Allgemeine Zeitung, Nr. 165, 13. Juni 1860.[Spaltenumbruch]
5000 Mann vor, das unsere vermeintliche Flucht beunruhigen sollte. Am x Mailand, 8 Jun. Der Marschall Vaillant ist gestern von sei- Rußland und Polen. Die Circulardepesche des Fürsten Gortschakoff an die russischen Gesandt- Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung. [irrelevantes Material]
[Spaltenumbruch]
5000 Mann vor, das unſere vermeintliche Flucht beunruhigen ſollte. Am × Mailand, 8 Jun. Der Marſchall Vaillant iſt geſtern von ſei- Rußland und Polen. Die Circulardepeſche des Fürſten Gortſchakoff an die ruſſiſchen Geſandt- Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung. [irrelevantes Material]
<TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jArticle" n="3"> <p><pb facs="#f0008" n="2752"/><cb/> 5000 Mann vor, das unſere vermeintliche Flucht beunruhigen ſollte. Am<lb/> 20 Morgens kamen wir nach Marineo, wo wir ein Carabinierspiket von 25<lb/> Mann gefangen nahmen. Da es früh am Morgen war, ſo lagen letztere im<lb/> tiefen Schlaf, und machten große Augen als ſie von meinen rothen Blouſen<lb/> aus dem Bette geholt wurden. Jetzt galt es raſch vorzurücken, denn auf der<lb/> Straße von Ogliaſtro nach Miſimeli war ſchon Lärm entſtanden, und unſer<lb/> Anrücken ſignaliſirt. Vor Ogliaſtro beſtanden wir ein kleines Gefecht mit<lb/> einer Abtheilung feindlicher Reiterei, die aber bald das Weite ſuchte. Am 22<lb/> zogen wir nach einem zweiſtündigen ſiegreichen Kampf in Miſimeli ein, und<lb/> ſtanden ſomit vor den Thoren Palermo’s. Während meines Marſches habe<lb/> ich noch 2300 Inſurgenten, alle wohlbewaffnet, an mich gezogen, und ſo<lb/> Gott will, bin ich in zwei bis drei Tagen in Palermo. Unſer Geſammtverluſt<lb/> in allen bisher gelieferten Gefechten beläuft ſich auf 187 Todte und 192 Ver-<lb/> wundete. Der Geiſt der Bevölkerung iſt vortrefflich, der Muth meiner<lb/> braven Soldaten über alles Lob erhaben. Auf den Höhen von <hi rendition="#g">Miſimeli,</hi><lb/> 23 Mai 1860. Gez. J. <hi rendition="#g">Garibaldi,</hi> General en Chef der nationalen<lb/> Expeditionsarmee in Sicilien. Für die richtige Ausfertigung: Gez. Stefan<lb/><hi rendition="#g">Türr,</hi> erſter Generaladjutant.“ — Türr iſt bekanntlich ein Ungar, der vor<lb/> dem Jahr 1848 als Unterlieutenant in dem öſterreichiſchen Infanterieregiment<lb/> „Erzherzog Franz Karl“ diente. Bei Buffalora gieng er zu den Piemonteſen<lb/> über, betheiligte ſich 1849 beim badiſchen Aufſtand, und wurde während des<lb/> Krimkriegs in der Walachei — wo er für die Engländer Pferde kaufte —<lb/> von den Oeſterreichern gefangen. Er wurde zum Tode verurtheilt, auf die<lb/> Fürbitte der Königin von England aber begnadigt. Seit dieſer Zeit hielt er<lb/> ſich abwechſelnd hier oder in Turin auf, und ſchloß ſich der Garibaldi’ſchen<lb/> Expedition an.</p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>× <hi rendition="#b">Mailand,</hi> 8 Jun.</dateline> <p>Der Marſchall Vaillant iſt geſtern von ſei-<lb/> ner Excurſion nach Venedig zurückgekehrt, und am Sonntag oder Montag<lb/> wird er mit ſeinem Stab nach Frankreich abziehen, auf dem Weg jedoch Bo-<lb/> logna und Florenz beſuchend. Morgen ziehen auch die zwei letzten Bataillone<lb/> des 99. Linienregiments ab; es hört die Platzcommandantſchaft der Franzoſen<lb/> auf, und die militäriſchen Behörden Piemonts treten in der Lombardei in Ac-<lb/> tivität. Man erwartet als Erſatz der Franzoſen die Truppen des Generals<lb/> Lamarmora. — Die lombardiſchen Deputirten hielten in Turin Privatver-<lb/> ſammlungen, und ſuchten beim Miniſterium um die Abſchaffung der außeror-<lb/> dentlichen Vermögensſteuer von 33½ Proc nach. Die Abſchaffung wird erfolgen<lb/> um einer andern Steuer Platz zu machen. Das iſt der Sinn der Antwort.