werde
kein Friedens-, ſondern ein Kampfjahr ſein. Ueber
die Verfaſſungsfrage ſagte der Reichsminiſter,
daß die Weimarer Verfaſſung nur eine Art Not-
bau ſein konnte, der weiter ausgeſtaltet werden
müſſe. Aber dabei könne es nur eins geben: zu-
erſt das Reich und die Einheit der Nation. Da-
mit werde auch das Intereſſe der einzelnen Staa-
ten am beſten vertreten, die nicht leben können,
wenn das Reich zerfalle.

[Spaltenumbruch]
Der Miniſter ſammelt für die Bundestheater.

Der Unterrichtsminiſter richtet einen
Aufruf an die „Geſellſchaft“, ſie möge bei-
tragen, damit Oper und Burgtheater er-
halten bleiben. Jedem Bürger des Staates
müſſe das Herzens- und Ehrenſache ſein
Darum werde er demnächſt Vertreter der
Geſellſchaft, „den Begriff in ſeiner weiteſten
Bedeutung genommen“, zu ſich bitten, um
Richtlinien für die geplante Aktion feſt-
zulegen.

Man will bei uns Carnegies züchten. Da
ſie nicht von ſelber wachſen, ſo wird den
reichen Leuten ſanft zugeredet, ſie möchten
ſich doch die Bürgerkrone verdienen.
Gelingt es, ſo war es eine gute Idee.

Saniert zu werden, wie dies zurzeit mit
uns geſchieht, iſt nämlich weder ſo einfach,
noch ſo reſtlos angenehm, wie man ſich das
vielleicht vorſtellt. Wir haben bekanntlich
einen „Generalkommiſſär des Völker-
bundes“, der ſein Amt nicht als Sinekure
auffaßt. Er hält den Finger feſt auf den
Geldſäcken und läßt nichts „Ueberflüſſiges“
geſchehen. Die Decke, nach der wir uns
ſtrecken müſſen, reicht oben und unten,
rechts und links nicht. Darum hat kürzlich
der Bundeskanzler Seipel den Begriff
„Geſellſchaft“ erfunden und hat alte und
neue Reiche daran erinnert, daß die Sena-
toren des klaſſiſchen Rom Straßen auf ihre
Koſten bauten und den Proletariern Ge-
treide ſchenkten. Dieſes und anderes er-
zählte er nicht ganz ohne Bitterkeit in
einem Vortrag, den er in der „Oeſterreichi-
ſchen Politiſchen Geſellſchaft“, einem unpo-
litiſchen Club von Wiener Bürgern hielt.

Wirklich hatte der Appell einen ſtarken
[Spaltenumbruch] Erfolg. Allerdings vorläufig nur einen
einzigen. Der Billionär S. Boſel er-
klärte ſich bereit, der Univerſität zu helfen.
d. h. zu zahlen, was, trotz anerkannter Not-
wendigheit oder Nützlichkeit, der ſchwer
ſanierte Staat nicht tragen kann. Man
berechnet, daß das dem großen Finanzier
10 bis 12 Millionen Goldkronen im Jahr
koſten kann. Ja, es gibt ſogar Leute, die
zweifeln, ob er reich genug dazu iſt.

Der Unterrichtsminiſter, wie geſagt, folgt
den Spuren ſeines größeren Kollegen. Er
will, wie es ſcheint, aber nicht die Hilfe
eines einzelnen Kröſus haben, ſondern die
Unterſtützung vieler kleinerer Kröſuſſe. Das
hätte das Gute, daß viele nicht ſo viel
ſtören können, wie es einer könnte.

Allerdings erzählt man ſich, der Miniſter
habe vorher anders gedacht und ganz ein-
fach Caſtiglioni, dem Boſel Nr. 2, das
Defizit der Bundestheater angetragen.
Caſtiglioni habe verlangt, man müſſe das
Burgtheater Reinhard überlaſſen. Darauf
iſt rätſelhafter Weiſe der Miniſter nicht
eingegangen. Er wäre ſonſt mit der finan-
ziellen zugleich auch die künſtleriſche Sorge
los geweſen. Und da Max Reinhard dem
Erzbiſchof von Salzburg klerikal genug
war, hätte er es auch der regierenden
chriſtlichſozialen Partei ſein können.

Wie dem auch ſei — es bleibt abzu-
warten, ob ſich Leute finden, die die fünf-
zehn Milliarden — eine Million Goldmark
etwa — hergeben. Oeſterreich hat keine
Orden, keine Adelstitel mehr. Um ſo mehr
Grund, ſollte man meinen, für ſeine Bür-
ger, dem Staat zu helfen, der jetzt erſt recht
ihr Staat iſt.

