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Allgemeine Zeitung, Nr. 136, 22. März 1908.

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Sonntag. 22. März 1908. München. Einzige Tagesausgabe.--Nr. 136.
Allgemeine Zeitung.
Erscheint täglich 2 mal. -- Einhundertelfter Jahrgang.

Bezugspreis: Ausgabe B mit Wissenschastlicher Beilage und Internationaler Wochenschrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Post: 2.-- Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1.-- Mark. durch die Post bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerstraße 57, deren Filialen und sämtliche Zeitungs - Expeditionen; für
das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publishing Syndicate.
Ltd., 38 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Kliencksieck
in Paris; das übrige Europa; die Postämter; Orient: das k. k. Postamt in Wien oder in Triest; Nord-
amerika: F. W. Christern, E. Steiger & Co., Gust. E. Stechert, Westermann & Co., sämtlich in New York.

[Abbildung]

Insertionspreis: für die 7 gespaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt
40 Pfennig, im Abendblatt 30 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Gesuche 10 Pfennig.
Inseraten-Annahme in München: Expedition Bayerstraße 57, die Filialen der Allgemeinen
Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. -- Generalvertretungen: für Oesterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co.,
1 & 2 Snow Hill. Holborn - Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Systow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warschau: Kral - Borstadt 53.

Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politischen Teil mit Ausnahme der bayerischen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayerischen Teil Dr. Paul Busching; für das Feuilleton und den "Sonntag" Alfred Frhr. v. Mensi;
für die Wissenschaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle, für den Handelsteil Leo Jolles, sämtlich in München.
Redaktion: Bayerstraße 57 Telephon 8432, 8433. Druck und Verlag: Bayerische Druckerei & Verlagsanstalt, G. m. b. H., in München. Expedition: Bayerstraße 57. Telephon 8430, 8431.

[Spaltenumbruch]
Das Neueste vom Tage.

Die Verhandlung gegen den Schutzmann Schauer in
München, der den Studenten Moschel erschossen hat,
beginnt am 9. April vor dem Schwurgericht in
München.



Die Stichwahl im Reichstagswahlkreise Emden-Norden
ist auf den 1. April festgesetzt worden.



Da der Reichstagspräsident noch immer keine aus-
reichende Genugtuung gegeben hat, dauert der Streik
der Journalisten
im Reichstag fort.



Henry Ferman stellte mit seiner Flugmaschine einen
neuen Rekord von 2700 Meter auf.



England und die Balkanfragen.

Wollte man den Blättern Glauben schenken, so befände
das englische Volk sich in hochgradiger Erregung über die
mazedonische Reformfrage und blickte mit Ungeduld und
Unwillen auf den unbefriedigenden Stand der Dinge an
Ort und Stelle. In Wahrheit ist über die verwickelten
geographischen, politischen und sonstigen Verhältnisse auf
dem Balkan unter tausend englischen Zeitungslesern
schwerlich ein einziger halbwegs unterrichtet und der Rest
überschlägt mangels jeglichen Interesses die langen Leit-
artikel darüber. Er verliert dabei wenig, denn ihr Inhalt
gehört überwiegend in das Gebiet der höheren Kanne-
gießerei, deren einzige erfreuliche Seite zurzeit darin be-
steht, daß die anfangs beliebten Seitenhiebe auf Deutsch-
land und seine angebliche intellektuelle Urheberschaft der
Aehrenthalschen Projekte neuerdings unterblieben und
einer höflicheren Tonart gegen Oesterreich gewichen sind.

Augenblicklich ist Italien Hauptgegenstand englischer
Unzufriedenheit in diesem Zusammenhange. Die Erklä-
rungen Signor Tittonis werden von den Times als "ent-
täuschend" bezeichnet, während die Hoffnung, die der ita-
lienische Minister auf kollektives Vorgehen der Pforte gegen-
über auch in wirtschaftlichen Dingen setzt, durch Sofioter,
anderweit angeblich bestätigte Alarmnachrichten ad absur-
dum
zu führen gesucht wird, wonach am Goldenen Horn
gerade in Konzessionsfragen wieder einmal der Kampf aller
gegen alle herrscht und einzelne Regierungen auf Sonder-
vorteile viel zu erpicht sind, um sich einen Deut um Reform-
fragen zu scheren.

In rühmenswerten Gegensatz dazu wird in der Erörte-
rung der auch ohne formelle Veröffentlichung ihrem In-
halte nach schon zur Genüge bekannten jüngsten Note Sir
Edward Greys die hehre Selbstlosigkeit gebracht, von der
England sich in seiner Balkanpolitik leiten lasse. "Wir
verfolgen keinerlei egoistische Interessen territorialer, poli-
tischer oder kommerzieller Art. Wir arbeiten einzig und
allein für das Wohl der mazedonischen Bevölkerung. Man
würde die nötigen Fragezeichen hinter diese Versicherungen
der Times auch setzen dürfen ohne das naive Bekenntnis,
das der Standard sich gleichzeitig entschlüpfen läßt. Was
er reformieren möchte, ist, ohne alle Rücksicht auf das Wohl
und Wehe der mazedonischen Christen, vor allem das Ver-
hältnis Englands zum Sultan: "Als wir noch mit der Tür-
kei auf gutem Fuße standen, war der englische Botschafter
in Konstantinopel allmächtig. Stellen wir uns wieder
freundlicher zu ihm, so können wir viel von dem alten Ein-
fluß zurückgewinnen. Der Sultan kann England sehr nütz-
lich oder sehr unangenehm werden. Zählt König Eduard
doch mehr muselmännische Untertanen als irgend ein
anderer Monarch."

Folgerichtig wird die Greysche Note von demselben
Blatte als höchst inopportun bezeichnet, zumal England in
Anbetracht der europäischen Mächtekonstellation keinerlei
Mittel besitze, um seinen Forderungen Nachdruck zu ver-
leihen. Der mutmaßliche Erfolg der Note wird allgemein
sehr skeptisch beurteilt. Hier und da verbirgt diese Skepsis
sich hinter großen Worten. So charakterisiert der Daily
Graphic die Greyschen Vorschläge, über deren Effekt er sich
gar keinen Illusionen hingibt, als ein Ultimatum an das
europäische Konzert, "dessen tragischer Impotenz ganz Eng-
land todesüberdrüssig ist".

Ganz England interessiert sich überhaupt nicht für
mazedonische Reformen, sondern, zumal im gegenwärtigen
Augenblick, ausschließlich für die durch die liberale Schank-
novelle erstrebte Wirtshausreform. An welcher Stelle aber
die Leiter der ja nicht von dem "man in the street" diri-
gierten englischen Auslandspolitik ein Interesse daran
haben, einen Keil in das Balkankonzert zu treiben, ist be-
kannt, und es wird Sache der mitteleuropäischen Diplo-
matie sein, die Erfüllung dieses unfrommen Wunsches zu
verhindern.

[Spaltenumbruch]
Die Wahlreform im Königreich Sachsen.

