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Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920.

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16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft
Aufbau.

I.

Die Hoffnungen, die sich an den Friedensschluß knüpf-
ten, haben sich nicht erfüllt: Wer an einen sofortigen Beginn
des Aufstieges glaubte, war auch zu hoffnungsfreudig, ohne
krampfartige Zuckungen konnte eine solche Erschütterung
der Volksseele nicht zum Ausgleich kommen. Daß wir aber
nach anderthalb Jahren so zerrüttet sein würden, wie wir
es sind, hat niemand erwartet, und hätte nicht einzutreten
brauchen. Wir müssen den Gründen nachgehen und Hand
ans Werk legen, sie zu beseitigen.

Sie sind völklicher, politischer und wirtschaftlicher Art
und hängen eng zusammen. Daß die neue Zeit den sozialen
Forderungen Rechnung trug, war gegeben und ist gut. Jeder
Stand muß an kulturellen und materiellen Gütern soviel
erhalten, wie mit dem Gedeihen des Ganzen irgend vereinbar
ist; dies ist die Grenze, denn wenn das Ganze nicht gedeiht,
kann es auch dem einzelnen auf die Dauer nicht gut gehen.
Die politische Entwicklung mußte freiheitlich gerichtet sein
und mit der Begünstigung einzelner Stände und Klassen
aufräumen. Die Staatsform scheidet bei dieser Betrachtung
aus. Wir hatten die Monarchie und kennen ihre Vorzüge
und Schwächen; wir haben die Republik und werden sehen,
was sie uns bringt. Beide müssen daran gemessen werden,
was sie für das Volkswohl zu leisten vermögen. Jetzt er-
leben wir den Zusammenstoß der Gegensätze. Ohne Kampf
geht es nicht ab, Späne müssen fliegen, aber der Volks-
freund muß wünschen, daß das Bittere, das uns nicht er-
spart werden kann, auf das geringstmögliche Maß be-
schränkt bleibe. Dies Maß wird weit überschritten. Jeder
Kampf sallte ritterlich ausgefochten werden, am meisten
aber der unter Volksgenossen. Es sollte nicht vergessen
werden, daß wir alle Söhne einer Mutter sind. Man sollte
sich nicht gegenseitig den guten Glauben absprechen. Aller-
dings ist die Anstachelung der Leidenschaften ein wirksames
Kampfmittel, aber auch dies hat seine Grenzen. Es gibt
weite Volksschichten, denen der gehässige, politische Kampf
zuwider ist. Es sind die Stillen im Lande, aber auch sie
führen ihren Stimmzettel. Sie sollen und werden sich rühren
gegen die, denen die Parteiinteressen höherstehen als das
Wohl des Ganzen.

Für den sozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß
die zur Führung berufene Sozialdemokratie mit den For-
derungen aus der Zeit, wo sie eine rein oppositionelle
Kampfpartei war (Minimum an Arbeit, Verwerfung des
Stücklohns, Klassengegensatz), behaftet war. Es soll den
Mehrheitssozialisten nicht vergessen sein, daß sie als Regie-
rungspartei staatsmännisch genug waren, hiervon ein
gutes Teil zu opfern und den Kampf mit den Unentwegten
aufzunehmen. Aber die Geister, die sie gerufen hatten,
wurden sie nicht los. Ihre guten Regierungsgrundsätze
kreuzten sich mit ihren Parteiinteressen. Es begann das
Ringen mit den Radikalen um die Gefolgschaft. Hierin lag
das Hemmnis für die Entwicklung einer Arbeiterpartei,
die ihre Interessen als ein Glied des Ganzen verfolgt.
Nun ist auch noch der unglückselige Kapp-Putsch wie ein
Meltau auf die zarte Pflanze gefallen. Der Ruck nach
links hat die Mehrheitssozialdemokratie mit sich gerissen,
die radikalere Richtung hat Abwasser bekommen und die
Regierungsmänner sind gefolgt.