[Spaltenumbruch]
Der gerettete Orphens

Wenn Glucks Himmelslieder und Höllenchöre
wirklich (einmal im Jahr) von der Berliner Hof-
bühne erklangen, dann war ſelbſt Glucks Geiſter-
hand durch die ganze Stumpfheit und Allegorie
gehemmt, in der das Zeitalter Wilhelms Griechen-
land verſtand; die Herren dachten an das Achil-
leion. Wenn ſich im Elyſium die Abgeſchiedenen
mit Diskuswerfen die Ewigkeit vertrieben, ſo ſah
man links oben — Abteilung für Helden — den,
der daran war, kopfſchüttelnd und mit Achſelzucken
ſtumm bedauern, daß er wieder fehl geworfen.
In Berlin und Wien, in München und Paris
mußte ich der Bühne den Rücken kehren, um
dem inneren Blick jene Dämmerlandſchaften zu
erſchließen, die dieſe ſchmelzende Muſik erſchafft,
doch auch fordert. Dies Chorwerk, in Frack und
grande toilette im Saal geſungen, ſchien der
Bühne verloren.

Nun iſt es gerettet: Das Opernhaus in Frank-
furt hat durch eine neue Inſzenierung plötzlich
den Stil gefunden, in dem ſich dies faſt hand-
lungsloſe, nach Bildern dürſtende Werk vor dem
Auge ſo entbreitet, wie es das Ohr verlangt.
Einem Dr. Wallerſtein, der hier als Gaſt Regie
führte, gebührt das Verdienſt; ich weiß nicht, von
wo er herkommt.

Jedenfalls von der Malerei: Puvis de Cha-
vannes hat er ſtudiert und überhaupt für Glucks
deutſch-galliſche Zwiſchenſtimmung einen Stil ge-
funden, der Ingres näher iſt als Feuerbach, die
griechiſche Linie alſo mehr in Gruppen und
[Spaltenumbruch] Farben als in einzelnen Geſten und Zügen fühlt;
was nur nach Winkelmann. Cornelius und der
Greque-Leiſte ſchmeckt, war glücklich vermieden.

Mit rieſiger Viſion reißt man die Hölle auf:
Michelangelos „Jüngſtes Gericht“ iſt erſtanden,
doch bewegt. Zwiſchen Schleiern und Dämpfen,
auf ungeheuren Treppen bergaufwärts geſteigert,
wälzen und wühlen ein paar hundert Arme und
Beine durcheinander, in ſchwälenden Purpur, ge-
waltig kämpfende Furien, deren Einzelſchickſal
aufgehoben, die zu Klumpen geballt in brennen-
dem Haß Erlöſung zu ſuchen ſcheinen; und man
gedenkt Botticellis erſtaunlicher Zeichnungen zu
Dantes Inferno. Dann, wie ſie beim erſten Ein-
ſatz der blau belichteten Triolen ſich zu rühren
ſcheinen, wie dieſe gefeſſelten Tiere das Mitgefühl
überraſcht und an die Stelle ihres hingeſtampften
„Nein“ ein Wunſch tritt, dem Sterblichen die
Wege dennoch zu bereiten: da bilden dieſe Arme,
dieſe Beine eine Gaſſe — und von hoch oben
ſchreitet der Sänger abwärts.

Elyſium aber iſt eine Wieſe am Meer. Nord-
lichtartig, doch unter dieſer Hochebene gedacht als
irdiſch hinaufſtrahlendes Geſtirn, ſo ſchickt die
Sonne den Orangeſtern ihrer Strahlen empor.
Was ſich nun hier, vorher und ſpäter, an Frauen
ſchreitend bewegt, wird nur durch ſtändig ver-
ſchobene Lichter in Farben verwandelt und ſo in
zarteſten Varianten von Seegrün, Königsblau,
Karmeſin gleitend geſchmückt. Unwirklich, nicht zu
fangen, immer einander verwandt wie fern: ſo
erhebt ſichs vor dem Auge und kommentiert dieſe
Himmelsmuſiken, die der Meiſter „Ballet“ 1, 2,
3, 4 nennt — und die in Wahrheit den einzigen
Opernverſuch darſtellen, jene andere Welt zu
[Spaltenumbruch] bannen in Tönen, wie es Goethes Pandora gegen
Ende in Worten gelang.

Da kommt lautlos ein Boot geglitten, es landet
neun Paare; Jünglinge, von Frauen faſt hüllen-
los dargeſtellt, ſchweben über die Blumen hin,
und wie alles am Ende fort iſt, bleibt noch ein
Kranz von Kindern, Girlanden windend, allein
inmitten der einſam ſchweigenden Wieſe zurück.
Die findet Orpheus, und wie er, außerhalb des
Bühnenrahmens, heraufſteigt, wird die Wande-
rung vom Inferno her deutlich.

