Allgemeine Zeitung, Nr. 101, 11. April 1849.[Spaltenumbruch]
Kaliber, welche die Darsena in wenigen Minuten in Brand stecken könn- Toscana. = Florenz, 1 April. Die Wahlen zu der vor einigen Tagen er- Paris. Sun Paris, 5 April. Aufgeschreckt von den reißenden Fortschritten Die Schweiz und die auswärtige Politik. # Aus der nördlichen Schweiz. Die deutsche Kaiserwahl [Spaltenumbruch]
Kaliber, welche die Darſena in wenigen Minuten in Brand ſtecken könn- Toscana. = Florenz, 1 April. Die Wahlen zu der vor einigen Tagen er- Paris. ☉ Paris, 5 April. Aufgeſchreckt von den reißenden Fortſchritten Die Schweiz und die auswärtige Politik. ▣ Aus der nördlichen Schweiz. Die deutſche Kaiſerwahl <TEI> <text> <body> <div type="jSupplement" n="1"> <floatingText> <body> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div n="3"> <div type="jArticle" n="4"> <p><pb facs="#f0013" n="1553"/><cb/> Kaliber, welche die Darſena in wenigen Minuten in Brand ſtecken könn-<lb/> ten, falls dieſe in die Hände der Inſurgenten fallen ſollte. Außerdem<lb/> liegen mehrere engliſche Kriegsſchiffe im Hafen von La Spezzia, welche<lb/> auf den erſten Wink in wenigen Stunden hier ſeyn würden. Die ſpäte<lb/> Nacht ſtellte endlich die Ruhe wieder her, doch glich die ganze Stadt einem<lb/> Feldlager; an allen Ecken und Enden waren Bürgergardenpikets aufge-<lb/> ſtellt, die ſich auf den Hauptplätzen auf mehr als 1500 Mann beliefen.<lb/> Dieſen Morgen iſt wieder alles in großer Bewegung. Das Volk ſucht<lb/> ſich hier und da der am Hafen aufgepflanzten Geſchütze zu bemächtigen,<lb/> und hat bereits ſeit Tagesanbruch drei große Kanonen weg und nach dem<lb/> Palazzo Ducale geſchleppt, welcher ſich gänzlich in der Gewalt des Volkes<lb/> befindet. Der Diviſionsgeneral Azarte verhält ſich ruhig in ſeinem<lb/> Hauptquartier del Santo Spirito, wo er vom Volk ſcharf bewacht wird,<lb/> und die Anzeige erhalten hat daß auf den erſten Schuß von der zerſtörten<lb/> Beſte das Volk auf dieſelbe eindringen und alles niedermetzeln wolle.<lb/> Der Vorwand zu dieſer feindſeligen Stellung gegen die piemonteſiſche<lb/> Regierung iſt daß man ſich den zwei Bedingungen des Waffenſtillſtandes<lb/> nicht unterwerfen wolle, wonach Aleſſandria eine Beſatzung von 3000<lb/> Oeſterreichern aufnehmen und die ſardiniſche Flotte binnen 15 Tagen in<lb/> die eigenen Häfen zurückkehren ſolle.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Toscana.</hi> </head><lb/> <div type="jComment" n="4"> <dateline>= <hi rendition="#b">Florenz,</hi> 1 April.</dateline><lb/> <p>Die Wahlen zu der vor einigen Tagen er-<lb/> öffneten conſtituirenden Verſammlung haben in Toscana aufs neue an<lb/> den Tag gebracht, was es mit dem allgemeinen Stimmrecht auf ſich hat.