Seit der berüchtigten Rückwärtsrevidierung des sächsi-
schen Wahlrechts durch das Wahlgesetz vom 28. März 1896
liegt es wie ein Alp auf dem Königreich. Das Gefühl, daß
dieses neue Wahlrecht, das im Laufe von fünf Jahren mit
der Sicherheit einer Maschine auch den letzten Sozialdemo-
kraten aus der Volksvertretung entfernte, ein Unrecht
sei, lastete schwer auf allen unbefangenen Gemütern, und
wenn zwei Jahre nach dem Abschluß jener Reinigungs-
prozedur von den 23 sächsischen Reichstagsmandaten 22 in
sozialdemokratische Hände fielen, so hat man sich zwar auf
den Standpunkt stellen wollen, daß die blutrote Frucht des
Reichstagswahlrechts die Schaffung wirksamer Kautelen
für den Landtag nachträglich vollends ganz rechtfertige --
aber diese Logik kam nicht auf gegen die Stimme des poli-
tischen Gewissens, die da sagte: Es ist nicht recht, eine so
große Partei, einen so großen Teil des Volkes von jeder
Vertretung im Landtag auszuschließen. Und so war die
Frage einer erneuten Reform spruchreif und mehr als
spruchreif, als bei den Reichstagswahlen von 1906 die ge-
einte Kraft des Bürgertums und insbesondere auch die rege
Mitarbeit der liberalen Kreise den sozialdemokratischen
Besitzstand auf 8 Reichstagsmandate zu reduzieren ver-
mochte, so daß der Name rotes Königreich der Vergangen-
heit anzugehören schien. Man beschloß denn auch, die schon
seit einiger Zeit in Gang befindlichen Vorarbeiten für ein
neues Landtagswahlgesetz mit erneuter Kraft aufzu-
nehmen, und der Nachfolger des Herrn v. Metzsch, Graf
Hohenthal, schien die Losung dieser Aufgabe als seine erste
Pflicht zu betrachten.

Die Wahlreform, welche die Regierung dem Landtag
vorlegte, besorgte freilich gern und gut die Geschäfte der
Mehrheit. Sie sah zu dem Zweck eine Zweiteilung
der Zweiten Kammer
vor: den einen Teil sollten
alle sächsischen Staatsbürger erküren, aber der andere Teil
sollte von den Kommunalverbänden gewählt werden. Auf
einem kleinen Umwege sollte die sächsische Volksvertretung
mit einer Standesvertretung durchsetzt, vas allgemeine
Wahlrecht durch eine Vertretung einzelner Standes- und
Berufsinteressen korrigiert werden. Rechte Freude berei-
tete der Entwurf keiner Partei. Die Freisinnigen vertraten
ihm gegenüber um so nachdrücklicher ihre Forderung der
Einführung des Reichstagswahlrechts, die Nationallibe-
ralen verlangten ein gleichgestaltetes Wahlrecht durch das
ganze. Land mit Pluralstimmen, und den Konservativen
war die Versicherung auf Erhaltung ihrer Macht nicht zu-
verlässig genug: noch waren ihnen die ländlichen Wahl-
kreise auch für die allgemeinen Wahlen sicher und noch
waren die Kommunalverbände ihren Geistes voll: aber die
freisinnige und liberale Bewegung griff um sich, und sie
zerbrach, als inzwischen eine Drittelnenwahl zur Zweiten
Kammer fällig wurde, die bisherige Zweidrittelmehrheit
der Konservativen.

Die Deputation -- so nennt die sächsische Kammer
einen Ausschuß -- beriet inzwischen bei verschlossenen Türen
die Wahlreform und die Anträge der Parteien. Es hieß,
in dem Deputationszimmer sei von diesem und jenem viel
die Rede, nur nicht von dem Regierungsentwurfe, und ein
andermal verlautete, die Regierung verlange jetzt endlich
die Beratung ihrer Vorschläge. Die Geheimniskrämerei
der Kommission erregte Unwillen, und nach einer Ver-
handlung dieser Frage in der Kammer mußte die Depu-
tation die Oeffentlichkeit ihrer Sitzungen zugestehen. Da-
mit ist eine Wendung in der Frage der sächsi-
schen Wahlreform
eingetreten, wie man im Inter-
esse des Landes hoffen muß: eine Wendung zum Besseren.
Unter der Kontrolle der Oeffentlichkeit wird die Verschlep-
pungspolitik, die bis jetzt allem Anschein nach dort geübt
worden ist, ihr Ende finden, und man wird, statt sich in
unfruchtbaren theoretischen Auseinandersetzungen zu er-
gehen, an die praktische Lösung der Aufgabe gehen müssen.
Den ersten Schritt dazu hat die Regierung selbst getan, in-
dem sie einmal einen neuen Vorschlag der Kommission
unterbreitet hat, und indem zweitens der Minister des
Innern Graf v. Hohenthal und Bergen in einen kurzen
Urlaub gegangen ist, während dessen der Verhandlung von
Partei zu Partei freie Bahn geschaffen ist.

Der neue Vorschlag der Regierung will die
"ständige" Vertretung in der Zweiten Kammer zugunsten
der Städte etwas abmildern. Die Regierung will nämlich
neun Wahlkreise schaffen, von denen die Städte Dresden,
Leipzig und Chemnitz, sowie die fünf um das Gebiet der
exempten Städte verminderten kreishauptmannschaftlichen
Bezirke je einen, die Städte Plauen und Zwickau zusam-
men einen Wahlkreis bilden sollen. In den Städten Dres-
den und Leipzig sollen je zwei, in der Stadt Chemnitz und
dem Wahlkreise Plauen-Zwickau je ein Abgeordneter ge-
wählt werden; in dem kreishauptmannschaftlichen Bezirke
Bautzen sollen vier Abgeordnete, in den kreishauptmann-
schaftlichen Bezirken Chemnitz, Leipzig und Zwickau werden
je fünf und in dem kreishauptmannschaftlichen Bezirke
Dresden werden sechs Abgeordnete gewählt werden.

[Spaltenumbruch]

Diese 31 Sonderabgeordneten sollen natürlich auch
wieder nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, sondern
von kleinen Zirkeln bestimmt werden: in den Städten vom
Stadtrat und den Stadtverordneten, in den kreishaupt-
mannschaftlichen Bezirken von den Bezirksversammlungen,
Handels- und Gewerbekammern und vom Landeskulturrat,
wobei unter gewissen Bedingungen der Landeskulturrat
noch durch Landwirte "ergänzt" werden soll. Es ist aner-
kennenswert, daß die sächsische Regierung sich mit diesem
Aenderungsvorschlag etwas von der Vertretung der konser-
vativen Parteiinteressen losgelöst hat, aber sie wird, wenn
sie eine Wahlreform zustande bringen will, die auf
Jahre hinaus
dem Lande eine ruhige Entwicklung im
Innern sichert, überhaupt darauf verzichten müssen, die
Volksvertretung mit einer irgendwie gearteten Interessen-
vertretung zu vermengen. Die Vertreter der einzelnen
großen Erwerbsgruppen gehören, wie die Entwicklung des
Staatsrechts zeigt, in die Erste Kammer. Zu den Wahlen
für die Zweite Kammer ist das ganze Volk berufen, und
die Frage kann nur die sein, einen Weg zu finden, der
Stimme jedes einzelnen
nach seiner Bildung,
seinem Besitz und seinem Alter das entsprechende
Gewicht
zu verleihen. Wenn es der sächsischen Regie-
rung nicht gelingt, für ein derartiges allgemeines Wahl-
recht, das natürlich geheim und direkt sein muß, eine Mehr-
heit im Landtage zu schaffen, so ist eine Auflösung des
Landtages unvermeidlich. Die letzten Erneuerungswahlen
haben gezeigt, daß der Zug nach links die konservative
Mehrheit wegfegen wird, und damit wäre Raum gegeben
für eine Wahlreform in fortschrittlichem Sinne, zu Nutzen
und Frommen des ehemals "roten" Königreiches.