Dann verengt ſich im anderen Akte die hoch-
ſtiliſierte Treppenlandſchaft zum großen Duo, in
blau leuchtendem Rahmen jagen und zögern die
beiden getrennten Vereinten über die Stufen,
aber das Tempo agitato der Szene wird durch
Wolkenzüge gekräftigt, die ſchmal zwiſchen hohen
Vorhängen vorüberziehen.

Als dann endlich die ergreifend heiteren Akkorde
ſiegen (und das Publikum ſchon erlöſt in die
Garderoben eilen wollte), ſchlug der Vorhang vor
einer neuen Ueberraſchung auseinander: jetzt, da
die Liebenden ſich halten dürfen, herrſcht Dionyſos,
und ein Fangen und Haſchen von fellumſchlage-
nen, thyrſostragenden Paaren hebt an, das die
lange Mollſtimmung in ein ſchimmerndes Dur
erlöſt; bis ein Schlußbild — mir ſchien es ver-
unglückt — in allzu grellem Lichte nach ſo viel
gnädiger Dämmerung die Gewöhnlichkeit ſterb-
licher Züge enthüllt.

Eine holde Legende läßt Gluck, als er das
Elyſium ſchrieb, den Flügel auf die Wieſe vor
ſeinem Hauſe befehlen, dazu eine Flaſche Cham-
pagner. Etwas von der überglänzten Erotik, von
dieſer Corregio-Muſik, die vor ihm höchſtens ge-
[Spaltenumbruch] malt wurde, hat den Neuentdecker des auch hohen
Werkes beſchwingt. Seit uns die Ruſſen vor
einem Dutzend Jahren ihre neue Tanzkunſt wie-
ſen, habe ich nichts ſo überraſchend Gelungenes
im Tanz geſehen, als dieſen Frankfurter Orpheus.

Frankfurt, im Dezember.

Seemannsleben.

Seemannsleben ... Nicht jeder kann feſten
Herzens den Gefahren trotzen; nicht jeder erträgt
die furchtbare Mühſal — zum Seemann muß man
geboren ſein. — Das hab ich auf dem Bodenſee-
dampferli „Suchard“ der Schweizer Flotte oft
beobachten können.

In grauſem Schneewehen wie unter glühender
Tropenſonne heißt es den Fahrplan einhalten
ab Reichenau 3 Uhr 10, an Konſtanz 4.32.

Im Meridian von Mannenbach ſind die tük-
kiſchen Zackenriffe; da bräut der Tod rechts und
links; eine Seemeile zu weit nach Backbord, und
das ſtolze Schiff iſt auf der Veranda des Kur-
hotels geſtrandet.

Bei Ermatting gurgeln die ſchauerlichen Stru-
del; wenn Einem da die Wurſtſtulle hineinfällt,
iſt ſie unrettbar verloren.

In der Grätſche auf zwei mächtigen Säulen
ſteht der ſturmererobte Kapitän auf der Kom-
mandobrücke, ſelbſt ein Granitblock. Er äugt in
die ferne Kimmung, ob da nicht ein Flaumwölk-
chen das Nahen des Orkans verrate; doch auch die
geringſte Regung auf Deck entgeht ſeinem Scharf-
blick nicht.

„Volldampf voraus!“ ruft er ins Sprachrohr.
Mächtigbrauſend peitſcht die Schraube die Fluten,
die Kielwelle brandet hinten nach. — Jagt die