<lb/> Entweder trägt diejenige Majorität den Sieg davon welche nur eine Ma-<lb/> jorität nach Köpfen iſt ohne irgendwie darauf Anſpruch machen zu können<lb/> die in politiſchen Dingen wirklich zum Mitreden Berechtigten und Be-<lb/> fähigten zu repräſentiren; oder die große Maſſe namentlich auf dem Land<lb/> bleibt theilnahmlos und die Wahlen befinden ſich in der Gewalt der herr-<lb/> ſchenden Faction. Dieß iſt bei uns der Fall geweſen, und was alle un-<lb/> ſere gemäßigten und verſtändigen Politiker ohne Ausnahme prophezeiten,<lb/> iſt buchſtäblich eingetroffen. Die Theilnahme an den Wahlen iſt beinahe<lb/> überall ſehr ſchwach geweſen — im Luccheſiſchen berechnet man daß etwa<lb/> 5 Proc. der Bevölkerung geſtimmt haben; in ganzen großen Communen iſt<lb/> überhaupt keine Wahl zu Stande gekommen; an den meiſten Orten hat man<lb/> mit bedeutendem Zeitverluſt und genauer Noth eine einigermaßen hin-<lb/> reichende Zahl Wähler zuſammengetrieben, und die Clubs haben beinahe<lb/> allerwärts ihre Candidaten durchgebracht. Man gehe die Liſten durch —<lb/> wen findet man? Die Mitglieder des proviſoriſchen Gouvernements und<lb/> des Miniſteriums, einige radicale Deputirte der letzten Kammer, einige<lb/> radicale Zeitungsſchreiber und ſogenannte „Generale“ (der Generalstitel<lb/> wird in dem revolutionären Italien mit großartiger Freigebigkeit vertheilt,<lb/> und Leute die keine Compagnie zu führen verſtehen oder allerhöchſtens ein-<lb/> mal einen Guerrillas-Feld- oder Raubzug mitgemacht haben, paradiren<lb/> mit demſelben, da „Colonnello“ ſchon an die Schreiber, Chirurgen und<lb/> Ladendiener gekommen iſt), dazu Schauſpieler, Straßenlärmſtifter und<lb/> ähnliche: das ſind die Deputirten, in deren Hände, wenn man ſie ge-<lb/> währen läßt, das Schickſal Toscana’s und ein nicht geringer Antheil am<lb/> Schickſal Italiens gelegt iſt. Einerſeits iſts des Princips und der guten<lb/> Lehre willen ganz erſprießlich daß die Wahlen ſo ausgefallen find ein<lb/> Paroli auf die im Kirchenſtaat zu biegen wo ähnliche Erſcheinungen ſich<lb/> kundgegeben haben: kein beſſeres Mittel konnte es geben der immer noch<lb/> verſtockt blinden oder ſchmachvoll matten Menge die Augen zu öffnen über<lb/> Weſen und Perſonen der herrſchenden anarchiſchen Partei. Andererſeits<lb/> kann und wird dieß Reſultat noch zu vielem Unheil Anlaß geben, wenn<lb/> nicht bald eine Reſtauration ſtattfindet und ehrliche ſowohl wie talentvolle<lb/> Leute die Stelle von ſolchen einnehmen die, wenn ſie Talent haben, längſt<lb/> gewohnt geweſen ſind es zum Ruin ihrer Heimath zu gebrauchen. Ein<lb/> Advocat, welchem ſeine eigene Partei, hoffentlich mit Unrecht, vorwarf in<lb/> Caſſenangelegenheiten keine reinen Hände bewahrt zu haben, ein jüdiſcher<lb/> Comödiant aus deſſen Phyſiognomie die unedelſten Leidenſchaften ſprechen,<lb/> ein verlaufener Römer, ein Straßenheld welcher den Skandal in der De-<lb/> putirtenkammer am 8 Febr. veranlaßte — dieß find einige Specimina der<lb/> Gewählten, ſo daß man bedauert manche beſſere Leute in ſolcher Geſell-<lb/> ſchaft zu ſehen. Von einer ſolchen Verſammlung ſoll Vertrauen ent-<lb/> gegenkommen! Wie allen denen welche dem Land ermuthigende Proben<lb/> ihrer Wiffenſchaft und ihrer Geſinnung gegeben haben, find nur ſehr<lb/> wenige da, ein einziger aus der frühern in beiden Beziehungen großen-<lb/> theils ſo ausgezeichneten erſten Kammer, kaum irgendeiner von den beiden<lb/> Univerſitäten von denen die piſaniſche eine Reihe allgemein verehrter<lb/> Männer aufzuweiſen hat, vielleicht niemand aus der Magiſtratur und den<lb/> früheren Verwaltungen. Wahrhaftig, naht nicht Hülfe, ſo ſteht Toscana<lb/> eine heitere Zukunft bevor.