Politische Rundschau.
Emden-Norden.

*** Die Reichstagsersatzwahl in dem hanno-
verschen Wahlkreise Emden-Norden an Stelle des verstor-
benen Konservativen Fürsten zu Inn- und Knyphausen hat
für den Gesamtliberalismus ein höchst er-
freuliches Ergebnis
gezeitigt. Der Wahlkreis ist
allerdings durch eine große Reihe von Wahlperioden hin-
durch in nationalliberalem Besitze gewesen, war aber, nach-
dem der im Wahlkreise angesessene Fürst zu Inn- und
Knyphausen als Bewerber aufgetreten war, verloren ge-
gangen und über ein Jahrzehnt in den Händen der Kon-
servativen geblieben; im Laufe der Jahre löste sich die na-
tionalliberale Organisation -- unbegreiflicherweise --
völlig auf, und neben der Sozialdemokratie erhob sich eine
freisinnige Opposition, die bei der letzten Wahl eine Stich-
wahl erzwang, in der der Fürst nur mit 12,344 gegen
12,151 Stimmen siegen konnte. Im ersten Wahlgang waren
1907 11,487 konservative, 8151 freisinnige und 3711 sozial-
demokratische Stimmen abgegeben worden. Der greise
Fürst zu Inn- und Knyphausen lag noch im Todeskampfe,
als schon die Antisemiten Liebermannscher Färbung einen
Propagandazug durch den Wahlkreis unternahmen und
damit die Konservativen derart überraschten und erschreck-
ten, daß sie der ihnen vorgeschlagenen Kandidatur Groene-
velds, die den Wählern unter der Deckadresse der Wirt-
schaftlichen Bereinigung
präsentiert wurde, zu-
stimmten. Die Herren um Liebermann waren in guter
Siegeszuversicht: in nahezu 300 Versammlungen hatten sie,
wie sie stolz verkündeten, zur Wählerschaft gesprochen; eine
Rekordleistung. Der Wahlgang am Donnerstag brachte
ihnen 6579 Stimmen, d. h. fünftausend Stimmen oder 45
Prozent weniger als vor Jahresfrist auf den konservativen
Kandidaten gefallen waren; auch das dürfte einen Rekord
darstellen. Diese fünftausend Stimmen sind fast restlos dem
nationalliberalen Kandidaten Geheimrat
Fürbringer zugefallen, der 4905 Stimmen auf sich vereinte.
In Anbetracht des Umstandes, daß die Partei den Wahl-
kampf damit einleiten mußte, daß sie sich erst eine neue
Organisation schuf, hat die Partei gut abgeschnitten; das
Wahlergebnis zeigt, daß die Nationalliberalen recht und
gut daran taten, unbekümmert um die Einreden und Vor-
würfe von rechts und links, selbständig in den Wahlkampf
einzutreten; das Wahlergebnis vom Donnerstag stellte ihr
einen guten Wechsel für die Zukunft aus. Helle Freude
herrscht natürlich bei den Freisinnigen. Ihr Kan-
didat, ein im Wahlkreise angesehener Landwirt Fetger,
hat die meisten Stimmen auf sich vereint: 8816, und damit
fast 700 Stimmen mehr erhalten, als am 25. Januar der
Freisinnige Garrels; diese 700 Stimmen sind anscheinend
aus dem sozialdemokratischen Lager gekom-
men, wo sich diesmal 3115 gegen 3711 Wähler zusammen-
fanden. Die Freisinnigen -- Fetger wird sich der Frei-
sinnigen Vereinigung anschließen -- haben große Anstren-
gungen im Wahlkampfe gemacht, die Abgeordneten Nau-
mann, Hormann, Graf Bothmer, Potthoff, Neumann-
Hofer, Dohrn und Strupe griffen rednerisch in die Agita-
tion ein; sie sehen ihre Mühe jetzt belohnt, denn es unter-
liegt keinem Zweifel, daß die Nationalliberalen ihnen in
der Stichwahl ihre Stimmen zuführen; eine national-

Sonntag. 22. März 1908. München. Einzige Tagesausgabe.—Nr. 136.
Allgemeine Zeitung.
Erſcheint täglich 2 mal. — Einhundertelfter Jahrgang.

Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaſtlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in
München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2.— Mark monatlich. Ausgabe A (ohne
Beilage) in München 1.— Mark. durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für
München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs - Expeditionen; für
das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate.
Ltd., 38 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Klienckſieck
in Paris; das übrige Europa; die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord-
amerika: F. W. Chriſtern, E. Steiger & Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann & Co., ſämtlich in New York.

[Abbildung]

Inſertionspreis: für die 7 geſpaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt
40 Pfennig, im Abendblatt 30 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig.
Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen
Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn
in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co.,
31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co.,
1 & 2 Snow Hill. Holborn - Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau.
Mjasnitzkaja Haus Syſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral - Borſtadt 53.

Chefredakteur: Dr. Hermann Diez.
Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi;
für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle, für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München.
Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431.

[Spaltenumbruch]
Das Neueſte vom Tage.

Die Verhandlung gegen den Schutzmann Schauer in
München, der den Studenten Moſchel erſchoſſen hat,
beginnt am 9. April vor dem Schwurgericht in
München.



Die Stichwahl im Reichstagswahlkreiſe Emden-Norden
iſt auf den 1. April feſtgeſetzt worden.



Da der Reichstagspräſident noch immer keine aus-
reichende Genugtuung gegeben hat, dauert der Streik
der Journaliſten
im Reichstag fort.



Henry Ferman ſtellte mit ſeiner Flugmaſchine einen
neuen Rekord von 2700 Meter auf.



England und die Balkanfragen.

Wollte man den Blättern Glauben ſchenken, ſo befände
das engliſche Volk ſich in hochgradiger Erregung über die
mazedoniſche Reformfrage und blickte mit Ungeduld und
Unwillen auf den unbefriedigenden Stand der Dinge an
Ort und Stelle. In Wahrheit iſt über die verwickelten
geographiſchen, politiſchen und ſonſtigen Verhältniſſe auf
dem Balkan unter tauſend engliſchen Zeitungsleſern
ſchwerlich ein einziger halbwegs unterrichtet und der Reſt
überſchlägt mangels jeglichen Intereſſes die langen Leit-
artikel darüber. Er verliert dabei wenig, denn ihr Inhalt
gehört überwiegend in das Gebiet der höheren Kanne-
gießerei, deren einzige erfreuliche Seite zurzeit darin be-
ſteht, daß die anfangs beliebten Seitenhiebe auf Deutſch-
land und ſeine angebliche intellektuelle Urheberſchaft der
Aehrenthalſchen Projekte neuerdings unterblieben und
einer höflicheren Tonart gegen Oeſterreich gewichen ſind.

Augenblicklich iſt Italien Hauptgegenſtand engliſcher
Unzufriedenheit in dieſem Zuſammenhange. Die Erklä-
rungen Signor Tittonis werden von den Times als „ent-
täuſchend“ bezeichnet, während die Hoffnung, die der ita-
lieniſche Miniſter auf kollektives Vorgehen der Pforte gegen-
über auch in wirtſchaftlichen Dingen ſetzt, durch Sofioter,
anderweit angeblich beſtätigte Alarmnachrichten ad absur-
dum
zu führen geſucht wird, wonach am Goldenen Horn
gerade in Konzeſſionsfragen wieder einmal der Kampf aller
gegen alle herrſcht und einzelne Regierungen auf Sonder-
vorteile viel zu erpicht ſind, um ſich einen Deut um Reform-
fragen zu ſcheren.