Wie ein Pfahl steckt in unserem Fleisch der Kommunis-
mus. Mit der kommunistischen Lehre hat die Partei wenig
zu tun, diese ist den meisten Genossen wohl kaum bekannt.
Wie regelmäßig, wenn die Leidenschaften entflammt sind,
wird hier eine radikale Richtung von einer noch radikaleren
überboten. Hierzu kam das russische Gift. Aus diesen trüben
Quellen entsprang eine reine Umsturzpartei, gerichtet auf
[Spaltenumbruch] unbedingte Klassenherrschaft, kämpfend mit allen Mitteln
der Entstellung, Verhetzung und rücksichtslosen Gewalt,
ausgerüstet mit Waffen aller Art, geführt von geschickten,
zielbewußten und bedenkenlosen Agitatoren. Sie will den
Bürgerkrieg und hat ihn in dem empfindlichsten Gebiet
unseres Vaterlandes entfesselt. Ihrer Entschlossenheit und
hinreißenden Kraft stehen auf der Ordnungsseite Bedenk-
lichkeit und gegenseitiges Mißtrauen gegenüber.

Auf diesem politischen Boden könnte die Volkswirt-
schaft nicht einmal gedeihen, wenn alle übrigen Bedingun-
gen günstig wären. Bei uns gibt es nur ungünstige Be-
dingungen. Große Gebiete mit wichtigster Gütererzeugung
sind uns entrissen, die Zuführung von Rohstoffen aus dem
Ausland ist unterbunden, die Produktionsform für ver-
schiedene Güter bedeutendster Art ist in einer Umbildung
begriffen, unsere Handelsflotte ist uns zum größten Teil
geraubt, unsere überseeischen Verbindungen sind vernichtet.
unser Kredit ist verschwunden, die Stellung der Unterneh-
mer ist erschüttert, unsere Arbeiterschaft politisiert. Der
Krieg, der Friedensschluß und die Revolution haben uns
eine ungeheuerliche Schuldenlast auferlegt, das mobile
Volksvermögen ist zum größten Teil aufgezehrt, auch das
immobile fängt in bedenklichem Maße an, uns zu ent-
gleiten, die Staatsmittel müssen fast ganz in der unwirt-
schaftlichsten Form, durch ungedeckte Notenausgabe, beschafft
werden, unsere Valuta wird im Auslande zeitweilig fast
mit Null bewertet, die Teuerung ist unerhört und wächst
rasch. Sie muß wachsen, weil viel mehr verbraucht als er-
zeugt wird und weil das Valutaelend und der Warenmangel
dem Schiebertum und der Auswucherung Tür und Tor
öffnen. Die Teuerung zerrüttet unser ganzes Wirtschafts-
leben. Es herrscht ein wildes Kämpfen um Lohn und Ge-
halt. Arbeiter und Beamte erzwingen sich, was sie zum
Leben nötig haben, die Produzenten, Händler und Hand-
werker machen entsprechende Preisaufschläge, das eine
treibt das andere. Wer sein Einkommen nicht erhöhen
kann, steht einer verzweifelten Lage gegenüber. Der Staat,
der selbst nichts hat, soll helfen. Er kann es nicht; sollte
er es dennoch unternehmen, kann der Staatsbankerott
nicht ausbleiben.

Zugleich geben sich viele Leute einem unvernünftigen
Luxus hin, nicht nur die Kriegs- und Revolutionsgewinn-
ler, sondern auch andere, die ein erhöhtes Einkommen be-
ziehen. Vielfach werden die Ansprüche an Lebensgenuß viel
höher gestellt als im Frieden, die Erzwingung der ent-
sprechend berechneten Lohnforderungen ermöglicht es, für
Vergnügungen und entbehrliche Genußmittel viel mehr aus-
zugeben als früher. Kinos und Kabaretts wachsen wie
Pilze aus dem Boden, entbehrliche Genußmittel und Luxus-
artikel werden massenhaft aus dem Auslande eingeführt.
Gegen Schokolade und Zigaretten tauschen wir [nötige]
Lebensmittel, Grundbesitz und industrielle Anlagen aus.