</p><lb/> <cb/> </div> </div> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Paris.</hi> </head><lb/> <div type="jComment" n="4"> <dateline>☉ <hi rendition="#b">Paris,</hi> 5 April.</dateline><lb/> <p>Aufgeſchreckt von den reißenden Fortſchritten<lb/> des Socialismus, und um der unheilſchwangern Propaganda der com-<lb/> muniſtiſchen Preſſe entgegenzuwirken, hat, wie Sie wiſſen, der Verein der<lb/> Poitiersſtraße beſchloſſen eine Reihe wohlfeiler Schriften herauszugeben,<lb/> die den Arbeiterclaſſen über das eigentliche Weſen der Neulehren die Augen<lb/> öffnen ſollen. Auch hat der Verein eine Subſcription veranſtaltet um die<lb/> nöthige Summe Geldes herbeizuſchaffen, mit Hülfe deren die verſchiedenen<lb/> Bücher, Almanache und Tractätlein, von welchen man die totale Aus-<lb/> rottung des demokratiſch-ſocialiſtiſchen Krankheitsſtoffs erwartet, ins Leben<lb/> gerufen und in gehörigen Umlauf geſetzt werden ſollen, und Bulletins er-<lb/> ſcheinen täglich in den Organen der Poitiersſtraße, die uns mittheilen daß<lb/> die Einzeichnungen einen guten Fortgang haben, und daß man bald im<lb/> Stande ſeyn werde Hand ans Werk zu legen. Daß der Zweck ein löblicher,<lb/> iſt keine Frage, ſelbſt dann nicht wenn es wahr wäre, was man ſich in die<lb/> Ohren flüſtert, daß man dabei nicht weniger die nächſtkünftigen Wahlen<lb/> als die Bannung des unſaubern Gaſtes der in den untern Schichten des<lb/> Volks ſeinen gefährlichen Spuk treibt, im Auge habe. Erhebliche Reſultate<lb/> indeſſen verſpricht man ſich hier nicht von dem Unternehmen. Allerdings<lb/> find in wenigen Tagen hundert und einige tauſend Franken zuſammenge-<lb/> kommen; da dieſe Summe aber faſt ausſchließlich von den Mitgliedern des<lb/> Vereins herrührt, ſo iſt daraus nicht auf die Sympathien des Publicums<lb/> zu ſchließen, und man fürchtet ſehr daß die Bulletins bald anfangen werden<lb/> in immer größern Zwiſchenräumen zu erſcheinen. Angenommen jedoch es<lb/> finde ſich Geld genug um ganz Frankreich mit antiſocialiſtiſchen Abhand-<lb/> lungen zu überſchwemmen, ſo zweifeln wir dennoch an einer gründlichen<lb/> Wirkung des Gegengiftes. Es iſt eine eigene Sache mit dieſem ſyſtema-<lb/> tiſchen und gleichſam officiellen Schulmeiſtern des Volks, das nun einmal<lb/> dazu geneigt iſt um ſo begieriger nach der verbotenen Frucht zu haſchen je<lb/> mehr man es vor derſelben warnt, und ſehr leicht könnte es den gewiß<lb/> höchſt verſtändigen Büchern die der Betein der Poitiersſtraße in die Welt<lb/> ſchicken wird, gerade ſo ergehen wie der „guten Preſſe“ in den cenſurbe-<lb/> glückten Ländern. Wir wollen damit nicht geſagt haben daß wir die Be-<lb/> lehrung des Volks durch Wort und Schrift für überflüſſig oder unnütz<lb/> halten, wir meinen nur daß man früher hätte daran denken ſollen, und daß<lb/> man durch Wort und Schrift allein nicht im Stande ſey den Socialismus<lb/> bei dem ungeheuren Vorſprung den er im Geiſte der Arbeiterclaſſen bat,<lb/> zu überholen. Hierzu bedarf es der That. Durch die That muß dem<lb/> Volke gezeigt werden wo ſeine wahren Freunde, und welche die ächten<lb/> Mittel ſind um das Joch der Noth unter dem es ſeufzt abzuſchütteln.