Allgemeine Zeitung, Nr. 14, 15. Januar 1924.Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14 [Spaltenumbruch]
Der neue Kurs in England (Von unserem Korrespondenten) In einer Woche wird England eine Antwort Die gegenwärtige Situation ist ein direktes Er- Bis Asquith erklärte, daß die Liberalen keinen Seitdem sich die Labour Party vor die Mög- Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie- Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter- Nach all diesem kann man sich eine Vorstellung [irrelevantes Material] [irrelevantes Material]
Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14 [Spaltenumbruch]
Der neue Kurs in England (Von unſerem Korreſpondenten) In einer Woche wird England eine Antwort Die gegenwärtige Situation iſt ein direktes Er- Bis Aſquith erklärte, daß die Liberalen keinen Seitdem ſich die Labour Party vor die Mög- Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie- Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter- Nach all dieſem kann man ſich eine Vorſtellung [irrelevantes Material] [irrelevantes Material]
<TEI> <text> <body> <div type="jFinancialNews" n="1"> <div type="jAn" n="2"> <pb facs="#f0007" n="Seite 7[7]"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Dienstag, den 15. Januar 1924 <hi rendition="#g">Allgemeine Zeitung.</hi> Nr. 14</hi> </fw><lb/> <cb/> </div> </div> <div type="jVarious" n="1"> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Der neue Kurs in England</hi> </head><lb/> <argument> <p>(Von unſerem Korreſpondenten)</p> </argument><lb/> <dateline><hi rendition="#b">London,</hi> 9. Jan.</dateline><lb/> <p>In einer Woche wird England eine Antwort<lb/> auf die große Frage haben, die gegenwärtig in<lb/> allen Verſammlungen und Klubs, ſelbſt auf der<lb/> Straße erörtert wird: Werden wir eine Arbeiter-<lb/> regierung haben oder nicht?</p><lb/> <p>Die gegenwärtige Situation iſt ein direktes Er-<lb/> gebnis jener berühmten Verſammlung des Carl-<lb/> ton Clubs, die den allgemeinen Wahlen des Jah-<lb/> res 1922 unmittelbar vorausging und ſie verur-<lb/> ſachte. Selbſt die unentwegteſten Mitglieder der<lb/> Diehard-Gruppe, durch deren Druck die Löſung<lb/> der Koalition beſchloſſen wurde, würden es ſich<lb/> heute ſehr überlegen, den damaligen Schritt noch<lb/> einmal zu tun. Bonar Laws Erfolg wurde nur<lb/> dadurch möglich, daß er vor den Wahlen zwei<lb/> einſchneidende Verpflichtungen auf ſich nahm:<lb/> 1. daß die Konſervativen keine Geſetzgebung ein-<lb/> leiten würden, die tiefgreifende Aenderungen zur<lb/> Folge hätte; 2. daß ſie vor allem keinen Verſuch<lb/> machen würden, das fiskaliſche Syſtem zu ändern.