In rühmenswerten Gegenſatz dazu wird in der Erörte-
rung der auch ohne formelle Veröffentlichung ihrem In-
halte nach ſchon zur Genüge bekannten jüngſten Note Sir
Edward Greys die hehre Selbſtloſigkeit gebracht, von der
England ſich in ſeiner Balkanpolitik leiten laſſe. „Wir
verfolgen keinerlei egoiſtiſche Intereſſen territorialer, poli-
tiſcher oder kommerzieller Art. Wir arbeiten einzig und
allein für das Wohl der mazedoniſchen Bevölkerung. Man
würde die nötigen Fragezeichen hinter dieſe Verſicherungen
der Times auch ſetzen dürfen ohne das naive Bekenntnis,
das der Standard ſich gleichzeitig entſchlüpfen läßt. Was
er reformieren möchte, iſt, ohne alle Rückſicht auf das Wohl
und Wehe der mazedoniſchen Chriſten, vor allem das Ver-
hältnis Englands zum Sultan: „Als wir noch mit der Tür-
kei auf gutem Fuße ſtanden, war der engliſche Botſchafter
in Konſtantinopel allmächtig. Stellen wir uns wieder
freundlicher zu ihm, ſo können wir viel von dem alten Ein-
fluß zurückgewinnen. Der Sultan kann England ſehr nütz-
lich oder ſehr unangenehm werden. Zählt König Eduard
doch mehr muſelmänniſche Untertanen als irgend ein
anderer Monarch.“

Folgerichtig wird die Greyſche Note von demſelben
Blatte als höchſt inopportun bezeichnet, zumal England in
Anbetracht der europäiſchen Mächtekonſtellation keinerlei
Mittel beſitze, um ſeinen Forderungen Nachdruck zu ver-
leihen. Der mutmaßliche Erfolg der Note wird allgemein
ſehr ſkeptiſch beurteilt. Hier und da verbirgt dieſe Skepſis
ſich hinter großen Worten. So charakteriſiert der Daily
Graphic die Greyſchen Vorſchläge, über deren Effekt er ſich
gar keinen Illuſionen hingibt, als ein Ultimatum an das
europäiſche Konzert, „deſſen tragiſcher Impotenz ganz Eng-
land todesüberdrüſſig iſt“.

Ganz England intereſſiert ſich überhaupt nicht für
mazedoniſche Reformen, ſondern, zumal im gegenwärtigen
Augenblick, ausſchließlich für die durch die liberale Schank-
novelle erſtrebte Wirtshausreform. An welcher Stelle aber
die Leiter der ja nicht von dem „man in the street“ diri-
gierten engliſchen Auslandspolitik ein Intereſſe daran
haben, einen Keil in das Balkankonzert zu treiben, iſt be-
kannt, und es wird Sache der mitteleuropäiſchen Diplo-
matie ſein, die Erfüllung dieſes unfrommen Wunſches zu
verhindern.

[Spaltenumbruch]
Die Wahlreform im Königreich Sachſen.

Seit der berüchtigten Rückwärtsrevidierung des ſächſi-
ſchen Wahlrechts durch das Wahlgeſetz vom 28. März 1896
liegt es wie ein Alp auf dem Königreich. Das Gefühl, daß
dieſes neue Wahlrecht, das im Laufe von fünf Jahren mit
der Sicherheit einer Maſchine auch den letzten Sozialdemo-
kraten aus der Volksvertretung entfernte, ein Unrecht
ſei, laſtete ſchwer auf allen unbefangenen Gemütern, und
wenn zwei Jahre nach dem Abſchluß jener Reinigungs-
prozedur von den 23 ſächſiſchen Reichstagsmandaten 22 in
ſozialdemokratiſche Hände fielen, ſo hat man ſich zwar auf
den Standpunkt ſtellen wollen, daß die blutrote Frucht des
Reichstagswahlrechts die Schaffung wirkſamer Kautelen
für den Landtag nachträglich vollends ganz rechtfertige —
aber dieſe Logik kam nicht auf gegen die Stimme des poli-
tiſchen Gewiſſens, die da ſagte: Es iſt nicht recht, eine ſo
große Partei, einen ſo großen Teil des Volkes von jeder
Vertretung im Landtag auszuſchließen. Und ſo war die
Frage einer erneuten Reform ſpruchreif und mehr als
ſpruchreif, als bei den Reichstagswahlen von 1906 die ge-
einte Kraft des Bürgertums und insbeſondere auch die rege
Mitarbeit der liberalen Kreiſe den ſozialdemokratiſchen
Beſitzſtand auf 8 Reichstagsmandate zu reduzieren ver-
mochte, ſo daß der Name rotes Königreich der Vergangen-
heit anzugehören ſchien. Man beſchloß denn auch, die ſchon
ſeit einiger Zeit in Gang befindlichen Vorarbeiten für ein
neues Landtagswahlgeſetz mit erneuter Kraft aufzu-
nehmen, und der Nachfolger des Herrn v. Metzſch, Graf
Hohenthal, ſchien die Loſung dieſer Aufgabe als ſeine erſte
Pflicht zu betrachten.

Die Wahlreform, welche die Regierung dem Landtag
vorlegte, beſorgte freilich gern und gut die Geſchäfte der
Mehrheit. Sie ſah zu dem Zweck eine Zweiteilung
der Zweiten Kammer
vor: den einen Teil ſollten
alle ſächſiſchen Staatsbürger erküren, aber der andere Teil
ſollte von den Kommunalverbänden gewählt werden. Auf
einem kleinen Umwege ſollte die ſächſiſche Volksvertretung
mit einer Standesvertretung durchſetzt, vas allgemeine
Wahlrecht durch eine Vertretung einzelner Standes- und
Berufsintereſſen korrigiert werden. Rechte Freude berei-
tete der Entwurf keiner Partei. Die Freiſinnigen vertraten
ihm gegenüber um ſo nachdrücklicher ihre Forderung der
Einführung des Reichstagswahlrechts, die Nationallibe-
ralen verlangten ein gleichgeſtaltetes Wahlrecht durch das
ganze. Land mit Pluralſtimmen, und den Konſervativen
war die Verſicherung auf Erhaltung ihrer Macht nicht zu-
verläſſig genug: noch waren ihnen die ländlichen Wahl-
kreiſe auch für die allgemeinen Wahlen ſicher und noch
waren die Kommunalverbände ihren Geiſtes voll: aber die
freiſinnige und liberale Bewegung griff um ſich, und ſie
zerbrach, als inzwiſchen eine Drittelnenwahl zur Zweiten
Kammer fällig wurde, die bisherige Zweidrittelmehrheit
der Konſervativen.