<lb/> Unſer berühmter Mitbürger Manzoni gieng nach Turin um den Eid als<lb/> Senator zu leiſten und der Discuſſion über die Abtretung Nizza’s und Sa-<lb/> voyens beizuwohnen. 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Seit länger als einem Jahr bezeichnen<lb/> uns die officiellen Berichte unſerer Agenten in der Türkei die Lage der chriſt-<lb/> lichen Provinzen unter türkiſcher Oberherrlichkeit als immer ſchwieriger wer-<lb/> dend, namentlich Bosniens, der Herzegowina und Bulgariens. Dieſe Lage<lb/> datirt nicht von heute; aber weit entfernt ſich zu verbeſſern, wie man erwarten<lb/> ſollte, hat ſie ſich in den letzten Jahren nur verſchlimmert. Die chriſtlichen<lb/> Unterthanen Sr. M. des Sultans hatten mit Vertrauen und Dankbarkeit die<lb/> poſitiven Verſprechungen von Reformen erhalten; aber ihre Verwirklichung<lb/> läßt noch auf ſich warten, die Verwirklichung einer Hoffnung welche die feier-<lb/> lichen Acte des Herrſchers und die Zuſtimmung Europa’s mit einer doppelten<lb/> Weihe umkleidet hatten. Die Leidenſchaften und Feindſeligkeiten, ſtatt ſich zu<lb/> beruhigen, haben neue Nahrung gefunden; die Gewaltthätigkeiten, die Leiden,<lb/> denen die chriſtliche Bevölkerung unterzogen wurde, und die Ereigniſſe endlich<lb/> die ſich im Weſten Europa’s anfüllten, im ganzen Orient wie ein Aufruf und<lb/> eine Ermuthigung wiederhallten, brachten Aufregung unter dieſelbe. Es iſt<lb/> erklärlich daß ſich eine ſolche Situation ohne Gefahr für die osmaniſche<lb/> Pforte und den allgemeinen Frieden nicht verlängern könne. In<lb/> dieſer Ueberzeugung haben wir uns offen und loyal an die Groß-<lb/><cb/> mächte Europa’s gewandt, nachdem wir einerſeits vergebens die türkiſche<lb/> Regierung über den Ernſt der Lage aufzuklären geſucht, indem wir die-<lb/> ſelbe fortlaufend mit den Mittheilungen über die Mißbräuche der Local-<lb/> behörden bekannt gemacht, andrerſeits alle Mittel der Ueberredung, die<lb/> uns zu Gebot ſtanden, angewandt um die Chriſten zur Geduld zu ermahnen.<lb/> Wir haben den Großmächten die Lage geſchildert wie ſie aus den Berichten<lb/> unſerer Agenten hervorgeht; ſie bekannt gemacht mit der drohenden Kriſe, mit<lb/> unſerer Ueberzeugung daß iſolirte Repräſentationen, unfruchtbare Verſprechun-<lb/> gen oder Palliativmittel, die Gefahr abzuwenden, nicht mehr ausreichen; mit<lb/> der Nothwendigkeit endlich einer Uebereinſtimmung zwiſchen den Großmächten<lb/> und der hohen Pforte über die zu treffenden Maßnahmen, welche allein dieſer<lb/> gefährlichen Lage eine Gränze ſetzen können. Wir haben durchaus keine ab-<lb/> ſoluten Vorſchläge über den einzuſchlagenden Weg gemacht. Wir haben uns<lb/> genügen laſſen die Wichtigkeit davon anzudenten und das Ziel zu bezeichnen.