Diese Andeutungen bieten nichts Neues und sollen nur
die Unterlage für die Fragen bilden: Was tun wir, um
uns aus dieser elenden Lage herauszuarbeiten? Was sollten
wir hierfür tun? Die zweite Frage muß gestellt werden.
weil die Antwort auf die erste lautet: "Nichts oder wenig-
stens so gut wie nichts". Denn die an sich anerkennens-
werten Einzelbestrebungen sind für sich allein unzureichend.
einem Elend von so grenzenlosem Umfang und so verzwei-
felter Intensität abzuhelfen. Auch die Beruhigungspastille,
es handle sich um eine Volkskrankheit, die ausrasen werde,
und nach eingetretener Genesung werde das an sich tüchtige
deutsche Volk sich schon wieder emporarbeiten, kann nicht
befriedigen. Genesen wird es einmal, aber wenn dies nicht
bald geschieht, es könnte auf einem Trümmerhaufen und
einem Kirchhof stehen. Unsere Feinde würden die politischen
und wirtschaftlichen Herren im Lande sein, für sie würden
wir arbeiten müssen, um zu leben. Kein Streik würde
helfen, die Arbeiterrechte zu wahren, man ließe uns ein-
fach hungern, bis wir zu Kreuze kröchen, Bajonette und
Maschinengewehre würden nachhelfen. Aus Deutschland
würde ein Irland mit industriellem Einschlag werden. Es
muß also etwas geschehen, daß der ständige Niedergang

16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft
Aufbau.

I.

Die Hoffnungen, die ſich an den Friedensſchluß knüpf-
ten, haben ſich nicht erfüllt: Wer an einen ſofortigen Beginn
des Aufſtieges glaubte, war auch zu hoffnungsfreudig, ohne
krampfartige Zuckungen konnte eine ſolche Erſchütterung
der Volksſeele nicht zum Ausgleich kommen. Daß wir aber
nach anderthalb Jahren ſo zerrüttet ſein würden, wie wir
es ſind, hat niemand erwartet, und hätte nicht einzutreten
brauchen. Wir müſſen den Gründen nachgehen und Hand
ans Werk legen, ſie zu beſeitigen.

Sie ſind völklicher, politiſcher und wirtſchaftlicher Art
und hängen eng zuſammen. Daß die neue Zeit den ſozialen
Forderungen Rechnung trug, war gegeben und iſt gut. Jeder
Stand muß an kulturellen und materiellen Gütern ſoviel
erhalten, wie mit dem Gedeihen des Ganzen irgend vereinbar
iſt; dies iſt die Grenze, denn wenn das Ganze nicht gedeiht,
kann es auch dem einzelnen auf die Dauer nicht gut gehen.
Die politiſche Entwicklung mußte freiheitlich gerichtet ſein
und mit der Begünſtigung einzelner Stände und Klaſſen
aufräumen. Die Staatsform ſcheidet bei dieſer Betrachtung
aus. Wir hatten die Monarchie und kennen ihre Vorzüge
und Schwächen; wir haben die Republik und werden ſehen,
was ſie uns bringt. Beide müſſen daran gemeſſen werden,
was ſie für das Volkswohl zu leiſten vermögen. Jetzt er-
leben wir den Zuſammenſtoß der Gegenſätze. Ohne Kampf
geht es nicht ab, Späne müſſen fliegen, aber der Volks-
freund muß wünſchen, daß das Bittere, das uns nicht er-
ſpart werden kann, auf das geringſtmögliche Maß be-
ſchränkt bleibe. Dies Maß wird weit überſchritten. Jeder
Kampf ſallte ritterlich ausgefochten werden, am meiſten
aber der unter Volksgenoſſen. Es ſollte nicht vergeſſen
werden, daß wir alle Söhne einer Mutter ſind. Man ſollte
ſich nicht gegenſeitig den guten Glauben abſprechen. Aller-
dings iſt die Anſtachelung der Leidenſchaften ein wirkſames
Kampfmittel, aber auch dies hat ſeine Grenzen. Es gibt
weite Volksſchichten, denen der gehäſſige, politiſche Kampf
zuwider iſt. Es ſind die Stillen im Lande, aber auch ſie
führen ihren Stimmzettel. Sie ſollen und werden ſich rühren
gegen die, denen die Parteiintereſſen höherſtehen als das
Wohl des Ganzen.