Die Deputation — ſo nennt die ſächſiſche Kammer
einen Ausſchuß — beriet inzwiſchen bei verſchloſſenen Türen
die Wahlreform und die Anträge der Parteien. Es hieß,
in dem Deputationszimmer ſei von dieſem und jenem viel
die Rede, nur nicht von dem Regierungsentwurfe, und ein
andermal verlautete, die Regierung verlange jetzt endlich
die Beratung ihrer Vorſchläge. Die Geheimniskrämerei
der Kommiſſion erregte Unwillen, und nach einer Ver-
handlung dieſer Frage in der Kammer mußte die Depu-
tation die Oeffentlichkeit ihrer Sitzungen zugeſtehen. Da-
mit iſt eine Wendung in der Frage der ſächſi-
ſchen Wahlreform
eingetreten, wie man im Inter-
eſſe des Landes hoffen muß: eine Wendung zum Beſſeren.
Unter der Kontrolle der Oeffentlichkeit wird die Verſchlep-
pungspolitik, die bis jetzt allem Anſchein nach dort geübt
worden iſt, ihr Ende finden, und man wird, ſtatt ſich in
unfruchtbaren theoretiſchen Auseinanderſetzungen zu er-
gehen, an die praktiſche Löſung der Aufgabe gehen müſſen.
Den erſten Schritt dazu hat die Regierung ſelbſt getan, in-
dem ſie einmal einen neuen Vorſchlag der Kommiſſion
unterbreitet hat, und indem zweitens der Miniſter des
Innern Graf v. Hohenthal und Bergen in einen kurzen
Urlaub gegangen iſt, während deſſen der Verhandlung von
Partei zu Partei freie Bahn geſchaffen iſt.

Der neue Vorſchlag der Regierung will die
„ſtändige“ Vertretung in der Zweiten Kammer zugunſten
der Städte etwas abmildern. Die Regierung will nämlich
neun Wahlkreiſe ſchaffen, von denen die Städte Dresden,
Leipzig und Chemnitz, ſowie die fünf um das Gebiet der
exempten Städte verminderten kreishauptmannſchaftlichen
Bezirke je einen, die Städte Plauen und Zwickau zuſam-
men einen Wahlkreis bilden ſollen. In den Städten Dres-
den und Leipzig ſollen je zwei, in der Stadt Chemnitz und
dem Wahlkreiſe Plauen-Zwickau je ein Abgeordneter ge-
wählt werden; in dem kreishauptmannſchaftlichen Bezirke
Bautzen ſollen vier Abgeordnete, in den kreishauptmann-
ſchaftlichen Bezirken Chemnitz, Leipzig und Zwickau werden
je fünf und in dem kreishauptmannſchaftlichen Bezirke
Dresden werden ſechs Abgeordnete gewählt werden.

[Spaltenumbruch]

Dieſe 31 Sonderabgeordneten ſollen natürlich auch
wieder nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, ſondern
von kleinen Zirkeln beſtimmt werden: in den Städten vom
Stadtrat und den Stadtverordneten, in den kreishaupt-
mannſchaftlichen Bezirken von den Bezirksverſammlungen,
Handels- und Gewerbekammern und vom Landeskulturrat,
wobei unter gewiſſen Bedingungen der Landeskulturrat
noch durch Landwirte „ergänzt“ werden ſoll. Es iſt aner-
kennenswert, daß die ſächſiſche Regierung ſich mit dieſem
Aenderungsvorſchlag etwas von der Vertretung der konſer-
vativen Parteiintereſſen losgelöſt hat, aber ſie wird, wenn
ſie eine Wahlreform zuſtande bringen will, die auf
Jahre hinaus
dem Lande eine ruhige Entwicklung im
Innern ſichert, überhaupt darauf verzichten müſſen, die
Volksvertretung mit einer irgendwie gearteten Intereſſen-
vertretung zu vermengen. Die Vertreter der einzelnen
großen Erwerbsgruppen gehören, wie die Entwicklung des
Staatsrechts zeigt, in die Erſte Kammer. Zu den Wahlen
für die Zweite Kammer iſt das ganze Volk berufen, und
die Frage kann nur die ſein, einen Weg zu finden, der
Stimme jedes einzelnen
nach ſeiner Bildung,
ſeinem Beſitz und ſeinem Alter das entſprechende
Gewicht
zu verleihen. Wenn es der ſächſiſchen Regie-
rung nicht gelingt, für ein derartiges allgemeines Wahl-
recht, das natürlich geheim und direkt ſein muß, eine Mehr-
heit im Landtage zu ſchaffen, ſo iſt eine Auflöſung des
Landtages unvermeidlich. Die letzten Erneuerungswahlen
haben gezeigt, daß der Zug nach links die konſervative
Mehrheit wegfegen wird, und damit wäre Raum gegeben
für eine Wahlreform in fortſchrittlichem Sinne, zu Nutzen
und Frommen des ehemals „roten“ Königreiches.



Politiſche Rundſchau.
Emden-Norden.

*** Die Reichstagserſatzwahl in dem hanno-
verſchen Wahlkreiſe Emden-Norden an Stelle des verſtor-
benen Konſervativen Fürſten zu Inn- und Knyphauſen hat
für den Geſamtliberalismus ein höchſt er-
freuliches Ergebnis
gezeitigt. Der Wahlkreis iſt
allerdings durch eine große Reihe von Wahlperioden hin-
durch in nationalliberalem Beſitze geweſen, war aber, nach-
dem der im Wahlkreiſe angeſeſſene Fürſt zu Inn- und
Knyphauſen als Bewerber aufgetreten war, verloren ge-
gangen und über ein Jahrzehnt in den Händen der Kon-
ſervativen geblieben; im Laufe der Jahre löſte ſich die na-
tionalliberale Organiſation — unbegreiflicherweiſe —
völlig auf, und neben der Sozialdemokratie erhob ſich eine
freiſinnige Oppoſition, die bei der letzten Wahl eine Stich-
wahl erzwang, in der der Fürſt nur mit 12,344 gegen
12,151 Stimmen ſiegen konnte. Im erſten Wahlgang waren
1907 11,487 konſervative, 8151 freiſinnige und 3711 ſozial-
demokratiſche Stimmen abgegeben worden. Der greiſe
Fürſt zu Inn- und Knyphauſen lag noch im Todeskampfe,
als ſchon die Antiſemiten Liebermannſcher Färbung einen
Propagandazug durch den Wahlkreis unternahmen und
damit die Konſervativen derart überraſchten und erſchreck-
ten, daß ſie der ihnen vorgeſchlagenen Kandidatur Groene-
velds, die den Wählern unter der Deckadreſſe der Wirt-
ſchaftlichen Bereinigung
präſentiert wurde, zu-
ſtimmten. Die Herren um Liebermann waren in guter
Siegeszuverſicht: in nahezu 300 Verſammlungen hatten ſie,
wie ſie ſtolz verkündeten, zur Wählerſchaft geſprochen; eine
Rekordleiſtung. Der Wahlgang am Donnerstag brachte
ihnen 6579 Stimmen, d. h. fünftauſend Stimmen oder 45
Prozent weniger als vor Jahresfriſt auf den konſervativen
Kandidaten gefallen waren; auch das dürfte einen Rekord
darſtellen. Dieſe fünftauſend Stimmen ſind faſt reſtlos dem
nationalliberalen Kandidaten Geheimrat
Fürbringer zugefallen, der 4905 Stimmen auf ſich vereinte.
In Anbetracht des Umſtandes, daß die Partei den Wahl-
kampf damit einleiten mußte, daß ſie ſich erſt eine neue
Organiſation ſchuf, hat die Partei gut abgeſchnitten; das
Wahlergebnis zeigt, daß die Nationalliberalen recht und
gut daran taten, unbekümmert um die Einreden und Vor-
würfe von rechts und links, ſelbſtändig in den Wahlkampf
einzutreten; das Wahlergebnis vom Donnerstag ſtellte ihr
einen guten Wechſel für die Zukunft aus. Helle Freude
herrſcht natürlich bei den Freiſinnigen. Ihr Kan-
didat, ein im Wahlkreiſe angeſehener Landwirt Fetger,
hat die meiſten Stimmen auf ſich vereint: 8816, und damit
faſt 700 Stimmen mehr erhalten, als am 25. Januar der
Freiſinnige Garrels; dieſe 700 Stimmen ſind anſcheinend
aus dem ſozialdemokratiſchen Lager gekom-
men, wo ſich diesmal 3115 gegen 3711 Wähler zuſammen-
fanden. Die Freiſinnigen — Fetger wird ſich der Frei-
ſinnigen Vereinigung anſchließen — haben große Anſtren-
gungen im Wahlkampfe gemacht, die Abgeordneten Nau-
mann, Hormann, Graf Bothmer, Potthoff, Neumann-
Hofer, Dohrn und Strupe griffen redneriſch in die Agita-
tion ein; ſie ſehen ihre Mühe jetzt belohnt, denn es unter-
liegt keinem Zweifel, daß die Nationalliberalen ihnen in
der Stichwahl ihre Stimmen zuführen; eine national-