<lb/> Als Baldwin, um ſeinen Mißerfolg in der aus-<lb/> wärtigen Politik zu verſchleiern, die Befreiung<lb/> von dieſer Verpflichtung verlangte, legte er nicht<lb/> nur die Grundlage für den Mißerfolg ſeiner<lb/> Partei bei den jetzigen Wahlen, ſondern führte<lb/> auch mit einem Schlage die bis dahin für unmög-<lb/> lich gehaltene Wiedervereinigung der Liberalen<lb/> herbei. Das Eintreten Baldwins für eine ge-<lb/> mäßigte Schutzzollpolitik, das den Liberalen er-<lb/> möglichte, auf die ihnen gemeinſame Plattform<lb/> des Freihandels zu ſpringen, wurde veranlaßt<lb/> durch die Haltung der Dominions auf der Reichs-<lb/> konferenz. Dieſe hatten als Entgelt für eine Feſti-<lb/> gung des Reichsverbandes Vorzugsrechte für ihre<lb/> Ausfuhrprodukte gefordert. Baldwin hatte ſich<lb/> wohl gehütet, von Zöllen auf Korn und Fleiſch zu<lb/> ſprechen, aber die Beſchränkung der geforderten<lb/> Zollpolitik auf getrocknete Früchte, Tabak, Wein,<lb/> Zucker und Büchſenfiſche, machte es den Liberalen<lb/> und beſonders dem ſoeben von ſeinem amerika-<lb/> niſchen Triumphzuge zurückgekehrten Lloyd George<lb/> leicht, die Unwirkſamkeit dieſer Maßregeln auf-<lb/> zuzeigen. Trotzdem gingen die Konſervativen<lb/> wiederum als ſtärkſte Partei aus den Wahlen<lb/> hervor, jedoch ihre Mehrheit war dahin, und 192<lb/> Abgeordnete der Labour Party ſahen ſich plötzlich<lb/> wider eigenes Erwarten vor die Anfgabe geſtellt,<lb/> eine Regierung zu bilden.</p><lb/> <p>Bis Aſquith erklärte, daß die Liberalen keinen<lb/> Finger rühren würden, um die Regierung Bald-<lb/><cb/> win zu halten, wurde der Ernſt der innerpoli-<lb/> tiſchen Lage noch nicht mit voller Deutlichkeit ſicht-<lb/> bar. Die Stellungnahme Aſquiths iſt eine Aus-<lb/> wirkung des ſeit Jahren in England geläufigen<lb/> Wortes: <hi rendition="#aq">Lebour must given its chance,</hi> die Ar-<lb/> beiterpartei ſoll einmal ihre Kunſt verſuchen. Im<lb/> jetzigen Augenblick, meinte Aſquith, wo den 192<lb/> Abgeordneten der Arbeiterpartei 420 Konſervative<lb/> und Liberale gegenüberſtehen, ſei das ein völlig<lb/> ungefährliches Experiment. Seit dieſer Erklärung<lb/> läßt die Rothermere-Preſſe, die vor den Wahlen<lb/> mit der einzigen und offen ausgeſprochenen Ab-<lb/> ſicht, Lord Grey zum Außenminiſter zu machen,<lb/> für die Liberalen eingetreten war, keinen Tag<lb/> vorübergehen, ohne die Haltung der Liberalen<lb/> auf das ſchärfſte anzugreifen und die Gefährlich-<lb/> keit dieſes Experiments in den ſchwärzeſten Far-<lb/> ben auszumalen. Die Morning Poſt bezeichnete<lb/> die liberale Taktik als einen Verrat an der be-<lb/> ſtehenden ſozialen Ordnung. Der Daily Tele-<lb/> graph, der für eine Verſtändigung der beiden<lb/> großen hiſtoriſchen Parteien, für ein liberales<lb/> Miniſterium mit Unterſtützung der Konſervativen<lb/> eingetreten war, iſt von Tag zu Tag reſignierter<lb/> geworden. Von der alten Koalition iſt nirgends<lb/> mehr die Rede. Auch die Londoner Konſervativen<lb/> haben eine ſolche nicht im Auge, wenn ſie Bald-<lb/> win in einer Adreſſe beſchwören, mit Aſquith ein<lb/> Uebereinkommen zu treffen, bevor das Parlament<lb/> zuſammentritt. Im Gegenſatz zu ihnen hat Lord<lb/> Curzon in ſeinem Neujahrsbrief an die Primroſe<lb/> League die Taktik empfohlen, keine langen Ver-<lb/> handlungen mit den Liberalen anzuknüpfen. Das<lb/> beſte, was man tun könne, ſei, jetzt ſchon die<lb/> nächſten Wahlen vorzubereiten. Derart verworren<lb/> iſt die parlamentariſche Lage. Welche Haltung<lb/> nimmt die Arbeiterpartei ein?