Für den ſozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß
die zur Führung berufene Sozialdemokratie mit den For-
derungen aus der Zeit, wo ſie eine rein oppoſitionelle
Kampfpartei war (Minimum an Arbeit, Verwerfung des
Stücklohns, Klaſſengegenſatz), behaftet war. Es ſoll den
Mehrheitsſozialiſten nicht vergeſſen ſein, daß ſie als Regie-
rungspartei ſtaatsmänniſch genug waren, hiervon ein
gutes Teil zu opfern und den Kampf mit den Unentwegten
aufzunehmen. Aber die Geiſter, die ſie gerufen hatten,
wurden ſie nicht los. Ihre guten Regierungsgrundſätze
kreuzten ſich mit ihren Parteiintereſſen. Es begann das
Ringen mit den Radikalen um die Gefolgſchaft. Hierin lag
das Hemmnis für die Entwicklung einer Arbeiterpartei,
die ihre Intereſſen als ein Glied des Ganzen verfolgt.
Nun iſt auch noch der unglückſelige Kapp-Putſch wie ein
Meltau auf die zarte Pflanze gefallen. Der Ruck nach
links hat die Mehrheitsſozialdemokratie mit ſich geriſſen,
die radikalere Richtung hat Abwaſſer bekommen und die
Regierungsmänner ſind gefolgt.

Wie ein Pfahl ſteckt in unſerem Fleiſch der Kommunis-
mus. Mit der kommuniſtiſchen Lehre hat die Partei wenig
zu tun, dieſe iſt den meiſten Genoſſen wohl kaum bekannt.
Wie regelmäßig, wenn die Leidenſchaften entflammt ſind,
wird hier eine radikale Richtung von einer noch radikaleren
überboten. Hierzu kam das ruſſiſche Gift. Aus dieſen trüben
Quellen entſprang eine reine Umſturzpartei, gerichtet auf
[Spaltenumbruch] unbedingte Klaſſenherrſchaft, kämpfend mit allen Mitteln
der Entſtellung, Verhetzung und rückſichtsloſen Gewalt,
ausgerüſtet mit Waffen aller Art, geführt von geſchickten,
zielbewußten und bedenkenloſen Agitatoren. Sie will den
Bürgerkrieg und hat ihn in dem empfindlichſten Gebiet
unſeres Vaterlandes entfeſſelt. Ihrer Entſchloſſenheit und
hinreißenden Kraft ſtehen auf der Ordnungsſeite Bedenk-
lichkeit und gegenſeitiges Mißtrauen gegenüber.

Auf dieſem politiſchen Boden könnte die Volkswirt-
ſchaft nicht einmal gedeihen, wenn alle übrigen Bedingun-
gen günſtig wären. Bei uns gibt es nur ungünſtige Be-
dingungen. Große Gebiete mit wichtigſter Gütererzeugung
ſind uns entriſſen, die Zuführung von Rohſtoffen aus dem
Ausland iſt unterbunden, die Produktionsform für ver-
ſchiedene Güter bedeutendſter Art iſt in einer Umbildung
begriffen, unſere Handelsflotte iſt uns zum größten Teil
geraubt, unſere überſeeiſchen Verbindungen ſind vernichtet.
unſer Kredit iſt verſchwunden, die Stellung der Unterneh-
mer iſt erſchüttert, unſere Arbeiterſchaft politiſiert. Der
Krieg, der Friedensſchluß und die Revolution haben uns
eine ungeheuerliche Schuldenlaſt auferlegt, das mobile
Volksvermögen iſt zum größten Teil aufgezehrt, auch das
immobile fängt in bedenklichem Maße an, uns zu ent-
gleiten, die Staatsmittel müſſen faſt ganz in der unwirt-
ſchaftlichſten Form, durch ungedeckte Notenausgabe, beſchafft
werden, unſere Valuta wird im Auslande zeitweilig faſt
mit Null bewertet, die Teuerung iſt unerhört und wächſt
raſch. Sie muß wachſen, weil viel mehr verbraucht als er-
zeugt wird und weil das Valutaelend und der Warenmangel
dem Schiebertum und der Auswucherung Tür und Tor
öffnen. Die Teuerung zerrüttet unſer ganzes Wirtſchafts-
leben. Es herrſcht ein wildes Kämpfen um Lohn und Ge-
halt. Arbeiter und Beamte erzwingen ſich, was ſie zum
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werker machen entſprechende Preisaufſchläge, das eine
treibt das andere. Wer ſein Einkommen nicht erhöhen
kann, ſteht einer verzweifelten Lage gegenüber. Der Staat,
der ſelbſt nichts hat, ſoll helfen. Er kann es nicht; ſollte
er es dennoch unternehmen, kann der Staatsbankerott
nicht ausbleiben.