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[0001] Sonntag. 22. März 1908. München. Einzige Tagesausgabe.—Nr. 136. Allgemeine Zeitung. Erſcheint täglich 2 mal. — Einhundertelfter Jahrgang. Bezugspreis: Ausgabe B mit Wiſſenſchaſtlicher Beilage und Internationaler Wochenſchrift in München 1.50 Mark monatlich frei ins Haus; durch die Poſt: 2.— Mark monatlich. Ausgabe A (ohne Beilage) in München 1.— Mark. durch die Poſt bezogen 1.50 Mark monatlich. Abonnements für München: Expedition Bayerſtraße 57, deren Filialen und ſämtliche Zeitungs - Expeditionen; für das Ausland: England: A. Siegle, 30 Lime Str. und The Anglo-Foreign Publiſhing Syndicate. Ltd., 38 Coleman Str., in London; Frankreich, Portugal und Spanien: A. Ammel u. C. Klienckſieck in Paris; das übrige Europa; die Poſtämter; Orient: das k. k. Poſtamt in Wien oder in Trieſt; Nord- amerika: F. W. Chriſtern, E. Steiger & Co., Guſt. E. Stechert, Weſtermann & Co., ſämtlich in New York. [Abbildung] Inſertionspreis: für die 7 geſpaltene Kolonelzeile oder deren Raum im Morgenblatt 40 Pfennig, im Abendblatt 30 Pfennig, Lokale Anzeigen nach Tarif. Stellen-Geſuche 10 Pfennig. Inſeraten-Annahme in München: Expedition Bayerſtraße 57, die Filialen der Allgemeinen Zeitung und alle Annoncen-Expeditionen. — Generalvertretungen: für Oeſterreich-Ungarn in Wien V/I, Schönbrunner Str. 48 (Richard Jahn); Frankreich: John F. Jones & Co., 31 bis Rue du Faubourg Montmartre in Paris; England: John F. Jones & Co., 1 & 2 Snow Hill. Holborn - Viadukt, London; Rußland: L. & E. Metzl & Co., Moskau. Mjasnitzkaja Haus Syſtow, St. Petersburg, Morskaja 11; Warſchau: Kral - Borſtadt 53. Chefredakteur: Dr. Hermann Diez. Verantwortlich: für den politiſchen Teil mit Ausnahme der bayeriſchen Politik Dr. Rudolf Dammert; für den bayeriſchen Teil Dr. Paul Buſching; für das Feuilleton und den „Sonntag“ Alfred Frhr. v. Menſi; für die Wiſſenſchaftliche Beilage Dr. Oskar Bulle, für den Handelsteil Leo Jolles, ſämtlich in München. Redaktion: Bayerſtraße 57 Telephon 8432, 8433. Druck und Verlag: Bayeriſche Druckerei & Verlagsanſtalt, G. m. b. H., in München. Expedition: Bayerſtraße 57. Telephon 8430, 8431. Das Neueſte vom Tage. Die Verhandlung gegen den Schutzmann Schauer in München, der den Studenten Moſchel erſchoſſen hat, beginnt am 9. April vor dem Schwurgericht in München. Die Stichwahl im Reichstagswahlkreiſe Emden-Norden iſt auf den 1. April feſtgeſetzt worden. Da der Reichstagspräſident noch immer keine aus- reichende Genugtuung gegeben hat, dauert der Streik der Journaliſten im Reichstag fort. Henry Ferman ſtellte mit ſeiner Flugmaſchine einen neuen Rekord von 2700 Meter auf. England und die Balkanfragen. Unſer Londoner v. Z.-Korreſpondent ſchreibt: London, 19. März. Wollte man den Blättern Glauben ſchenken, ſo befände das engliſche Volk ſich in hochgradiger Erregung über die mazedoniſche Reformfrage und blickte mit Ungeduld und Unwillen auf den unbefriedigenden Stand der Dinge an Ort und Stelle. In Wahrheit iſt über die verwickelten geographiſchen, politiſchen und ſonſtigen Verhältniſſe auf dem Balkan unter tauſend engliſchen Zeitungsleſern ſchwerlich ein einziger halbwegs unterrichtet und der Reſt überſchlägt mangels jeglichen Intereſſes die langen Leit- artikel darüber. Er verliert dabei wenig, denn ihr Inhalt gehört überwiegend in das Gebiet der höheren Kanne- gießerei, deren einzige erfreuliche Seite zurzeit darin be- ſteht, daß die anfangs beliebten Seitenhiebe auf Deutſch- land und ſeine angebliche intellektuelle Urheberſchaft der Aehrenthalſchen Projekte neuerdings unterblieben und einer höflicheren Tonart gegen Oeſterreich gewichen ſind. Augenblicklich iſt Italien Hauptgegenſtand engliſcher Unzufriedenheit in dieſem Zuſammenhange. Die Erklä- rungen Signor Tittonis werden von den Times als „ent- täuſchend“ bezeichnet, während die Hoffnung, die der ita- lieniſche Miniſter auf kollektives Vorgehen der Pforte gegen- über auch in wirtſchaftlichen Dingen ſetzt, durch Sofioter, anderweit angeblich beſtätigte Alarmnachrichten ad absur- dum zu führen geſucht wird, wonach am Goldenen Horn gerade in Konzeſſionsfragen wieder einmal der Kampf aller gegen alle herrſcht und einzelne Regierungen auf Sonder- vorteile viel zu erpicht ſind, um ſich einen Deut um Reform- fragen zu ſcheren. In rühmenswerten Gegenſatz dazu wird in der Erörte- rung der auch ohne formelle Veröffentlichung ihrem In- halte nach ſchon zur Genüge bekannten jüngſten Note Sir Edward Greys die hehre Selbſtloſigkeit gebracht, von der England ſich in ſeiner Balkanpolitik leiten laſſe. „Wir verfolgen keinerlei egoiſtiſche Intereſſen territorialer, poli- tiſcher oder kommerzieller Art. Wir arbeiten einzig und allein für das Wohl der mazedoniſchen Bevölkerung. Man würde die nötigen Fragezeichen hinter dieſe Verſicherungen der Times auch ſetzen dürfen ohne das naive Bekenntnis, das der Standard ſich gleichzeitig entſchlüpfen läßt. Was er reformieren möchte, iſt, ohne alle Rückſicht auf das Wohl und Wehe der mazedoniſchen Chriſten, vor allem das Ver- hältnis Englands zum Sultan: „Als wir noch mit der Tür- kei auf gutem Fuße ſtanden, war der engliſche Botſchafter in Konſtantinopel allmächtig. Stellen wir uns wieder freundlicher zu ihm, ſo können wir viel von dem alten Ein- fluß zurückgewinnen. Der Sultan kann England ſehr nütz- lich oder ſehr unangenehm werden. Zählt König Eduard doch mehr muſelmänniſche Untertanen als irgend ein anderer Monarch.