</p><lb/> <p>Seitdem ſich die Labour Party vor die Mög-<lb/> lichkeit geſtellt ſah, die Regierung zu bilden, iſt<lb/> in keinem Augenblick von der Durchführung ihrer<lb/> programmatiſchen Grundſätze die Rede geweſen.<lb/> Am klarſten bezeichnet ihre Taktik ein Artikel im<lb/> New Statesman: Was eine Arbeiterregierung<lb/> tun könnte. Die in dieſem Artikel niedergelegten<lb/> Anſichten ſind ſoeben voll und ganz von der Jah-<lb/> reskonferenz der ſchottiſchen Arbeiterpartei an-<lb/> erkannt und übernommen worden. Die Arbeiter-<lb/> partei hat die Wahlen unter der Parole der<lb/> Kapitalabgabe durchgefochten. Von dieſer Forde-<lb/> rung iſt es bereits ſtill geworden. Die auf der<lb/> Glasgower Konferenz gefaßte Reſolution be-<lb/> ſchränkte ſich auf folgende Punkte: Arbeiten von<lb/> öffentlichem Nutzen in großem Maßſtabe zur Be-<lb/> hebung der Arbeitsloſigkeit, wie Wohnungs- und<lb/><cb/> Schulbauten, Anlage von Straßen und Kanälen,<lb/> Aufforſtungen und Urbarmachungen. Dieſes ſehr<lb/> beſcheidene Programm erhält aber durch zwei<lb/> außenpolitiſche Forderungen eine bedeutende Um-<lb/> rahmung: umgehende Regelung der Reparations-<lb/> frage und Anerkennung der ruſſiſchen Regierung.<lb/> Wenn man ſich vor Augen hält, daß zu einer<lb/> Aenderung der inneren Politik neue Geſetze not-<lb/> wendig ſind, von denen die Labour Party nicht<lb/> ein einziges von Bedeutung durchbringen könnte,<lb/> Aenderungen in der auswärtigen Politik aber<lb/> erſt nach Vollzug dem Parlament zur nachträg-<lb/> lichen Genehmigung vorgelegt werden müſſen, ſo<lb/> begreift man fofort die Todesängſte der Konſer-<lb/> vativen. Die Diehards gar ſehen bereits den<lb/> Untergang Englands voraus. Die Labour Party<lb/> ſteht bereits unter dem Druck der Kommuniſten,<lb/> und vor kurzem hat die Exekutive der Partei eine<lb/> Maßnahme beſchloſſen, die The Workers Weekly<lb/> eine „hiſtoriſche Kapitulation“ nennt. Man hat<lb/> Delegierten der Kommuniſten geſtattet, an den<lb/> Parteikonferenzen teilzunehmen, und kommuniſti-<lb/> ſchen Militanten, Mitglieder der Arbeiterpartei<lb/> zu werden. Man kann ſich leicht vorſtellen —<lb/> die Beiſpiele auf dem Kontinent ſind reichlich —,<lb/> wie dieſer Druck von links anwachſen wird, wenn<lb/> die Arbeiterpartei an der Regierung iſt, da ja<lb/> auch durch rein verwaltungstechniſche Maßnah-<lb/> men ohne Inanſpruchnahme der Geſetzgebungs-<lb/> maſchine eingreifende Aenderungen auf inner-<lb/> politiſchem Gebiete durchgeführt werden könnten.</p><lb/> <p>Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie-<lb/> rung liegt jedoch auf außenpolitiſchem Gebiete.