<lb/> Was die erſtere betrifft, ſo haben wir nicht verheimlicht daß darüber kein<lb/> Zweifel walte, noch ein Aufſchub ſtatthaft ſey. In Betreff des zweiten<lb/> ſcheinen ſich zwei verſchiedene Phaſen zu bieten. Vor allen Dingen eine unver-<lb/> zügliche locale Unterſuchung unter Theilnahme der europäiſchen Abgeordneten<lb/> um die Wahrheit der Thatſachen feſtzuſtellen. Darauf ein Uebereinkommen, das<lb/> den Großmächten überlaſſen wird, unter ſich und mit der Pforte herzuſtellen<lb/> um die nothwendigen organiſchen Maßnahmen zu berathen die eine wirkliche,<lb/> gründliche und dauerhafte Verbeſſerung der Lage der chriſtlichen Bevölkerung<lb/> des Reichs herbeiführen können. Es handelt ſich hier durchaus nicht um eine<lb/> verletzende Anmaßung der Würde der Pforte gegenüber. Wir mißtrauen deren<lb/> Abſichten nicht. Sie iſt zuerſt dabei intereſſirt aus der gegenwärtigen Lage heraus<lb/> zu kommen. Welches auch das Reſultat der Verblendung, der Duldung oder<lb/> der Schwäche ſey, das Mitwirken Europa’s kann für die Pforte nur nützlich ſeyn,<lb/> entweder um ihr Urtheil aufzuklären oder ihre Thatkraft zu ſtärken. Es wird<lb/> auch ferner weder von einem Angriff auf ihre Rechte, welche wir geachtet zu ſehen<lb/> wünſchen, die Rede ſeyn, noch von Herbeiführung von Verwicklungen, welchen<lb/> vorzubeugen unſere Abſicht iſt. Das gute Einvernehmen welches wir zwiſchen<lb/> den Großmächten und der türkiſchen Regierung hergeſtellt zu wünſchen ſehen,<lb/> ſoll für die Chriſten ein Beweis ſeyn daß ihr Schickſal in Berathung gezogen<lb/> iſt, und daß man ſich ernſtlich damit beſchäftigt es zu verbeſſern. Zu gleicher<lb/> Zeit wird es für die Pforte ein gewiſſes Unterpfand der wohlwollenden Ab-<lb/> ſichten der Großmächte ſeyn, welche die Erhaltung der osmaniſchen Pforte<lb/> unter die Zahl der wichtigſten Bedingungen für das europäiſche Gleichgewicht<lb/> geſtellt haben. So muß ſich für beide Theile ein Motiv herausſtellen: für die<lb/> türkiſche Regierung Vertrauen und Sicherheit, für die Chriſten Geduld und<lb/> Hoffnung. Seinerſeits wird Europa, nach gemachter Erfahrung, unſerer<lb/> Meinung zufolge nicht anderswo als in dieſer moraliſchen Action die Garau-<lb/> tien finden welche eine Frage erſten Rangs gebieteriſch fordert, mit welcher die<lb/> Ruhe Europa’s unlöslich verbunden iſt, und wo ſich die Intereſſen der Menſch-<lb/> heit mit denen der Politik vermiſchen. Unſer kaiſerlicher Herr hat niemals die<lb/> lebhafte Zuneigung verlaugnet welche ihm die erſtern einflößen. Se. Majeſtät<lb/> will nicht den Vorwurf auf ſein Gewiſſen laden ſolchen Leiden gegenüber<lb/> Schweigen beobachtet zu haben, während anderswo ſo viele Stimmen unter<lb/> weniger gebietenden Umſtänden ſich erhoben haben. Wir haben ſchließlich die<lb/> feſte Ueberzeugung daß dieſe Ideenfolge unzertrennlich iſt von dem politiſchen<lb/> Intereſſe das ſich für Rußland wie für alle andern Mächte an die Aufrecht-<lb/> haltung des osmaniſchen Reichs knüpft. Wir möchten uns dem Glauben hin-<lb/> geben daß dieſe Anſichten von allen Cabinetten getheilt werden. Wir haben<lb/> aber auch die Ueberzeugung daß die Zeit der Illuſionen vorüber iſt, und daß<lb/> jede Unentſchloſſenheit, jede Verzögerung die ſchwerſten Folgen nach ſich ziehen<lb/> müſſe. Indem wir mit allen Kräften dazu beitragen der osmaniſchen Regie-<lb/> rung einen Weg zu zeigen auf welchem ſie dieſen Eventualitäten begegnen<lb/> kann, glauben wir derſelben einen Beweis unſerer Beſorgniß zu geben, und<lb/> zu gleicher Zeit eine Pflicht der Humanität zu erfüllen. Indem wir die Groß-<lb/> mächte auffordern ſich mit uns zu dieſem Zweck zu verbinden, glauben wir<lb/> jede Möglichkeit zu vermeiden excluſiviſcher oder anmaßlicher Mittel uns zu<lb/> bedienen. Dieß iſt der Zweck der Eröffnungen mit denen wir uns an die Höfe<lb/> von Berlin, London, Paris und Wien gewandt haben. Was auch das Reſul-<lb/> tat ſeyn möge, uns iſt vor allem wichtig daß der Gedanke der uns dabei ge-<lb/> leitet wohlverſtanden werde. Hienach ſind Sie ermächtigt auf Befehl Sr. M.