“ Folgerichtig wird die Greyſche Note von demſelben Blatte als höchſt inopportun bezeichnet, zumal England in Anbetracht der europäiſchen Mächtekonſtellation keinerlei Mittel beſitze, um ſeinen Forderungen Nachdruck zu ver- leihen. Der mutmaßliche Erfolg der Note wird allgemein ſehr ſkeptiſch beurteilt. Hier und da verbirgt dieſe Skepſis ſich hinter großen Worten. So charakteriſiert der Daily Graphic die Greyſchen Vorſchläge, über deren Effekt er ſich gar keinen Illuſionen hingibt, als ein Ultimatum an das europäiſche Konzert, „deſſen tragiſcher Impotenz ganz Eng- land todesüberdrüſſig iſt“. Ganz England intereſſiert ſich überhaupt nicht für mazedoniſche Reformen, ſondern, zumal im gegenwärtigen Augenblick, ausſchließlich für die durch die liberale Schank- novelle erſtrebte Wirtshausreform. An welcher Stelle aber die Leiter der ja nicht von dem „man in the street“ diri- gierten engliſchen Auslandspolitik ein Intereſſe daran haben, einen Keil in das Balkankonzert zu treiben, iſt be- kannt, und es wird Sache der mitteleuropäiſchen Diplo- matie ſein, die Erfüllung dieſes unfrommen Wunſches zu verhindern. Die Wahlreform im Königreich Sachſen. München, 21. März. Seit der berüchtigten Rückwärtsrevidierung des ſächſi- ſchen Wahlrechts durch das Wahlgeſetz vom 28. März 1896 liegt es wie ein Alp auf dem Königreich. Das Gefühl, daß dieſes neue Wahlrecht, das im Laufe von fünf Jahren mit der Sicherheit einer Maſchine auch den letzten Sozialdemo- kraten aus der Volksvertretung entfernte, ein Unrecht ſei, laſtete ſchwer auf allen unbefangenen Gemütern, und wenn zwei Jahre nach dem Abſchluß jener Reinigungs- prozedur von den 23 ſächſiſchen Reichstagsmandaten 22 in ſozialdemokratiſche Hände fielen, ſo hat man ſich zwar auf den Standpunkt ſtellen wollen, daß die blutrote Frucht des Reichstagswahlrechts die Schaffung wirkſamer Kautelen für den Landtag nachträglich vollends ganz rechtfertige — aber dieſe Logik kam nicht auf gegen die Stimme des poli- tiſchen Gewiſſens, die da ſagte: Es iſt nicht recht, eine ſo große Partei, einen ſo großen Teil des Volkes von jeder Vertretung im Landtag auszuſchließen. Und ſo war die Frage einer erneuten Reform ſpruchreif und mehr als ſpruchreif, als bei den Reichstagswahlen von 1906 die ge- einte Kraft des Bürgertums und insbeſondere auch die rege Mitarbeit der liberalen Kreiſe den ſozialdemokratiſchen Beſitzſtand auf 8 Reichstagsmandate zu reduzieren ver- mochte, ſo daß der Name rotes Königreich der Vergangen- heit anzugehören ſchien. Man beſchloß denn auch, die ſchon ſeit einiger Zeit in Gang befindlichen Vorarbeiten für ein neues Landtagswahlgeſetz mit erneuter Kraft aufzu- nehmen, und der Nachfolger des Herrn v. Metzſch, Graf Hohenthal, ſchien die Loſung dieſer Aufgabe als ſeine erſte Pflicht zu betrachten. Die Wahlreform, welche die Regierung dem Landtag vorlegte, beſorgte freilich gern und gut die Geſchäfte der Mehrheit. Sie ſah zu dem Zweck eine Zweiteilung der Zweiten Kammer vor: den einen Teil ſollten alle ſächſiſchen Staatsbürger erküren, aber der andere Teil ſollte von den Kommunalverbänden gewählt werden. Auf einem kleinen Umwege ſollte die ſächſiſche Volksvertretung mit einer Standesvertretung durchſetzt, vas allgemeine Wahlrecht durch eine Vertretung einzelner Standes- und Berufsintereſſen korrigiert werden. Rechte Freude berei- tete der Entwurf keiner Partei. Die Freiſinnigen vertraten ihm gegenüber um ſo nachdrücklicher ihre Forderung der Einführung des Reichstagswahlrechts, die Nationallibe- ralen verlangten ein gleichgeſtaltetes Wahlrecht durch das ganze. Land mit Pluralſtimmen, und den Konſervativen war die Verſicherung auf Erhaltung ihrer Macht nicht zu- verläſſig genug: noch waren ihnen die ländlichen Wahl- kreiſe auch für die allgemeinen Wahlen ſicher und noch waren die Kommunalverbände ihren Geiſtes voll: aber die freiſinnige und liberale Bewegung griff um ſich, und ſie zerbrach, als inzwiſchen eine Drittelnenwahl zur Zweiten Kammer fällig wurde, die bisherige Zweidrittelmehrheit der Konſervativen. Die Deputation — ſo nennt die ſächſiſche Kammer einen Ausſchuß — beriet inzwiſchen bei verſchloſſenen Türen die Wahlreform und die Anträge der Parteien. Es hieß, in dem Deputationszimmer ſei von dieſem und jenem viel die Rede, nur nicht von dem Regierungsentwurfe, und ein andermal verlautete, die Regierung verlange jetzt endlich die Beratung ihrer Vorſchläge. Die Geheimniskrämerei der Kommiſſion erregte Unwillen, und nach einer Ver- handlung dieſer Frage in der Kammer mußte die Depu- tation die Oeffentlichkeit ihrer Sitzungen zugeſtehen. Da- mit iſt eine Wendung in der Frage der ſächſi- ſchen Wahlreform eingetreten, wie man im Inter- eſſe des Landes hoffen muß: eine Wendung zum Beſſeren. Unter der Kontrolle der Oeffentlichkeit wird die Verſchlep- pungspolitik, die bis jetzt allem Anſchein nach dort geübt worden iſt, ihr Ende finden, und man wird, ſtatt ſich in unfruchtbaren theoretiſchen Auseinanderſetzungen zu er- gehen, an die praktiſche Löſung der Aufgabe gehen müſſen. Den erſten Schritt dazu hat die Regierung ſelbſt getan, in- dem ſie einmal einen neuen Vorſchlag der Kommiſſion unterbreitet hat, und indem zweitens der Miniſter des Innern Graf v. Hohenthal und Bergen in einen kurzen Urlaub gegangen iſt, während deſſen der Verhandlung von Partei zu Partei freie Bahn geſchaffen iſt. Der neue Vorſchlag der Regierung will die „ſtändige“ Vertretung in der Zweiten Kammer zugunſten der Städte etwas abmildern. Die Regierung will nämlich neun Wahlkreiſe ſchaffen, von denen die Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz, ſowie die fünf um das Gebiet der exempten Städte verminderten kreishauptmannſchaftlichen Bezirke je einen, die Städte Plauen und Zwickau zuſam- men einen Wahlkreis bilden ſollen. In