<lb/> Wenn die Labour Party ſich auf die oben be-<lb/> zeichneten außenpolitiſchen Punkte beſchränken<lb/> würde, ſo könnte ſie ſogar der Unterſtützung eines<lb/> großen Teiles der Liberalen gewiß ſein. Aber die<lb/> Tories heulen. Was geſchieht mit den Beſchlüſſen<lb/> der Reichskonferenz? Was iſt mit der Flotten-<lb/> baſis in Singapore? Was iſt vor allem mit<lb/> Indien? Die Swaraj Bewegung („völlige Unab-<lb/> hängigkeit des indiſchen Volkes“) hat dort bei den<lb/> letzten Wahlen große Erfolge davongetragen. Der<lb/> Kongreß der indiſchen Liberalen in Allahabad<lb/> hat die Freilaſſung Gandhis gefordert, und Shau-<lb/> kat Ali erklärte dort, jeder Moslem müſſe Eng-<lb/> land heute als den größten Feind des Islams<lb/> betrachten.</p><lb/> <p>Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter-<lb/> regierung, obſchon ſie nur 4,5 aus 20 Millionen<lb/> Wählern vertritt, ſich mit ihrem außenpolitiſchen<lb/> Programm einige Zeit am Ruder halten könnte.<lb/> Man kann dieſe Behauptung wagen, wenn man<lb/> die Gedanken betrachtet, die in einem aufſehen-<lb/><cb/> erregenden, mit „Augur“ gezeichneten Artikel des<lb/> ſoeben erſchienenen Januarheftes der bedeutenden<lb/> und einflußreichen Fortnightly Review entwickelt<lb/> werden. Hier ſieht man die Möglichkeit, daß eine<lb/> durch eine Arbeiterregierung eingeleitete Außen-<lb/> politik von einem liberalen Miniſterium mit<lb/> Unterſtützung der Konſervativen fortgeſetzt wer-<lb/> den könnte. Es wird folgende intereſſante Skizze<lb/> einer ſolchen Politik entworfen: Das Aufhören<lb/> der Entente cordiale muß notwendig eine Aende-<lb/> rung der engliſchen Politik nach ſich ziehen. Man<lb/> muß zu dem alten Grundſatz der Aufrechterhal-<lb/> tung des europäiſchen Gleichgewichts zurück-<lb/> kehren. Zuerſt iſt eine Verſtärkung der diplomati-<lb/> ſchen Stellung Englands erforderlich, indem der<lb/> Völkerbund durch den Eintritt Deutſchlands und<lb/> Rußlands erweitert wird. Bedingung für Deutſch-<lb/> land wäre die Anerkennung des Verſailler Ver-<lb/> trages, für Rußland Aufgabe des intranſigenten<lb/> kommuniſtiſchen Programms und Einſtellung der<lb/> ausländiſchen Propaganda. Die Tſchechoſlowakei<lb/> iſt von Frankreich zu trennen, indem England ihr<lb/> eine Sicherung gegen einen deutſchen Angriff<lb/> durch eine im Kriegsfall eintretende Beſetzung<lb/> Hamburgs anbietet. Eine ähnliche Sicherheit iſt<lb/> Belgien zu bieten. Hierauf iſt die Linie London —<lb/> Berlin — Warſchau — Moskau zu ziehen. Im<lb/> Mittelmeer iſt ein engliſch-italieniſch-ſpaniſches<lb/> Bündnis durch Preisgabe der griechiſchen Inter-<lb/> eſſen an Italien zuſtande zu bringen. Das<lb/> Schlimmſte, was England zu befürchten hat, iſt<lb/> eine deutſch-franzöſiſche Verſtändigung.</p><lb/> <p>Nach all dieſem kann man ſich eine Vorſtellung<lb/> davon machen, in welchem Gärungszuſtande ſich<lb/> die engliſche Politik befindet, und mit welch ängſt-<lb/> licher Spannung man hier den nächſten Wochen<lb/> entgegenſieht.</p> </div><lb/> <div type="jAn" n="2"> <gap reason="insignificant"/> </div> </div> <div type="jAnnouncements" n="1"> <gap reason="insignificant"/> </div> </body> </text> </TEI> [Seite 7[7]/0007]
Dienstag, den 15. Januar 1924 Allgemeine Zeitung. Nr. 14
Der neue Kurs in England
(Von unſerem Korreſpondenten)
London, 9. Jan.