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</TEI>
[2/0002] Allgemeine Zeitung. Nr. 7. Dienstag, den 8. Januar 1924. müſſen. Schon ſpricht man wieder etwas nervös über die Möglichkeiten einer neuen Inflation, an der Börſe und anderwärts erörtert man dieſe Ge- fahren und Eventualitäten. Hier muß den Anfängen widerſtanden werden. Die Arbeiterſchaft muß ſich darüber klar ſein, daß jede neue Streikbewegung die Stabilität der Mark gefährdet, ſie muß ſich auch darüber klar ſein, daß jeder unnütze Streit über die Arbeits- zeit in dieſem Sinne wirkt. Ähnliche Auſgaben obliegen dem Unternehmertum. Wir müſſen in der Geſamtwiriſchaft allen zerſetzenden Tendenzen entgegenarbeiten, denn auch die Zuſammenhänge zwiſchen Produktion und Währung müſſen immer klarer anerkannt werden, ſo muß durch gemein- ſame Arbeit aller Volksgenoſſen die deutſche Währung geſtützt werden. Das iſt die deutſche Antwort auf das Sinken des franzöſiſchen Franken. „Reich in Not.“ Königsberg, 7. Januar. In einer Verſamm- lung der Deutſchen Volkspartei ſprach hier Reichs- tagsabgeordneter Dr. Cremer über das Thema „Reich in Not“. Nach einem Rückblick auf die Ereigniſſe, die zur Ruhrbeſetzung führten, und die Vorgänge, die ſpäter die Liquidation des Ruhrkampfes erzwangen, beſchäftigte ſich Dr. Cremer mit der Tätigkeit Dr. Streſe- manns als Reichskanzier. An Hand des Tat- ſachenmaterials über die inner- und außerdeutſche Politik, Wahrung der Reichseinheit, Schaffung von Ruhe und Ordnung im Innern, Geſundung der Währungs- und Finanzverhältniſſe, An- bahnung von Verhandlungen über eine ameri- kaniſche Anleihe wies er die damagogiſche Hetze gegen Streſemann als völlig unbe- gründet zurück. Wenn die Staatskaſſen im Dezember leer wa- ren und die Beamten nicht pünktlich ihr Gehalt erhielten, weil durch Verzögerung der Steuer- notverordnung die Einnahmequellen des Reiches nicht rechtzeitig in dem notwendigen Ausmaße er- ſchloſſen werden konnte, ſo habe das deutſche Volk dieſe Tatſache den unverantwortlichen Kriſen- machern zuzuſchreiben. Bei der Erörterung der neuen ſteuerlichen Maßnahmen forderte Dr. Cremer neben der Wehrpflicht der Arbeit die Wehrpflicht des Beſitzes. Gegen Luxus und Schlemmerei. * Berlin, 7. Januar. (Eigener Bericht der „Allg. Ztg.“) Das Reichskabinett be- ſchloß heute Maßnahmen gegen die Aus- ſchreitungen einzelner Deutſcher in Kurorten des Auslan des. Die amt- liche Meldung über den Beſchluß lautet: Das Reichskabinett iſt einmütig der Mei- nung, daß mit großer Energie gegen die Auswüchſe der Vergnügungs- und Genußſucht gewiſſer Kreiſe einge- ſchritten werden muß, wie ſie insbeſondere in neutralen Kurorten in die Erſcheinung treten. Der ſächſiſche Miniſterpräſident bleibt. Dresden, 7. Januar. Die Nachrichtenſtelle der ſächſiſchen Staatskanzlei meldet: Der Partei- tag der Sozialdemokratiſchen Partei hat am 6. Januar beſchloſſen, daß der am 4. Januar 1924 vom Landtag gewählte Miniſterpräſident Heldt zurücktreten ſoll. Miniſterpräſident Heldt iſt nicht in der Lage, dieſem Beſchluß Rechnung zu tragen. Nach Art. 27 der Verfaſſung hat lediglich der Land- tag über das Verbleiben des Miniſterpräſidenten im Amt zu entſcheiden. Wollte Heldt von ſich aus zurücktreten, noch ehe die neue Regierung vollſtändig gebildet war, ſo müßte eine Unter- brechung der Regierungsgeſchäfte eintreten, für die er die Verantwortung nicht tragen kann. Die Verhandlungen über die Einheitsliſte in Thüringen. Weimar, 7. Januar. Die Verhandlungen über die Einheitsliſte, die unter dem Vorſitze Dr. Vernick’s in Weimar ſtattfinden, ſind noch nicht zum Abſchluß gelangt. Einzelheiten über den Stand der Verhandlungen können noch nicht mitgeteilt werden. Alle übrigen in der Preſſe verbreiteten Rachrichten ſind teils ent- ſtellt, teils erfunden. Richtig iſt lediglich, daß die verbotenen