Zugleich geben ſich viele Leute einem unvernünftigen
Luxus hin, nicht nur die Kriegs- und Revolutionsgewinn-
ler, ſondern auch andere, die ein erhöhtes Einkommen be-
ziehen. Vielfach werden die Anſprüche an Lebensgenuß viel
höher geſtellt als im Frieden, die Erzwingung der ent-
ſprechend berechneten Lohnforderungen ermöglicht es, für
Vergnügungen und entbehrliche Genußmittel viel mehr aus-
zugeben als früher. Kinos und Kabaretts wachſen wie
Pilze aus dem Boden, entbehrliche Genußmittel und Luxus-
artikel werden maſſenhaft aus dem Auslande eingeführt.
Gegen Schokolade und Zigaretten tauſchen wir [nötige]
Lebensmittel, Grundbeſitz und induſtrielle Anlagen aus.

Dieſe Andeutungen bieten nichts Neues und ſollen nur
die Unterlage für die Fragen bilden: Was tun wir, um
uns aus dieſer elenden Lage herauszuarbeiten? Was ſollten
wir hierfür tun? Die zweite Frage muß geſtellt werden.
weil die Antwort auf die erſte lautet: „Nichts oder wenig-
ſtens ſo gut wie nichts“. Denn die an ſich anerkennens-
werten Einzelbeſtrebungen ſind für ſich allein unzureichend.
einem Elend von ſo grenzenloſem Umfang und ſo verzwei-
felter Intenſität abzuhelfen. Auch die Beruhigungspaſtille,
es handle ſich um eine Volkskrankheit, die ausraſen werde,
und nach eingetretener Geneſung werde das an ſich tüchtige
deutſche Volk ſich ſchon wieder emporarbeiten, kann nicht
befriedigen. Geneſen wird es einmal, aber wenn dies nicht
bald geſchieht, es könnte auf einem Trümmerhaufen und
einem Kirchhof ſtehen. Unſere Feinde würden die politiſchen
und wirtſchaftlichen Herren im Lande ſein, für ſie würden
wir arbeiten müſſen, um zu leben. Kein Streik würde
helfen, die Arbeiterrechte zu wahren, man ließe uns ein-
fach hungern, bis wir zu Kreuze kröchen, Bajonette und
Maſchinengewehre würden nachhelfen. Aus Deutſchland
würde ein Irland mit induſtriellem Einſchlag werden. Es
muß alſo etwas geſchehen, daß der ſtändige Niedergang