In einer Woche wird England eine Antwort
auf die große Frage haben, die gegenwärtig in
allen Verſammlungen und Klubs, ſelbſt auf der
Straße erörtert wird: Werden wir eine Arbeiter-
regierung haben oder nicht?
Die gegenwärtige Situation iſt ein direktes Er-
gebnis jener berühmten Verſammlung des Carl-
ton Clubs, die den allgemeinen Wahlen des Jah-
res 1922 unmittelbar vorausging und ſie verur-
ſachte. Selbſt die unentwegteſten Mitglieder der
Diehard-Gruppe, durch deren Druck die Löſung
der Koalition beſchloſſen wurde, würden es ſich
heute ſehr überlegen, den damaligen Schritt noch
einmal zu tun. Bonar Laws Erfolg wurde nur
dadurch möglich, daß er vor den Wahlen zwei
einſchneidende Verpflichtungen auf ſich nahm:
1. daß die Konſervativen keine Geſetzgebung ein-
leiten würden, die tiefgreifende Aenderungen zur
Folge hätte; 2. daß ſie vor allem keinen Verſuch
machen würden, das fiskaliſche Syſtem zu ändern.
Als Baldwin, um ſeinen Mißerfolg in der aus-
wärtigen Politik zu verſchleiern, die Befreiung
von dieſer Verpflichtung verlangte, legte er nicht
nur die Grundlage für den Mißerfolg ſeiner
Partei bei den jetzigen Wahlen, ſondern führte
auch mit einem Schlage die bis dahin für unmög-
lich gehaltene Wiedervereinigung der Liberalen
herbei. Das Eintreten Baldwins für eine ge-
mäßigte Schutzzollpolitik, das den Liberalen er-
möglichte, auf die ihnen gemeinſame Plattform
des Freihandels zu ſpringen, wurde veranlaßt
durch die Haltung der Dominions auf der Reichs-
konferenz. Dieſe hatten als Entgelt für eine Feſti-
gung des Reichsverbandes Vorzugsrechte für ihre
Ausfuhrprodukte gefordert. Baldwin hatte ſich
wohl gehütet, von Zöllen auf Korn und Fleiſch zu
ſprechen, aber die Beſchränkung der geforderten
Zollpolitik auf getrocknete Früchte, Tabak, Wein,
Zucker und Büchſenfiſche, machte es den Liberalen
und beſonders dem ſoeben von ſeinem amerika-
niſchen Triumphzuge zurückgekehrten Lloyd George
leicht, die Unwirkſamkeit dieſer Maßregeln auf-
zuzeigen. Trotzdem gingen die Konſervativen
wiederum als ſtärkſte Partei aus den Wahlen
hervor, jedoch ihre Mehrheit war dahin, und 192
Abgeordnete der Labour Party ſahen ſich plötzlich
wider eigenes Erwarten vor die Anfgabe geſtellt,
eine Regierung zu bilden.