Par- teien (Nationalſozialiſtiſche Deutſche Arbeiter- partei und Deutſch-völkiſche Freiheitspartei) ihre Mitarbeit eingeſtellt haben. Volksentſcheid in Lübeck. Lübeck, 7. Januar. Die Linksmehrheit der Bürgerſchaft hatte dem Senat mit einfacher Mehrheit das Mißtrauensvotum ausge- ſprochen, wodurch der Senat einen Volksent- ſcheid herbeirief, der darüber entſcheiden ſollte, ob der Senat oder die Bürgerſchaft zurückzutreten habe. Nach einem ſehr heftigen Wahlkampf fand geſtern der Volksentſcheid ſtatt. Er endete mit einem Sieg des Senats gegen die vereinigten So- zialdemokraten und Kommuniſten. Von 84462 Wahlberechtigten haben 73932 abgeſtimmt. Für den Senat wurden abgegeben 43747, gegen ihn 30105 Stimmen. In der Stadt herrſcht über das Ergebnis große Begeiſterung. Die Folge der Entſcheidung iſt, daß die Bürgerſchaft binnen 45 Tagon neu zu wählen iſt. Reichsfinanzminiſter Dr. Luther zur bayeriſchen Denkſchrift. Berlin, 7. Januar. Ein Mitglied der Redak- tion der Deutſchen Allgemeinen Zeitung hatte mit dem Reichsfinanzminiſter Dr. Luther über die bayeriſche Verfaſſungsgedenkſchrift eine längere Unterredung, die ſich im weſentlichen mit der Rückführnug der Steuerverwaltung auf die Län- der beſchäftigte. Dr. Luther wies zunächſt dar- auf hin, daß die Uebernahme der Steuerhoheit auf das Reich einen beträchtlichen Ausfall an Steuern gebracht hat, weil die Umſtellung die Steuerämter in ihrer Arbeit außerordentlich ge- lähmt hat. Es ſei eine Lebensfrage des deut- ſchen Volkes, daß nicht jetzt wieder eine ſolche Ueberlaſtung der Aemter eintrete, die mit einer zeitweiligen Unterbrechung des Steuerzufluſſes verbunden wäre. Als Termin für die Rücküber- führung nannte der Miniſter den 1. April 1925. Dr. Luther verteidigte dann die Finanzverwal- tung gegen den Vorwurf, daß ſie die in ſie ge- ſetzten Erwartungen nicht erfüllt habe. Erſt jetzt, nachdem ſtabile Währungsverhältniſſe geſchaffen wurden, wäre es möglich, die Leiſtungen des Reichsfinanzminiſteriums beſſer zu überſehen. Inbezug auf die Zölle erklärte Dr. Luther, daß hier eine Aenderung der Verfaſſung not- wendig wäre, während bei den direkten Steuern die Rücküberführung auf die Länder mit ein- fachem Reichsgeſetz beſchloſſen werden könnte. In ſachlicher Beziehung werde man bei der Auf- teilung der Steuern zwiſchen Reich und Ländern zunächſt den Gedanken prüfen müſſen, ob nicht einerſeits das Reich, andererſeits die Länder diejenigen Steuern erheben ſollen, deren Ertrag jedem von beiden zufließt. Dieſer Grundſatz würde zunächſt bedeuten, daß die Verbrauchs- ſteuern und Zölle in unmittelbarer Reichs- verwaltung bleiben werden. Schwieriger ſei die Frage bei den direkten Steuern. Er könne ſich keinen Zuſtand denken, in dem das Reich auf die Vermögensſteuer verzichte. Das Reich trage eben die ungeheuren Laſten aus dem Ver- ſailler Vertrag. Außerdem ſei die Vermögens- ſteuer für die Goldanleihe verpfändet. Eine ge- trennte Veranlagung der Einkommensſteuer und Vermögensſteuer erſcheine ſehr bedenklich und zwar auch mit Rückſicht auf die Steuerpflichtigen. Demokratiſcher Parteitag in Württemberg. Auf dem demokratiſchen Parteitag in Stutt- gart hielt der württembergiſche Staatspräſi- dent Dr. Hieber eine bemerkenswerte Rede, in der er ſagte, daß dem in der bayeriſchen Denkſchrift beanſpruchten Recht der Einzel- ſtaaten, mit fremden Staaten wieder eigene Ver- träge zu ſchließen, Bismarck eine Antwort gege- ben hätte, die an Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig gelaſſen hätte. Man müſſe es hier mit dem Worte des Freiherrn vom Stein halten: ich kenne nur ein Vaterland und das heißt Deutſch- land! Was den Ausnahmezuſtand an- lange, ſo könne er in Württemberg ohne weiteres aufgehoben werden, denn hier werde auch die Zivilregierung dafür zu ſorgen wiſſen, daß es bei den bisher