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[181/0003] 16. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Aufbau. Von Staatsminiſter Graepel in Oldenburg. I. Die Hoffnungen, die ſich an den Friedensſchluß knüpf- ten, haben ſich nicht erfüllt: Wer an einen ſofortigen Beginn des Aufſtieges glaubte, war auch zu hoffnungsfreudig, ohne krampfartige Zuckungen konnte eine ſolche Erſchütterung der Volksſeele nicht zum Ausgleich kommen. Daß wir aber nach anderthalb Jahren ſo zerrüttet ſein würden, wie wir es ſind, hat niemand erwartet, und hätte nicht einzutreten brauchen. Wir müſſen den Gründen nachgehen und Hand ans Werk legen, ſie zu beſeitigen. Sie ſind völklicher, politiſcher und wirtſchaftlicher Art und hängen eng zuſammen. Daß die neue Zeit den ſozialen Forderungen Rechnung trug, war gegeben und iſt gut. Jeder Stand muß an kulturellen und materiellen Gütern ſoviel erhalten, wie mit dem Gedeihen des Ganzen irgend vereinbar iſt; dies iſt die Grenze, denn wenn das Ganze nicht gedeiht, kann es auch dem einzelnen auf die Dauer nicht gut gehen. Die politiſche Entwicklung mußte freiheitlich gerichtet ſein und mit der Begünſtigung einzelner Stände und Klaſſen aufräumen. Die Staatsform ſcheidet bei dieſer Betrachtung aus. Wir hatten die Monarchie und kennen ihre Vorzüge und Schwächen; wir haben die Republik und werden ſehen, was ſie uns bringt. Beide müſſen daran gemeſſen werden, was ſie für das Volkswohl zu leiſten vermögen. Jetzt er- leben wir den Zuſammenſtoß der Gegenſätze. Ohne Kampf geht es nicht ab, Späne müſſen fliegen, aber der Volks- freund muß wünſchen, daß das Bittere, das uns nicht er- ſpart werden kann, auf das geringſtmögliche Maß be- ſchränkt bleibe. Dies Maß wird weit überſchritten. Jeder Kampf ſallte ritterlich ausgefochten werden, am meiſten aber der unter Volksgenoſſen. Es ſollte nicht vergeſſen werden, daß wir alle Söhne einer Mutter ſind. Man ſollte ſich nicht gegenſeitig den guten Glauben abſprechen. Aller- dings iſt die Anſtachelung der Leidenſchaften ein wirkſames Kampfmittel, aber auch dies hat ſeine Grenzen. Es gibt weite Volksſchichten, denen der gehäſſige, politiſche Kampf zuwider iſt. Es ſind die Stillen im Lande, aber auch ſie führen ihren Stimmzettel. Sie ſollen und werden ſich rühren gegen die, denen die Parteiintereſſen höherſtehen als das Wohl des Ganzen. Für den ſozialen Aufbau war es verhängnisvoll, daß die zur Führung berufene Sozialdemokratie mit den For- derungen aus der Zeit, wo ſie eine rein oppoſitionelle Kampfpartei war (Minimum an Arbeit, Verwerfung des Stücklohns, Klaſſengegenſatz), behaftet war. Es ſoll den Mehrheitsſozialiſten nicht vergeſſen ſein, daß ſie als Regie- rungspartei ſtaatsmänniſch genug waren, hiervon ein gutes Teil zu opfern und den Kampf mit den Unentwegten aufzunehmen. Aber die Geiſter, die ſie gerufen hatten, wurden ſie nicht los. Ihre guten Regierungsgrundſätze kreuzten ſich mit ihren Parteiintereſſen. Es begann das Ringen mit den Radikalen um die Gefolgſchaft. Hierin lag das Hemmnis für die Entwicklung einer Arbeiterpartei, die ihre Intereſſen als ein Glied des Ganzen verfolgt. Nun iſt auch noch der unglückſelige Kapp-Putſch wie ein Meltau auf die zarte Pflanze gefallen. Der Ruck nach links hat die Mehrheitsſozialdemokratie mit ſich geriſſen, die radikalere Richtung hat Abwaſſer bekommen und die Regierungsmänner ſind gefolgt. Wie ein Pfahl ſteckt in unſerem Fleiſch der Kommunis- mus. Mit der kommuniſtiſchen Lehre hat die Partei wenig zu tun, dieſe iſt den meiſten Genoſſen wohl kaum bekannt. Wie regelmäßig, wenn die Leidenſchaften entflammt ſind, wird hier eine radikale Richtung von einer noch radikaleren überboten. Hierzu kam das ruſſiſche Gift. Aus dieſen trüben Quellen entſprang eine reine Umſturzpartei, gerichtet auf unbedingte Klaſſenherrſchaft, kämpfend mit allen Mitteln der Entſtellung, Verhetzung und rückſichtsloſen Gewalt, ausgerüſtet mit Waffen aller Art, geführt von geſchickten, zielbewußten und bedenkenloſen Agitatoren. Sie will den Bürgerkrieg und hat ihn in dem empfindlichſten Gebiet