<lb/> Zum Weisheitpredigen iſt es zu ſpät, man wird nur taube Ohren finden.<lb/> Wenn dagegen der Verein das beigeſteuerte Geld zu irgendeinem Unter-<lb/> nehmen beſtimmte das auch nur tauſend Familien Arbeit und Verdienſt<lb/> verſchaffte, ſo würde er dadurch der guten Sache mehr nützen und dem<lb/> Anſehen der Socialiſten mehr ſchaden als durch unzählige goldene Sprüche<lb/> und Lehren welche — man darf es mit Gewißheit vorherſagen — gerade<lb/> von jenen Leuten für die ſie beſtimmt find ungeleſen bleiben werden.<lb/> Schließlich bemerken wir daß, was die ſocialiſtiſche Tagespreſſe zu Paris<lb/> insbeſondere betrifft, ſie ihren finanziellen Flor vorzüglich der Neugierde<lb/> des Publicums verdankt. Wir übertreiben gewiß nicht wenn wir be-<lb/> haupten daß von den fünfzigtauſend Exemplaren des Peuple die täglich<lb/> abgeſetzt werden mehr als die Hälfte von ehrlichen Philiſtern gekauft<lb/> wird, die Hrn. Proudhon in den Abgrund der Hölle wünſchen, aber den-<lb/> noch am frühen Morgen nichts eiligeres zu thun haben als ſich für einen<lb/> Sous das Blatt an der nächſten Straßenecke zu holen. Ohne dieſe<lb/> Kunden wären die meiſten rothen Blätter längſt aus Mangel an Geld<lb/> untergegangen. Das ſollte der Verein der Poitiersſtraße den Leuten be-<lb/> greiflich zu machen ſuchen. Freilich dürfte der Socialismus noch leichter<lb/> zu beſiegen ſeyn als die Neugierde des Pariſer Spießbürgers. Unſere<lb/> radicalen Blätter die ſich über die Niederlage der Piemonteſen noch immer<lb/> nicht beruhigen können, vor allen Dingen aber die Unmacht der Oeſter-<lb/> reicher beweiſen wollen, verſichern heute ganz ernſthaft: in der Schlacht<lb/> von Novara hätten <hi rendition="#g">zwanzigtauſend Ruſſen in deutſcher Uniform</hi><lb/> gefochten.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Die Schweiz und die auswärtige Politik.</hi> </head><lb/> <div type="jComment" n="4"> <dateline>▣ <hi rendition="#b">Aus der nördlichen Schweiz.</hi></dateline><lb/> <p>Die deutſche Kaiſerwahl<lb/> und der Ausgang des öſterreichiſch-italieniſchen Kriegs in Oberitalien<lb/> wurden hier ungefähr zu gleicher Zeit bekannt, und es war ſehr lehrreich<lb/> zu beobachten welchen Eindruck beide Ereigniſſe in der Schweiz hervor-<lb/> gebracht haben. Die deutſche Kaiſerwahl ließ die große Mehrheit der<lb/> Schweizer kalt und gleichgültig. Dieſe praktiſche Nation, hierin mit den<lb/> Franzoſen und Engländern übereinſtimmend, betrachtet jenen Culminations-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [1553/0013]
Kaliber, welche die Darſena in wenigen Minuten in Brand ſtecken könn-
ten, falls dieſe in die Hände der Inſurgenten fallen ſollte. Außerdem
liegen mehrere engliſche Kriegsſchiffe im Hafen von La Spezzia, welche
auf den erſten Wink in wenigen Stunden hier ſeyn würden. Die ſpäte
Nacht ſtellte endlich die Ruhe wieder her, doch glich die ganze Stadt einem
Feldlager; an allen Ecken und Enden waren Bürgergardenpikets aufge-
ſtellt, die ſich auf den Hauptplätzen auf mehr als 1500 Mann beliefen.