Bis Aſquith erklärte, daß die Liberalen keinen
Finger rühren würden, um die Regierung Bald-
win zu halten, wurde der Ernſt der innerpoli-
tiſchen Lage noch nicht mit voller Deutlichkeit ſicht-
bar. Die Stellungnahme Aſquiths iſt eine Aus-
wirkung des ſeit Jahren in England geläufigen
Wortes: Lebour must given its chance, die Ar-
beiterpartei ſoll einmal ihre Kunſt verſuchen. Im
jetzigen Augenblick, meinte Aſquith, wo den 192
Abgeordneten der Arbeiterpartei 420 Konſervative
und Liberale gegenüberſtehen, ſei das ein völlig
ungefährliches Experiment. Seit dieſer Erklärung
läßt die Rothermere-Preſſe, die vor den Wahlen
mit der einzigen und offen ausgeſprochenen Ab-
ſicht, Lord Grey zum Außenminiſter zu machen,
für die Liberalen eingetreten war, keinen Tag
vorübergehen, ohne die Haltung der Liberalen
auf das ſchärfſte anzugreifen und die Gefährlich-
keit dieſes Experiments in den ſchwärzeſten Far-
ben auszumalen. Die Morning Poſt bezeichnete
die liberale Taktik als einen Verrat an der be-
ſtehenden ſozialen Ordnung. Der Daily Tele-
graph, der für eine Verſtändigung der beiden
großen hiſtoriſchen Parteien, für ein liberales
Miniſterium mit Unterſtützung der Konſervativen
eingetreten war, iſt von Tag zu Tag reſignierter
geworden. Von der alten Koalition iſt nirgends
mehr die Rede. Auch die Londoner Konſervativen
haben eine ſolche nicht im Auge, wenn ſie Bald-
win in einer Adreſſe beſchwören, mit Aſquith ein
Uebereinkommen zu treffen, bevor das Parlament
zuſammentritt. Im Gegenſatz zu ihnen hat Lord
Curzon in ſeinem Neujahrsbrief an die Primroſe
League die Taktik empfohlen, keine langen Ver-
handlungen mit den Liberalen anzuknüpfen. Das
beſte, was man tun könne, ſei, jetzt ſchon die
nächſten Wahlen vorzubereiten. Derart verworren
iſt die parlamentariſche Lage. Welche Haltung
nimmt die Arbeiterpartei ein?
Seitdem ſich die Labour Party vor die Mög-
lichkeit geſtellt ſah, die Regierung zu bilden, iſt
in keinem Augenblick von der Durchführung ihrer
programmatiſchen Grundſätze die Rede geweſen.
Am klarſten bezeichnet ihre Taktik ein Artikel im
New Statesman: Was eine Arbeiterregierung
tun könnte. Die in dieſem Artikel niedergelegten
Anſichten ſind ſoeben voll und ganz von der Jah-
reskonferenz der ſchottiſchen Arbeiterpartei an-
erkannt und übernommen worden. Die Arbeiter-
partei hat die Wahlen unter der Parole der
Kapitalabgabe durchgefochten. Von dieſer Forde-
rung iſt es bereits ſtill geworden. Die auf der
Glasgower Konferenz gefaßte Reſolution be-
ſchränkte ſich auf folgende Punkte: Arbeiten von
öffentlichem Nutzen in großem Maßſtabe zur Be-
hebung der Arbeitsloſigkeit, wie Wohnungs- und
Schulbauten, Anlage von Straßen und Kanälen,
Aufforſtungen und Urbarmachungen. Dieſes ſehr
beſcheidene Programm erhält aber durch zwei
außenpolitiſche Forderungen eine bedeutende Um-
rahmung: umgehende Regelung der Reparations-
frage und Anerkennung der ruſſiſchen Regierung.
Wenn man ſich vor Augen hält, daß zu einer
Aenderung der inneren Politik neue Geſetze not-
wendig ſind, von denen die Labour Party nicht
ein einziges von Bedeutung durchbringen könnte,
Aenderungen in der auswärtigen Politik aber
erſt nach Vollzug dem Parlament zur nachträg-
lichen Genehmigung vorgelegt werden müſſen, ſo
begreift man fofort die Todesängſte der Konſer-
vativen. Die Diehards gar ſehen bereits den
Untergang Englands voraus. Die Labour Party
ſteht bereits unter dem Druck der Kommuniſten,
und vor kurzem hat die Exekutive der Partei eine
Maßnahme beſchloſſen, die The Workers Weekly
eine „hiſtoriſche Kapitulation“ nennt. Man hat
Delegierten der Kommuniſten geſtattet, an den
Parteikonferenzen teilzunehmen, und kommuniſti-
ſchen Militanten, Mitglieder der Arbeiterpartei
zu werden. Man kann ſich leicht vorſtellen —
die Beiſpiele auf dem Kontinent ſind reichlich —,
wie dieſer Druck von links anwachſen wird, wenn
die Arbeiterpartei an der Regierung iſt, da ja
auch durch rein verwaltungstechniſche Maßnah-
men ohne Inanſpruchnahme der Geſetzgebungs-
maſchine eingreifende Aenderungen auf inner-
politiſchem Gebiete durchgeführt werden könnten.