<lb/> des Kaiſers von dieſer gegenwärtigen Depeſche den Hrn. Miniſter des Aus-<lb/> wärtigen Einſicht nehmen zu laſſen. 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5000 Mann vor, das unſere vermeintliche Flucht beunruhigen ſollte. Am
20 Morgens kamen wir nach Marineo, wo wir ein Carabinierspiket von 25
Mann gefangen nahmen. Da es früh am Morgen war, ſo lagen letztere im
tiefen Schlaf, und machten große Augen als ſie von meinen rothen Blouſen
aus dem Bette geholt wurden. Jetzt galt es raſch vorzurücken, denn auf der
Straße von Ogliaſtro nach Miſimeli war ſchon Lärm entſtanden, und unſer
Anrücken ſignaliſirt. Vor Ogliaſtro beſtanden wir ein kleines Gefecht mit
einer Abtheilung feindlicher Reiterei, die aber bald das Weite ſuchte. Am 22
zogen wir nach einem zweiſtündigen ſiegreichen Kampf in Miſimeli ein, und
ſtanden ſomit vor den Thoren Palermo’s. Während meines Marſches habe
ich noch 2300 Inſurgenten, alle wohlbewaffnet, an mich gezogen, und ſo
Gott will, bin ich in zwei bis drei Tagen in Palermo. Unſer Geſammtverluſt
in allen bisher gelieferten Gefechten beläuft ſich auf 187 Todte und 192 Ver-
wundete. Der Geiſt der Bevölkerung iſt vortrefflich, der Muth meiner
braven Soldaten über alles Lob erhaben. Auf den Höhen von Miſimeli,
23 Mai 1860. Gez. J. Garibaldi, General en Chef der nationalen
Expeditionsarmee in Sicilien. Für die richtige Ausfertigung: Gez. Stefan
Türr, erſter Generaladjutant.“ — Türr iſt bekanntlich ein Ungar, der vor
dem Jahr 1848 als Unterlieutenant in dem öſterreichiſchen Infanterieregiment
„Erzherzog Franz Karl“ diente. Bei Buffalora gieng er zu den Piemonteſen
über, betheiligte ſich 1849 beim badiſchen Aufſtand, und wurde während des
Krimkriegs in der Walachei — wo er für die Engländer Pferde kaufte —
von den Oeſterreichern gefangen. Er wurde zum Tode verurtheilt, auf die
Fürbitte der Königin von England aber begnadigt. Seit dieſer Zeit hielt er
ſich abwechſelnd hier oder in Turin auf, und ſchloß ſich der Garibaldi’ſchen
Expedition an.
× Mailand, 8 Jun. Der Marſchall Vaillant iſt geſtern von ſei-
ner Excurſion nach Venedig zurückgekehrt, und am Sonntag oder Montag
wird er mit ſeinem Stab nach Frankreich abziehen, auf dem Weg jedoch Bo-
logna und Florenz beſuchend. Morgen ziehen auch die zwei letzten Bataillone
des 99. Linienregiments ab; es hört die Platzcommandantſchaft der Franzoſen
auf, und die militäriſchen Behörden Piemonts treten in der Lombardei in Ac-
tivität. Man erwartet als Erſatz der Franzoſen die Truppen des Generals
Lamarmora. — Die lombardiſchen Deputirten hielten in Turin Privatver-
ſammlungen, und ſuchten beim Miniſterium um die Abſchaffung der außeror-
dentlichen Vermögensſteuer von 33½ Proc nach. Die Abſchaffung wird erfolgen
um einer andern Steuer Platz zu machen. Das iſt der Sinn der Antwort.
Unſer berühmter Mitbürger Manzoni gieng nach Turin um den Eid als
Senator zu leiſten und der Discuſſion über die Abtretung Nizza’s und Sa-
voyens beizuwohnen. Breſcia votirte abermals 10,000 Lire, und ſchickte
wieder 212 junge Männer Garibaldi zu.
Rußland und Polen.