Dieſen Morgen iſt wieder alles in großer Bewegung. Das Volk ſucht
ſich hier und da der am Hafen aufgepflanzten Geſchütze zu bemächtigen,
und hat bereits ſeit Tagesanbruch drei große Kanonen weg und nach dem
Palazzo Ducale geſchleppt, welcher ſich gänzlich in der Gewalt des Volkes
befindet. Der Diviſionsgeneral Azarte verhält ſich ruhig in ſeinem
Hauptquartier del Santo Spirito, wo er vom Volk ſcharf bewacht wird,
und die Anzeige erhalten hat daß auf den erſten Schuß von der zerſtörten
Beſte das Volk auf dieſelbe eindringen und alles niedermetzeln wolle.
Der Vorwand zu dieſer feindſeligen Stellung gegen die piemonteſiſche
Regierung iſt daß man ſich den zwei Bedingungen des Waffenſtillſtandes
nicht unterwerfen wolle, wonach Aleſſandria eine Beſatzung von 3000
Oeſterreichern aufnehmen und die ſardiniſche Flotte binnen 15 Tagen in
die eigenen Häfen zurückkehren ſolle.
Toscana.
= Florenz, 1 April.
Die Wahlen zu der vor einigen Tagen er-
öffneten conſtituirenden Verſammlung haben in Toscana aufs neue an
den Tag gebracht, was es mit dem allgemeinen Stimmrecht auf ſich hat.
Entweder trägt diejenige Majorität den Sieg davon welche nur eine Ma-
jorität nach Köpfen iſt ohne irgendwie darauf Anſpruch machen zu können
die in politiſchen Dingen wirklich zum Mitreden Berechtigten und Be-
fähigten zu repräſentiren; oder die große Maſſe namentlich auf dem Land
bleibt theilnahmlos und die Wahlen befinden ſich in der Gewalt der herr-
ſchenden Faction. Dieß iſt bei uns der Fall geweſen, und was alle un-
ſere gemäßigten und verſtändigen Politiker ohne Ausnahme prophezeiten,
iſt buchſtäblich eingetroffen. Die Theilnahme an den Wahlen iſt beinahe
überall ſehr ſchwach geweſen — im Luccheſiſchen berechnet man daß etwa
5 Proc. der Bevölkerung geſtimmt haben; in ganzen großen Communen iſt
überhaupt keine Wahl zu Stande gekommen; an den meiſten Orten hat man
mit bedeutendem Zeitverluſt und genauer Noth eine einigermaßen hin-
reichende Zahl Wähler zuſammengetrieben, und die Clubs haben beinahe
allerwärts ihre Candidaten durchgebracht. Man gehe die Liſten durch —
wen findet man? Die Mitglieder des proviſoriſchen Gouvernements und
des Miniſteriums, einige radicale Deputirte der letzten Kammer, einige
radicale Zeitungsſchreiber und ſogenannte „Generale“ (der Generalstitel
wird in dem revolutionären Italien mit großartiger Freigebigkeit vertheilt,
und Leute die keine Compagnie zu führen verſtehen oder allerhöchſtens ein-
mal einen Guerrillas-Feld- oder Raubzug mitgemacht haben, paradiren
mit demſelben, da „Colonnello“ ſchon an die Schreiber, Chirurgen und
Ladendiener gekommen iſt), dazu Schauſpieler, Straßenlärmſtifter und
ähnliche: das ſind die Deputirten, in deren Hände, wenn man ſie ge-
währen läßt, das Schickſal Toscana’s und ein nicht geringer Antheil am
Schickſal Italiens gelegt iſt. Einerſeits iſts des Princips und der guten
Lehre willen ganz erſprießlich daß die Wahlen ſo ausgefallen find ein
Paroli auf die im Kirchenſtaat zu biegen wo ähnliche Erſcheinungen ſich
kundgegeben haben: kein beſſeres Mittel konnte es geben der immer noch
verſtockt blinden oder ſchmachvoll matten Menge die Augen zu öffnen über
Weſen und Perſonen der herrſchenden anarchiſchen Partei. Andererſeits