unſeres Vaterlandes entfeſſelt. Ihrer Entſchloſſenheit und hinreißenden Kraft ſtehen auf der Ordnungsſeite Bedenk- lichkeit und gegenſeitiges Mißtrauen gegenüber. Auf dieſem politiſchen Boden könnte die Volkswirt- ſchaft nicht einmal gedeihen, wenn alle übrigen Bedingun- gen günſtig wären. Bei uns gibt es nur ungünſtige Be- dingungen. Große Gebiete mit wichtigſter Gütererzeugung ſind uns entriſſen, die Zuführung von Rohſtoffen aus dem Ausland iſt unterbunden, die Produktionsform für ver- ſchiedene Güter bedeutendſter Art iſt in einer Umbildung begriffen, unſere Handelsflotte iſt uns zum größten Teil geraubt, unſere überſeeiſchen Verbindungen ſind vernichtet. unſer Kredit iſt verſchwunden, die Stellung der Unterneh- mer iſt erſchüttert, unſere Arbeiterſchaft politiſiert. Der Krieg, der Friedensſchluß und die Revolution haben uns eine ungeheuerliche Schuldenlaſt auferlegt, das mobile Volksvermögen iſt zum größten Teil aufgezehrt, auch das immobile fängt in bedenklichem Maße an, uns zu ent- gleiten, die Staatsmittel müſſen faſt ganz in der unwirt- ſchaftlichſten Form, durch ungedeckte Notenausgabe, beſchafft werden, unſere Valuta wird im Auslande zeitweilig faſt mit Null bewertet, die Teuerung iſt unerhört und wächſt raſch. Sie muß wachſen, weil viel mehr verbraucht als er- zeugt wird und weil das Valutaelend und der Warenmangel dem Schiebertum und der Auswucherung Tür und Tor öffnen. Die Teuerung zerrüttet unſer ganzes Wirtſchafts- leben. Es herrſcht ein wildes Kämpfen um Lohn und Ge- halt. Arbeiter und Beamte erzwingen ſich, was ſie zum Leben nötig haben, die Produzenten, Händler und Hand- werker machen entſprechende Preisaufſchläge, das eine treibt das andere. Wer ſein Einkommen nicht erhöhen kann, ſteht einer verzweifelten Lage gegenüber. Der Staat, der ſelbſt nichts hat, ſoll helfen. Er kann es nicht; ſollte er es dennoch unternehmen, kann der Staatsbankerott nicht ausbleiben. Zugleich geben ſich viele Leute einem unvernünftigen Luxus hin, nicht nur die Kriegs- und Revolutionsgewinn- ler, ſondern auch andere, die ein erhöhtes Einkommen be- ziehen. Vielfach werden die Anſprüche an Lebensgenuß viel höher geſtellt als im Frieden, die Erzwingung der ent- ſprechend berechneten Lohnforderungen ermöglicht es, für Vergnügungen und entbehrliche Genußmittel viel mehr aus- zugeben als früher. Kinos und Kabaretts wachſen wie Pilze aus dem Boden, entbehrliche Genußmittel und Luxus- artikel werden maſſenhaft aus dem Auslande eingeführt. Gegen Schokolade und Zigaretten tauſchen wir nötige Lebensmittel, Grundbeſitz und induſtrielle Anlagen aus. Dieſe Andeutungen bieten nichts Neues und ſollen nur die Unterlage für die Fragen bilden: Was tun wir, um uns aus dieſer elenden Lage herauszuarbeiten? Was ſollten wir hierfür tun? Die zweite Frage muß geſtellt werden. weil die Antwort auf die erſte lautet: „Nichts oder wenig- ſtens ſo gut wie nichts“. Denn die an ſich anerkennens- werten Einzelbeſtrebungen ſind für ſich allein unzureichend. einem Elend von ſo grenzenloſem Umfang und ſo verzwei- felter Intenſität abzuhelfen. Auch die Beruhigungspaſtille, es handle ſich um eine Volkskrankheit, die ausraſen werde, und nach eingetretener Geneſung werde das an ſich tüchtige deutſche Volk ſich ſchon wieder emporarbeiten, kann nicht befriedigen. Geneſen wird es einmal, aber wenn dies nicht bald geſchieht, es könnte auf einem Trümmerhaufen und einem Kirchhof ſtehen. Unſere Feinde würden die politiſchen und wirtſchaftlichen Herren im Lande ſein, für ſie würden wir arbeiten müſſen, um zu leben. Kein Streik würde helfen, die Arbeiterrechte zu wahren, man ließe uns ein- fach hungern, bis wir zu Kreuze kröchen, Bajonette und Maſchinengewehre würden nachhelfen. Aus Deutſchland würde ein Irland mit induſtriellem Einſchlag werden. Es muß alſo etwas geſchehen, daß der ſtändige Niedergang

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-04-24T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 19, 16. Mai 1920, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine19_1920/3>, abgerufen am 21.11.2024.