den Städten Dres- den und Leipzig ſollen je zwei, in der Stadt Chemnitz und dem Wahlkreiſe Plauen-Zwickau je ein Abgeordneter ge- wählt werden; in dem kreishauptmannſchaftlichen Bezirke Bautzen ſollen vier Abgeordnete, in den kreishauptmann- ſchaftlichen Bezirken Chemnitz, Leipzig und Zwickau werden je fünf und in dem kreishauptmannſchaftlichen Bezirke Dresden werden ſechs Abgeordnete gewählt werden. Dieſe 31 Sonderabgeordneten ſollen natürlich auch wieder nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, ſondern von kleinen Zirkeln beſtimmt werden: in den Städten vom Stadtrat und den Stadtverordneten, in den kreishaupt- mannſchaftlichen Bezirken von den Bezirksverſammlungen, Handels- und Gewerbekammern und vom Landeskulturrat, wobei unter gewiſſen Bedingungen der Landeskulturrat noch durch Landwirte „ergänzt“ werden ſoll. Es iſt aner- kennenswert, daß die ſächſiſche Regierung ſich mit dieſem Aenderungsvorſchlag etwas von der Vertretung der konſer- vativen Parteiintereſſen losgelöſt hat, aber ſie wird, wenn ſie eine Wahlreform zuſtande bringen will, die auf Jahre hinaus dem Lande eine ruhige Entwicklung im Innern ſichert, überhaupt darauf verzichten müſſen, die Volksvertretung mit einer irgendwie gearteten Intereſſen- vertretung zu vermengen. Die Vertreter der einzelnen großen Erwerbsgruppen gehören, wie die Entwicklung des Staatsrechts zeigt, in die Erſte Kammer. Zu den Wahlen für die Zweite Kammer iſt das ganze Volk berufen, und die Frage kann nur die ſein, einen Weg zu finden, der Stimme jedes einzelnen nach ſeiner Bildung, ſeinem Beſitz und ſeinem Alter das entſprechende Gewicht zu verleihen. Wenn es der ſächſiſchen Regie- rung nicht gelingt, für ein derartiges allgemeines Wahl- recht, das natürlich geheim und direkt ſein muß, eine Mehr- heit im Landtage zu ſchaffen, ſo iſt eine Auflöſung des Landtages unvermeidlich. Die letzten Erneuerungswahlen haben gezeigt, daß der Zug nach links die konſervative Mehrheit wegfegen wird, und damit wäre Raum gegeben für eine Wahlreform in fortſchrittlichem Sinne, zu Nutzen und Frommen des ehemals „roten“ Königreiches. Politiſche Rundſchau. Emden-Norden. *** Die Reichstagserſatzwahl in dem hanno- verſchen Wahlkreiſe Emden-Norden an Stelle des verſtor- benen Konſervativen Fürſten zu Inn- und Knyphauſen hat für den Geſamtliberalismus ein höchſt er- freuliches Ergebnis gezeitigt. Der Wahlkreis iſt allerdings durch eine große Reihe von Wahlperioden hin- durch in nationalliberalem Beſitze geweſen, war aber, nach- dem der im Wahlkreiſe angeſeſſene Fürſt zu Inn- und Knyphauſen als Bewerber aufgetreten war, verloren ge- gangen und über ein Jahrzehnt in den Händen der Kon- ſervativen geblieben; im Laufe der Jahre löſte ſich die na- tionalliberale Organiſation — unbegreiflicherweiſe — völlig auf, und neben der Sozialdemokratie erhob ſich eine freiſinnige Oppoſition, die bei der letzten Wahl eine Stich- wahl erzwang, in der der Fürſt nur mit 12,344 gegen 12,151 Stimmen ſiegen konnte. Im erſten Wahlgang waren 1907 11,487 konſervative, 8151 freiſinnige und 3711 ſozial- demokratiſche Stimmen abgegeben worden. Der greiſe Fürſt zu Inn- und Knyphauſen lag noch im Todeskampfe, als ſchon die Antiſemiten Liebermannſcher Färbung einen Propagandazug durch den Wahlkreis unternahmen und damit die Konſervativen derart überraſchten und erſchreck- ten, daß ſie der ihnen vorgeſchlagenen Kandidatur Groene- velds, die den Wählern unter der Deckadreſſe der Wirt- ſchaftlichen Bereinigung präſentiert wurde, zu- ſtimmten. Die Herren um Liebermann waren in guter Siegeszuverſicht: in nahezu 300 Verſammlungen hatten ſie, wie ſie ſtolz verkündeten, zur Wählerſchaft geſprochen; eine Rekordleiſtung. Der Wahlgang am Donnerstag brachte ihnen 6579 Stimmen, d. h. fünftauſend Stimmen oder 45 Prozent weniger als vor Jahresfriſt auf den konſervativen Kandidaten gefallen waren; auch das dürfte einen Rekord darſtellen. Dieſe fünftauſend Stimmen ſind faſt reſtlos dem nationalliberalen Kandidaten Geheimrat Fürbringer zugefallen, der 4905 Stimmen auf ſich vereinte. In Anbetracht des Umſtandes, daß die Partei den Wahl- kampf damit einleiten mußte, daß ſie ſich erſt eine neue Organiſation ſchuf, hat die Partei gut abgeſchnitten; das Wahlergebnis zeigt, daß die Nationalliberalen recht und gut daran taten, unbekümmert um die Einreden und Vor- würfe von rechts und links, ſelbſtändig in den Wahlkampf einzutreten; das Wahlergebnis vom Donnerstag ſtellte ihr einen guten Wechſel für die Zukunft aus. Helle Freude herrſcht natürlich bei den Freiſinnigen. Ihr Kan- didat, ein im Wahlkreiſe angeſehener Landwirt Fetger, hat die meiſten Stimmen auf ſich vereint: 8816, und damit faſt 700 Stimmen mehr erhalten, als am 25. Januar der Freiſinnige Garrels; dieſe 700 Stimmen ſind anſcheinend aus dem ſozialdemokratiſchen Lager gekom- men, wo ſich diesmal 3115 gegen 3711 Wähler zuſammen- fanden. Die Freiſinnigen — Fetger wird ſich der Frei- ſinnigen Vereinigung anſchließen — haben große Anſtren- gungen im Wahlkampfe gemacht, die Abgeordneten Nau- mann, Hormann, Graf Bothmer, Potthoff, Neumann- Hofer, Dohrn und Strupe griffen redneriſch in die Agita- tion ein; ſie ſehen ihre Mühe jetzt belohnt, denn es unter- liegt keinem Zweifel, daß die Nationalliberalen ihnen in der Stichwahl ihre Stimmen zuführen; eine national-

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen, Susanne Haaf: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-04-08T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 136, 22. März 1908, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine136_1908/1>, abgerufen am 21.11.2024.