kann und wird dieß Reſultat noch zu vielem Unheil Anlaß geben, wenn
nicht bald eine Reſtauration ſtattfindet und ehrliche ſowohl wie talentvolle
Leute die Stelle von ſolchen einnehmen die, wenn ſie Talent haben, längſt
gewohnt geweſen ſind es zum Ruin ihrer Heimath zu gebrauchen. Ein
Advocat, welchem ſeine eigene Partei, hoffentlich mit Unrecht, vorwarf in
Caſſenangelegenheiten keine reinen Hände bewahrt zu haben, ein jüdiſcher
Comödiant aus deſſen Phyſiognomie die unedelſten Leidenſchaften ſprechen,
ein verlaufener Römer, ein Straßenheld welcher den Skandal in der De-
putirtenkammer am 8 Febr. veranlaßte — dieß find einige Specimina der
Gewählten, ſo daß man bedauert manche beſſere Leute in ſolcher Geſell-
ſchaft zu ſehen. Von einer ſolchen Verſammlung ſoll Vertrauen ent-
gegenkommen! Wie allen denen welche dem Land ermuthigende Proben
ihrer Wiffenſchaft und ihrer Geſinnung gegeben haben, find nur ſehr
wenige da, ein einziger aus der frühern in beiden Beziehungen großen-
theils ſo ausgezeichneten erſten Kammer, kaum irgendeiner von den beiden
Univerſitäten von denen die piſaniſche eine Reihe allgemein verehrter
Männer aufzuweiſen hat, vielleicht niemand aus der Magiſtratur und den
früheren Verwaltungen. Wahrhaftig, naht nicht Hülfe, ſo ſteht Toscana
eine heitere Zukunft bevor.
Paris.
☉ Paris, 5 April.
Aufgeſchreckt von den reißenden Fortſchritten
des Socialismus, und um der unheilſchwangern Propaganda der com-
muniſtiſchen Preſſe entgegenzuwirken, hat, wie Sie wiſſen, der Verein der
Poitiersſtraße beſchloſſen eine Reihe wohlfeiler Schriften herauszugeben,
die den Arbeiterclaſſen über das eigentliche Weſen der Neulehren die Augen
öffnen ſollen. Auch hat der Verein eine Subſcription veranſtaltet um die
nöthige Summe Geldes herbeizuſchaffen, mit Hülfe deren die verſchiedenen
Bücher, Almanache und Tractätlein, von welchen man die totale Aus-
rottung des demokratiſch-ſocialiſtiſchen Krankheitsſtoffs erwartet, ins Leben
gerufen und in gehörigen Umlauf geſetzt werden ſollen, und Bulletins er-
ſcheinen täglich in den Organen der Poitiersſtraße, die uns mittheilen daß
die Einzeichnungen einen guten Fortgang haben, und daß man bald im
Stande ſeyn werde Hand ans Werk zu legen. Daß der Zweck ein löblicher,
iſt keine Frage, ſelbſt dann nicht wenn es wahr wäre, was man ſich in die
Ohren flüſtert, daß man dabei nicht weniger die nächſtkünftigen Wahlen
als die Bannung des unſaubern Gaſtes der in den untern Schichten des
Volks ſeinen gefährlichen Spuk treibt, im Auge habe. Erhebliche Reſultate
indeſſen verſpricht man ſich hier nicht von dem Unternehmen. Allerdings
find in wenigen Tagen hundert und einige tauſend Franken zuſammenge-
kommen; da dieſe Summe aber faſt ausſchließlich von den Mitgliedern des
Vereins herrührt, ſo iſt daraus nicht auf die Sympathien des Publicums
zu ſchließen, und man fürchtet ſehr daß die Bulletins bald anfangen werden
in immer größern Zwiſchenräumen zu erſcheinen. Angenommen jedoch es
finde ſich Geld genug um ganz Frankreich mit antiſocialiſtiſchen Abhand-
lungen zu überſchwemmen, ſo zweifeln wir dennoch an einer gründlichen
Wirkung des Gegengiftes. Es iſt eine eigene Sache mit dieſem ſyſtema-