Die Circulardepeſche des Fürſten Gortſchakoff an die ruſſiſchen Geſandt-
ſchaften im Ausland, die wir bereits nach einem Telegramm erwähnten, lautet
nach der N. Preuß. Ztg.: „St. Petersburg, 20 Mai 1860. Die Aufmerk-
ſamkeit welche die Verhandlungen über die orientaliſche Frage in dieſem Augen-
blick in ganz Europa in Anſpruch nehmen, veranlaßt uns außerhalb der Trag-
weite jedes Irrthums, und jeder falſchen und übertriebenen Auslegung den
Weg zu erklären den das kaiſerl. Cabinet eingeſchlagen, und das Ziel welches
in dieſer Frage es ſich vorgeſteckt hat. Seit länger als einem Jahr bezeichnen
uns die officiellen Berichte unſerer Agenten in der Türkei die Lage der chriſt-
lichen Provinzen unter türkiſcher Oberherrlichkeit als immer ſchwieriger wer-
dend, namentlich Bosniens, der Herzegowina und Bulgariens. Dieſe Lage
datirt nicht von heute; aber weit entfernt ſich zu verbeſſern, wie man erwarten
ſollte, hat ſie ſich in den letzten Jahren nur verſchlimmert. Die chriſtlichen
Unterthanen Sr. M. des Sultans hatten mit Vertrauen und Dankbarkeit die
poſitiven Verſprechungen von Reformen erhalten; aber ihre Verwirklichung
läßt noch auf ſich warten, die Verwirklichung einer Hoffnung welche die feier-
lichen Acte des Herrſchers und die Zuſtimmung Europa’s mit einer doppelten
Weihe umkleidet hatten. Die Leidenſchaften und Feindſeligkeiten, ſtatt ſich zu
beruhigen, haben neue Nahrung gefunden; die Gewaltthätigkeiten, die Leiden,
denen die chriſtliche Bevölkerung unterzogen wurde, und die Ereigniſſe endlich
die ſich im Weſten Europa’s anfüllten, im ganzen Orient wie ein Aufruf und
eine Ermuthigung wiederhallten, brachten Aufregung unter dieſelbe. Es iſt
erklärlich daß ſich eine ſolche Situation ohne Gefahr für die osmaniſche
Pforte und den allgemeinen Frieden nicht verlängern könne. In
dieſer Ueberzeugung haben wir uns offen und loyal an die Groß-
mächte Europa’s gewandt, nachdem wir einerſeits vergebens die türkiſche
Regierung über den Ernſt der Lage aufzuklären geſucht, indem wir die-
ſelbe fortlaufend mit den Mittheilungen über die Mißbräuche der Local-
behörden bekannt gemacht, andrerſeits alle Mittel der Ueberredung, die
uns zu Gebot ſtanden, angewandt um die Chriſten zur Geduld zu ermahnen.
Wir haben den Großmächten die Lage geſchildert wie ſie aus den Berichten
unſerer Agenten hervorgeht; ſie bekannt gemacht mit der drohenden Kriſe, mit
unſerer Ueberzeugung daß iſolirte Repräſentationen, unfruchtbare Verſprechun-
gen oder Palliativmittel, die Gefahr abzuwenden, nicht mehr ausreichen; mit
der Nothwendigkeit endlich einer Uebereinſtimmung zwiſchen den Großmächten
und der hohen Pforte über die zu treffenden Maßnahmen, welche allein dieſer
gefährlichen Lage eine Gränze ſetzen können. Wir haben durchaus keine ab-
ſoluten Vorſchläge über den einzuſchlagenden Weg gemacht. Wir haben uns
genügen laſſen die Wichtigkeit davon anzudenten und das Ziel zu bezeichnen.