geordneten Zuſtänden bleibe. An unruhigen Köpfen fehle es ja auch im Schwaben- lande nicht, aber es könne den Bedarf im eigenen Lande decken und brauche keinen Import von Bayern oder noch weiter von Oſten her (Heiter- keit). Reichswehrminiſter Dr. Geßler erklärte un- ter anderem, die nächſte Aufgabe der Reichs- regierung ſei die Schaffung der notwendigen Klarheit über den Umfang unſerer Repara- tionsverpflichtungen. Daneben ſtehe im Vordergrund die Beſeitigung der Separatiſten. Was die franzöſiſche Antwortnote anlangt, ſo wäre ein franzöſiſches Entgegenkommen ein Bruch mit der ganzen bisherigen Politik Frank- reichs und ſeiner ganzen geſchichtlichen Ueber- lieferung. Bei der Beſprechung der Vorgänge in München und Dresden bemerkte Dr. Geßler, ein Gefühl der Schmach gewinne die Oberhand, daß an ſol- chem Vorgehen ſelbſt Männer wie Ludendorff beteiligt waren. Wenn man die Dinge nehme, wie ſie ſind, ſo müſſe man ſagen, daß der Ge- fahrenpunkt noch nicht überwunden ſei, wenn es auch erfreulich ſei, daß ſich jetzt auch in Sachſen Bürgertum und verſtändige Arbeiterſchaft zur Aufrechterhaltung der Ordnung zuſammengetan haben. Die Arbeiterſchaft mache in dieſen Ta- gen der Wirtſchaftskriſe den Eindruck der Wehr- loſigkeit und das habe an anderen Stellen ein Herrenbewußtſein groß werden laſſen, das ver- hängnisvoll und verheerend ſei. Es wäre ein Verhängnis, wenn jetzt die Arbeiterſchaft nieder- geritten werden wollte. Das Reſultat wäre ein Syndikalismus, der vor nichts halt machen würde, am allerwenigſten vor den Führern der Wirtſchaft. Gerade jetzt müſſe ſich zeigen, wer ein richtiger, weitblickender Führer ſei und über die nächſtliegenden Inſtinkte hinwegzukommen wiſſe. Das Jahr 1924 werde kein Friedens-, ſondern ein Kampfjahr ſein. Ueber die Verfaſſungsfrage ſagte der Reichsminiſter, daß die Weimarer Verfaſſung nur eine Art Not- bau ſein konnte, der weiter ausgeſtaltet werden müſſe. Aber dabei könne es nur eins geben: zu- erſt das Reich und die Einheit der Nation. Da- mit werde auch das Intereſſe der einzelnen Staa- ten am beſten vertreten, die nicht leben können, wenn das Reich zerfalle. Der Miniſter ſammelt für die Bundestheater. Wien, 1. Januar. Der Unterrichtsminiſter richtet einen Aufruf an die „Geſellſchaft“, ſie möge bei- tragen, damit Oper und Burgtheater er- halten bleiben. Jedem Bürger des Staates müſſe das Herzens- und Ehrenſache ſein Darum werde er demnächſt Vertreter der Geſellſchaft, „den Begriff in ſeiner weiteſten Bedeutung genommen“, zu ſich bitten, um Richtlinien für die geplante Aktion feſt- zulegen. Man will bei uns Carnegies züchten. Da ſie nicht von ſelber wachſen, ſo wird den reichen Leuten ſanft zugeredet, ſie möchten ſich doch die Bürgerkrone verdienen. Gelingt es, ſo war es eine gute Idee. Saniert zu werden, wie dies zurzeit mit uns geſchieht, iſt nämlich weder ſo einfach, noch ſo reſtlos angenehm, wie man ſich das vielleicht vorſtellt. Wir haben bekanntlich einen „Generalkommiſſär des Völker- bundes“, der ſein Amt nicht als Sinekure auffaßt. Er hält den Finger feſt auf den Geldſäcken und läßt nichts „Ueberflüſſiges“ geſchehen. Die Decke, nach der wir uns ſtrecken müſſen, reicht oben und unten, rechts und links nicht. Darum hat kürzlich der Bundeskanzler Seipel den Begriff „Geſellſchaft“ erfunden und hat alte und neue Reiche daran erinnert, daß die Sena- toren des klaſſiſchen Rom Straßen auf ihre Koſten bauten und den Proletariern Ge- treide ſchenkten. Dieſes und anderes er- zählte er nicht ganz ohne Bitterkeit in einem Vortrag, den er in der „Oeſterreichi- ſchen Politiſchen Geſellſchaft“, einem unpo- litiſchen Club von Wiener Bürgern hielt. Wirklich hatte der Appell einen ſtarken Erfolg. Allerdings vorläufig nur einen einzigen. Der Billionär S. Boſel er- klärte ſich bereit, der Univerſität zu helfen. d. h. zu zahlen, was, trotz anerkannter Not- wendigheit oder Nützlichkeit, der ſchwer ſanierte Staat nicht tragen kann. Man berechnet, daß das dem großen Finanzier 10 bis 12 Millionen Goldkronen im Jahr koſten kann. Ja, es gibt ſogar Leute, die zweifeln, ob er reich genug dazu iſt. Der Unterrichtsminiſter, wie geſagt, folgt den Spuren ſeines größeren Kollegen. Er will, wie es ſcheint, aber nicht die Hilfe eines einzelnen Kröſus haben, ſondern die Unterſtützung vieler kleinerer Kröſuſſe. Das hätte das Gute, daß viele nicht ſo viel ſtören können, wie es einer könnte. Allerdings erzählt man ſich, der Miniſter habe vorher anders gedacht und ganz ein- fach Caſtiglioni, dem Boſel Nr. 2, das Defizit der Bundestheater angetragen. Caſtiglioni habe verlangt, man müſſe das Burgtheater Reinhard überlaſſen. Darauf iſt rätſelhafter Weiſe der Miniſter nicht eingegangen. Er wäre ſonſt mit der finan- ziellen zugleich auch die künſtleriſche Sorge los geweſen. Und da Max Reinhard dem Erzbiſchof von Salzburg klerikal genug war, hätte er es auch der regierenden chriſtlichſozialen Partei ſein können. Wie dem auch ſei — es bleibt abzu- warten, ob ſich Leute finden, die die fünf- zehn Milliarden — eine Million Goldmark etwa — hergeben. Oeſterreich hat keine Orden, keine Adelstitel mehr. Um ſo mehr Grund, ſollte man meinen, für ſeine Bür- ger, dem Staat zu helfen, der jetzt erſt recht ihr Staat iſt. R. Oiden. Der gerettete Orphens Von Emil Ludwig. Wenn Glucks Himmelslieder und Höllenchöre wirklich (einmal im Jahr) von der Berliner Hof- bühne erklangen, dann war ſelbſt Glucks Geiſter- hand durch die ganze Stumpfheit und Allegorie gehemmt, in der das Zeitalter Wilhelms Griechen- land verſtand; die Herren dachten an das Achil- leion. Wenn ſich im Elyſium die Abgeſchiedenen mit Diskuswerfen die Ewigkeit vertrieben, ſo ſah man links oben — Abteilung für Helden — den, der daran war, kopfſchüttelnd und mit Achſelzucken ſtumm bedauern, daß er wieder fehl geworfen. In Berlin und Wien, in München und Paris mußte ich der Bühne den Rücken kehren, um dem inneren Blick jene Dämmerlandſchaften zu erſchließen, die dieſe ſchmelzende Muſik erſchafft, doch auch fordert. Dies Chorwerk, in Frack und grande toilette im Saal geſungen, ſchien der Bühne verloren. Nun iſt es gerettet: Das Opernhaus in Frank- furt hat durch eine neue Inſzenierung plötzlich den Stil gefunden, in dem ſich dies faſt hand- lungsloſe, nach Bildern dürſtende Werk vor dem Auge ſo entbreitet, wie es das Ohr verlangt. Einem Dr. Wallerſtein, der hier als Gaſt Regie führte, gebührt das Verdienſt; ich weiß nicht, von wo er herkommt. Jedenfalls von der Malerei: Puvis de Cha- vannes hat er ſtudiert und überhaupt für Glucks deutſch-galliſche Zwiſchenſtimmung einen Stil ge- funden, der Ingres näher iſt als Feuerbach, die griechiſche Linie alſo mehr in Gruppen und Farben als in einzelnen Geſten und Zügen fühlt; was nur nach Winkelmann. Cornelius und der Greque-Leiſte ſchmeckt, war glücklich vermieden. Mit rieſiger Viſion reißt man die Hölle auf: Michelangelos „Jüngſtes Gericht“ iſt erſtanden, doch bewegt. Zwiſchen Schleiern und Dämpfen, auf ungeheuren Treppen bergaufwärts geſteigert, wälzen und wühlen ein paar hundert Arme und Beine durcheinander, in ſchwälenden Purpur, ge- waltig kämpfende Furien, deren Einzelſchickſal aufgehoben, die zu Klumpen geballt in brennen- dem Haß Erlöſung zu ſuchen ſcheinen; und man gedenkt Botticellis erſtaunlicher Zeichnungen zu Dantes Inferno. Dann, wie ſie beim erſten Ein- ſatz der blau belichteten Triolen ſich zu rühren ſcheinen, wie dieſe gefeſſelten Tiere das Mitgefühl überraſcht und an die Stelle ihres hingeſtampften „Nein“ ein Wunſch tritt, dem Sterblichen die Wege dennoch zu bereiten: da bilden dieſe Arme, dieſe Beine eine Gaſſe — und von hoch oben ſchreitet der Sänger abwärts. Elyſium aber iſt eine Wieſe am Meer. Nord- lichtartig, doch unter dieſer Hochebene gedacht als irdiſch hinaufſtrahlendes Geſtirn, ſo ſchickt die Sonne den Orangeſtern ihrer Strahlen empor. Was ſich nun hier, vorher und ſpäter, an Frauen ſchreitend bewegt, wird nur durch ſtändig ver- ſchobene Lichter in Farben verwandelt und ſo in zarteſten Varianten von Seegrün, Königsblau, Karmeſin gleitend geſchmückt. Unwirklich, nicht zu fangen, immer einander verwandt wie fern: ſo erhebt ſichs vor dem Auge und kommentiert dieſe Himmelsmuſiken, die der Meiſter „Ballet“ 1, 2, 3, 4 nennt — und die in Wahrheit den einzigen Opernverſuch darſtellen, jene andere Welt zu bannen in Tönen, wie es Goethes Pandora gegen Ende in Worten gelang. Da kommt lautlos ein Boot geglitten, es landet neun Paare; Jünglinge, von Frauen faſt hüllen- los dargeſtellt, ſchweben über die Blumen hin, und wie alles am Ende fort iſt, bleibt noch ein Kranz von Kindern, Girlanden windend, allein inmitten der einſam ſchweigenden Wieſe zurück. Die findet Orpheus, und wie er, außerhalb des Bühnenrahmens, heraufſteigt, wird die Wande- rung vom Inferno her deutlich. Dann verengt ſich im anderen Akte die hoch- ſtiliſierte Treppenlandſchaft zum großen Duo, in blau leuchtendem Rahmen jagen und zögern die beiden getrennten Vereinten über die Stufen, aber das Tempo agitato der Szene wird durch Wolkenzüge gekräftigt, die ſchmal zwiſchen hohen Vorhängen vorüberziehen. Als dann endlich die ergreifend heiteren Akkorde ſiegen (und das Publikum ſchon erlöſt in die Garderoben eilen wollte), ſchlug der Vorhang vor einer neuen Ueberraſchung auseinander: jetzt, da die Liebenden ſich halten dürfen, herrſcht Dionyſos, und ein Fangen und Haſchen von fellumſchlage- nen, thyrſostragenden Paaren hebt an, das die lange Mollſtimmung in ein ſchimmerndes Dur erlöſt; bis ein Schlußbild — mir ſchien es ver- unglückt — in allzu grellem Lichte nach ſo viel gnädiger Dämmerung die Gewöhnlichkeit ſterb- licher Züge enthüllt. Eine holde Legende läßt Gluck, als er das Elyſium ſchrieb, den Flügel auf die Wieſe vor ſeinem Hauſe befehlen, dazu eine Flaſche Cham- pagner. Etwas von der überglänzten Erotik, von dieſer Corregio-Muſik, die vor ihm höchſtens ge- malt wurde, hat den Neuentdecker des auch hohen Werkes beſchwingt. Seit uns die Ruſſen vor einem Dutzend Jahren ihre neue Tanzkunſt wie- ſen, habe ich nichts ſo überraſchend Gelungenes im Tanz geſehen, als dieſen Frankfurter Orpheus. Frankfurt, im Dezember. Seemannsleben. Seemannsleben ... Nicht jeder kann feſten Herzens den Gefahren trotzen; nicht jeder erträgt die furchtbare Mühſal — zum Seemann muß man geboren ſein. — Das hab ich auf dem Bodenſee- dampferli „Suchard“ der Schweizer Flotte oft beobachten können. In grauſem Schneewehen wie unter glühender Tropenſonne heißt es den Fahrplan einhalten ab Reichenau 3 Uhr 10, an Konſtanz 4.32. Im Meridian von Mannenbach ſind die tük- kiſchen Zackenriffe; da bräut der Tod rechts und links; eine Seemeile zu weit nach Backbord, und das ſtolze Schiff iſt auf der Veranda des Kur- hotels geſtrandet. Bei Ermatting gurgeln die ſchauerlichen Stru- del; wenn Einem da die Wurſtſtulle hineinfällt, iſt ſie unrettbar verloren. In der Grätſche auf zwei mächtigen Säulen ſteht der ſturmererobte Kapitän auf der Kom- mandobrücke, ſelbſt ein Granitblock. Er äugt in die ferne Kimmung, ob da nicht ein Flaumwölk- chen das Nahen des Orkans verrate; doch auch die geringſte Regung auf Deck entgeht ſeinem Scharf- blick nicht. „Volldampf voraus!“ ruft er ins Sprachrohr. Mächtigbrauſend peitſcht die Schraube die Fluten, die Kielwelle brandet hinten nach. — Jagt die

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 7. München, 8. Januar 1924, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine07_1924/2>, abgerufen am 21.11.2024.