tiſchen und gleichſam officiellen Schulmeiſtern des Volks, das nun einmal
dazu geneigt iſt um ſo begieriger nach der verbotenen Frucht zu haſchen je
mehr man es vor derſelben warnt, und ſehr leicht könnte es den gewiß
höchſt verſtändigen Büchern die der Betein der Poitiersſtraße in die Welt
ſchicken wird, gerade ſo ergehen wie der „guten Preſſe“ in den cenſurbe-
glückten Ländern. Wir wollen damit nicht geſagt haben daß wir die Be-
lehrung des Volks durch Wort und Schrift für überflüſſig oder unnütz
halten, wir meinen nur daß man früher hätte daran denken ſollen, und daß
man durch Wort und Schrift allein nicht im Stande ſey den Socialismus
bei dem ungeheuren Vorſprung den er im Geiſte der Arbeiterclaſſen bat,
zu überholen. Hierzu bedarf es der That. Durch die That muß dem
Volke gezeigt werden wo ſeine wahren Freunde, und welche die ächten
Mittel ſind um das Joch der Noth unter dem es ſeufzt abzuſchütteln.
Zum Weisheitpredigen iſt es zu ſpät, man wird nur taube Ohren finden.
Wenn dagegen der Verein das beigeſteuerte Geld zu irgendeinem Unter-
nehmen beſtimmte das auch nur tauſend Familien Arbeit und Verdienſt
verſchaffte, ſo würde er dadurch der guten Sache mehr nützen und dem
Anſehen der Socialiſten mehr ſchaden als durch unzählige goldene Sprüche
und Lehren welche — man darf es mit Gewißheit vorherſagen — gerade
von jenen Leuten für die ſie beſtimmt find ungeleſen bleiben werden.
Schließlich bemerken wir daß, was die ſocialiſtiſche Tagespreſſe zu Paris
insbeſondere betrifft, ſie ihren finanziellen Flor vorzüglich der Neugierde
des Publicums verdankt. Wir übertreiben gewiß nicht wenn wir be-
haupten daß von den fünfzigtauſend Exemplaren des Peuple die täglich
abgeſetzt werden mehr als die Hälfte von ehrlichen Philiſtern gekauft
wird, die Hrn. Proudhon in den Abgrund der Hölle wünſchen, aber den-
noch am frühen Morgen nichts eiligeres zu thun haben als ſich für einen
Sous das Blatt an der nächſten Straßenecke zu holen. Ohne dieſe
Kunden wären die meiſten rothen Blätter längſt aus Mangel an Geld
untergegangen. Das ſollte der Verein der Poitiersſtraße den Leuten be-
greiflich zu machen ſuchen. Freilich dürfte der Socialismus noch leichter
zu beſiegen ſeyn als die Neugierde des Pariſer Spießbürgers. Unſere
radicalen Blätter die ſich über die Niederlage der Piemonteſen noch immer
nicht beruhigen können, vor allen Dingen aber die Unmacht der Oeſter-
reicher beweiſen wollen, verſichern heute ganz ernſthaft: in der Schlacht
von Novara hätten zwanzigtauſend Ruſſen in deutſcher Uniform
gefochten.
Die Schweiz und die auswärtige Politik.
▣ Aus der nördlichen Schweiz.
Die deutſche Kaiſerwahl
und der Ausgang des öſterreichiſch-italieniſchen Kriegs in Oberitalien
wurden hier ungefähr zu gleicher Zeit bekannt, und es war ſehr lehrreich
zu beobachten welchen Eindruck beide Ereigniſſe in der Schweiz hervor-
gebracht haben. Die deutſche Kaiſerwahl ließ die große Mehrheit der
Schweizer kalt und gleichgültig. Dieſe praktiſche Nation, hierin mit den
Franzoſen und Engländern übereinſtimmend, betrachtet jenen Culminations-
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(2022-09-09T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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