Was die erſtere betrifft, ſo haben wir nicht verheimlicht daß darüber kein
Zweifel walte, noch ein Aufſchub ſtatthaft ſey. In Betreff des zweiten
ſcheinen ſich zwei verſchiedene Phaſen zu bieten. Vor allen Dingen eine unver-
zügliche locale Unterſuchung unter Theilnahme der europäiſchen Abgeordneten
um die Wahrheit der Thatſachen feſtzuſtellen. Darauf ein Uebereinkommen, das
den Großmächten überlaſſen wird, unter ſich und mit der Pforte herzuſtellen
um die nothwendigen organiſchen Maßnahmen zu berathen die eine wirkliche,
gründliche und dauerhafte Verbeſſerung der Lage der chriſtlichen Bevölkerung
des Reichs herbeiführen können. Es handelt ſich hier durchaus nicht um eine
verletzende Anmaßung der Würde der Pforte gegenüber. Wir mißtrauen deren
Abſichten nicht. Sie iſt zuerſt dabei intereſſirt aus der gegenwärtigen Lage heraus
zu kommen. Welches auch das Reſultat der Verblendung, der Duldung oder
der Schwäche ſey, das Mitwirken Europa’s kann für die Pforte nur nützlich ſeyn,
entweder um ihr Urtheil aufzuklären oder ihre Thatkraft zu ſtärken. Es wird
auch ferner weder von einem Angriff auf ihre Rechte, welche wir geachtet zu ſehen
wünſchen, die Rede ſeyn, noch von Herbeiführung von Verwicklungen, welchen
vorzubeugen unſere Abſicht iſt. Das gute Einvernehmen welches wir zwiſchen
den Großmächten und der türkiſchen Regierung hergeſtellt zu wünſchen ſehen,
ſoll für die Chriſten ein Beweis ſeyn daß ihr Schickſal in Berathung gezogen
iſt, und daß man ſich ernſtlich damit beſchäftigt es zu verbeſſern. Zu gleicher
Zeit wird es für die Pforte ein gewiſſes Unterpfand der wohlwollenden Ab-
ſichten der Großmächte ſeyn, welche die Erhaltung der osmaniſchen Pforte
unter die Zahl der wichtigſten Bedingungen für das europäiſche Gleichgewicht
geſtellt haben. So muß ſich für beide Theile ein Motiv herausſtellen: für die
türkiſche Regierung Vertrauen und Sicherheit, für die Chriſten Geduld und
Hoffnung. Seinerſeits wird Europa, nach gemachter Erfahrung, unſerer
Meinung zufolge nicht anderswo als in dieſer moraliſchen Action die Garau-
tien finden welche eine Frage erſten Rangs gebieteriſch fordert, mit welcher die
Ruhe Europa’s unlöslich verbunden iſt, und wo ſich die Intereſſen der Menſch-
heit mit denen der Politik vermiſchen. Unſer kaiſerlicher Herr hat niemals die
lebhafte Zuneigung verlaugnet welche ihm die erſtern einflößen. Se. Majeſtät
will nicht den Vorwurf auf ſein Gewiſſen laden ſolchen Leiden gegenüber
Schweigen beobachtet zu haben, während anderswo ſo viele Stimmen unter
weniger gebietenden Umſtänden ſich erhoben haben. Wir haben ſchließlich die
feſte Ueberzeugung daß dieſe Ideenfolge unzertrennlich iſt von dem politiſchen
Intereſſe das ſich für Rußland wie für alle andern Mächte an die Aufrecht-
haltung des osmaniſchen Reichs knüpft. Wir möchten uns dem Glauben hin-
geben daß dieſe Anſichten von allen Cabinetten getheilt werden. Wir haben
aber auch die Ueberzeugung daß die Zeit der Illuſionen vorüber iſt, und daß
jede Unentſchloſſenheit, jede Verzögerung die ſchwerſten Folgen nach ſich ziehen
müſſe. Indem wir mit allen Kräften dazu beitragen der osmaniſchen Regie-
rung einen Weg zu zeigen auf welchem ſie dieſen Eventualitäten begegnen
kann, glauben wir derſelben einen Beweis unſerer Beſorgniß zu geben, und
zu gleicher Zeit eine Pflicht der Humanität zu erfüllen. Indem wir die Groß-
mächte auffordern ſich mit uns zu dieſem Zweck zu verbinden, glauben wir
jede Möglichkeit zu vermeiden excluſiviſcher oder anmaßlicher Mittel uns zu
bedienen. Dieß iſt der Zweck der Eröffnungen mit denen wir uns an die Höfe
von Berlin, London, Paris und Wien gewandt haben. Was auch das Reſul-
tat ſeyn möge, uns iſt vor allem wichtig daß der Gedanke der uns dabei ge-
leitet wohlverſtanden werde. Hienach ſind Sie ermächtigt auf Befehl Sr. M.
des Kaiſers von dieſer gegenwärtigen Depeſche den Hrn. Miniſter des Aus-
wärtigen Einſicht nehmen zu laſſen. Empfangen Sie ꝛc. Gortſchakoff.“
Verantwortliche Redaction: Dr. G. Kolb. Dr. A. J. Altenhöfer. Dr. H. Orges
Verlag der J. G. Cotta’ſchen Buchhandlung.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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