Die eigentliche Bedeutung einer Arbeiterregie-
rung liegt jedoch auf außenpolitiſchem Gebiete.
Wenn die Labour Party ſich auf die oben be-
zeichneten außenpolitiſchen Punkte beſchränken
würde, ſo könnte ſie ſogar der Unterſtützung eines
großen Teiles der Liberalen gewiß ſein. Aber die
Tories heulen. Was geſchieht mit den Beſchlüſſen
der Reichskonferenz? Was iſt mit der Flotten-
baſis in Singapore? Was iſt vor allem mit
Indien? Die Swaraj Bewegung („völlige Unab-
hängigkeit des indiſchen Volkes“) hat dort bei den
letzten Wahlen große Erfolge davongetragen. Der
Kongreß der indiſchen Liberalen in Allahabad
hat die Freilaſſung Gandhis gefordert, und Shau-
kat Ali erklärte dort, jeder Moslem müſſe Eng-
land heute als den größten Feind des Islams
betrachten.
Trotzdem wäre es möglich, daß eine Arbeiter-
regierung, obſchon ſie nur 4,5 aus 20 Millionen
Wählern vertritt, ſich mit ihrem außenpolitiſchen
Programm einige Zeit am Ruder halten könnte.
Man kann dieſe Behauptung wagen, wenn man
die Gedanken betrachtet, die in einem aufſehen-
erregenden, mit „Augur“ gezeichneten Artikel des
ſoeben erſchienenen Januarheftes der bedeutenden
und einflußreichen Fortnightly Review entwickelt
werden. Hier ſieht man die Möglichkeit, daß eine
durch eine Arbeiterregierung eingeleitete Außen-
politik von einem liberalen Miniſterium mit
Unterſtützung der Konſervativen fortgeſetzt wer-
den könnte. Es wird folgende intereſſante Skizze
einer ſolchen Politik entworfen: Das Aufhören
der Entente cordiale muß notwendig eine Aende-
rung der engliſchen Politik nach ſich ziehen. Man
muß zu dem alten Grundſatz der Aufrechterhal-
tung des europäiſchen Gleichgewichts zurück-
kehren. Zuerſt iſt eine Verſtärkung der diplomati-
ſchen Stellung Englands erforderlich, indem der
Völkerbund durch den Eintritt Deutſchlands und
Rußlands erweitert wird. Bedingung für Deutſch-
land wäre die Anerkennung des Verſailler Ver-
trages, für Rußland Aufgabe des intranſigenten
kommuniſtiſchen Programms und Einſtellung der
ausländiſchen Propaganda. Die Tſchechoſlowakei
iſt von Frankreich zu trennen, indem England ihr
eine Sicherung gegen einen deutſchen Angriff
durch eine im Kriegsfall eintretende Beſetzung
Hamburgs anbietet. Eine ähnliche Sicherheit iſt
Belgien zu bieten. Hierauf iſt die Linie London —
Berlin — Warſchau — Moskau zu ziehen. Im
Mittelmeer iſt ein engliſch-italieniſch-ſpaniſches
Bündnis durch Preisgabe der griechiſchen Inter-
eſſen an Italien zuſtande zu bringen. Das
Schlimmſte, was England zu befürchten hat, iſt
eine deutſch-franzöſiſche Verſtändigung.
Nach all dieſem kann man ſich eine Vorſtellung
davon machen, in welchem Gärungszuſtande ſich
die engliſche Politik befindet, und mit welch ängſt-
licher Spannung man hier den nächſten Wochen
entgegenſieht.
_ _
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2022-12-19T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |