Allgemeine Zeitung, Nr. 20, 23. Mai 1920.23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtschaft Neuthüringen. I. Das schöne mitteldeutsche Land zwischen Werra und Koburg hat bekanntlich den Entschluß gefaßt, dem neuen toren und Motoren der gesamtthüringischen Bewegung un- II. Bolschewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links Hohe Reichsstellen haben das Recht, vielleicht sogar die "Herrscht der Bolschewist durch's Land hin, Wir sind keine hohe Reichsstelle und haben das Recht, Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren Nach den unruhigen Märztagen dieses Jahres hatte 23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung Politik und Wirtſchaft Neuthüringen. I. Das ſchöne mitteldeutſche Land zwiſchen Werra und Koburg hat bekanntlich den Entſchluß gefaßt, dem neuen toren und Motoren der geſamtthüringiſchen Bewegung un- II. Bolſchewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links Hohe Reichsſtellen haben das Recht, vielleicht ſogar die „Herrſcht der Bolſchewiſt durch’s Land hin, Wir ſind keine hohe Reichsſtelle und haben das Recht, Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren Nach den unruhigen Märztagen dieſes Jahres hatte <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0003" n="189"/> <fw place="top" type="header">23. Mai 1920 <hi rendition="#b">Allgemeine Zeitung</hi></fw><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <head> <hi rendition="#b">Politik und Wirtſchaft</hi> </head><lb/> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#b">Neuthüringen.</hi> </head><lb/> <byline>Von <hi rendition="#g">Reinhard Weer.</hi></byline><lb/> <p> <hi rendition="#aq">I.</hi> </p><lb/> <p>Das ſchöne mitteldeutſche Land zwiſchen Werra und<lb/> Elſter ſchickt ſich an, aus dem geographiſchen Begriff Thü-<lb/> ringen ein politiſcher, aus einer Landſchaft ein Staat, aus<lb/> einer bunten Ländervielheit eine Einheit zu werden. 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Unterbrochen und abgebrochen wurde dieſe Ent-<lb/> wicklung jedoch durch das Dazwiſchentreten des großthürtn-<lb/> giſchen Projektes, das die Schaffung eines thüringiſchen<lb/> Staatsweſens unter Einbeziehung recht bedeutender preußi-<lb/> ſcher Gebietsteile vorſah, eines Staatsweſens, deſſen wirt-<lb/> ſchaftlichen und politiſchen Mittelpunkt das preußiſche Er-<lb/> furt gebildet hätte, das auch als Hauptſtadt des neuen Ge-<lb/> bildes gedacht war. Die Ausführung dieſes Planes wurde<lb/> von ſeiten der thüringiſchen Staatsmänner nicht ungeſchickt<lb/> angeſetzt, ſie ſcheiterte aber an dem lebhaften Widerſtand,<lb/> der jeder Abtretung preußiſcher Gebiete einmal vom preußi-<lb/> ſchen Miniſterium des Innern, dann aber auch und in ganz<lb/> beſonderem Maße von den Provinzialbehörden und der Be-<lb/> völkerung Erfurts und ſeines Regierungsbezirkes ausging.<lb/> Die thüringiſchen Politiker, an ihrer Spitze der weimariſche<lb/> Miniſter Paulſſen und der reußiſche Staatsminiſter Freiherr<lb/> v. Brandſtein, waren einſichtsvoll genug, Unmögliches bei-<lb/> zeiten als unmöglich erkennend, ſich nähere, leichter erreich-<lb/> bare Ziele zu ſtecken. Die Idec „Großthüringen“ verſchwand<lb/> in der Verſenkung, dafür wurde der nicht als Stückwerk<lb/> und Ueberbleibſel des alten zu wertende, ſondern organiſch<lb/> neue Plan entworfen, einen Staat „Geſamtthüringen“ zu<lb/> ſchaffen, der alle thüringiſchen Länder ohne Einbeziehung<lb/> preußiſcher Gebietsteile umfaſſen ſollte. Vorſichtige Prüfung<lb/> ergab, daß auch dieſes kleinere Staatsweſen ein durchaus<lb/> lebensfähiges Gebilde abgeben, daß es finanziell ſogar in<lb/> mancher Hinſicht recht günſtig daſtehen werde. Nach man-<lb/> cherlei Vorbereitungen, von denen die große Oeffentlichkeit<lb/> wenig erfahren hat, die aber darum nicht minder ſorgſame<lb/> und gründliche Arbeit erforderten, trat im Dezember im<lb/> alten Landtagshaus zu Weimar der erſte gemeinſchaftliche<lb/> Volksrat von Geſamtthüringen zuſammen, deſſen Aufgabe es<lb/> iſt, dem neuen Staatsweſen Form und Verfaſſung zu geben.<lb/> Die Geburtsſtunde des Landes Thüringen mit der Haupt-<lb/> ſtadt Weimar iſt nicht mehr fern.</p><lb/> <p>Koburg hat bekanntlich den Entſchluß gefaßt, dem neuen<lb/> mitteldeutſchen Staate fernzubleiben und ſich Bayern anzu-<lb/> gliedern; ſein Anſchluß an die bayeriſche Republik iſt bereits<lb/> Tatſache geworden. Dieſe Lostrennung kam denen, die thü-<lb/> ringiſche Verhältniſſe kannten und die Entwicklung der<lb/> Dinge in den letzten Monaten verfolgt hatten, nicht über-<lb/> raſchend. Auch der Freiſtaat Meiningen war einige Zeit im<lb/> Zweifel, welcher Seite er ſich zuwenden ſollte, bis um die<lb/> Jahreswende das Meiningenſche Jawort für Thüringen beim<lb/> Staatsrat und Volksrat in Weimar abgegeben wurde. Das<lb/> Verdienſt, die Abſplitterung dieſes größten thüringiſchen<lb/> Einzellandes verhindert zu haben, gebührt in erſter Linie<lb/> den ſchon genannten beiden Miniſtern, die ſich als Inſpira-</p><lb/> <cb/> <p>toren und Motoren der geſamtthüringiſchen Bewegung un-<lb/> vergängliche Verdienſte erworben haben. Die große Ruhe,<lb/> Mäßigung und Beſonnenheit Paulſſens und die radikalere<lb/> Art des Freiherrn v. Brandenſtein haben ſich hier bei einem<lb/> löblichen Werk <hi rendition="#aq">par excellence</hi> in glücklichſter Weiſe er-<lb/> gänzt. In Herrn Paulſſen hat Thüringen wohl — dieſer Er-<lb/> wartung und Hoffnung darf ſchon heute Ausdruck verliehen<lb/> werden — den erſten Miniſterpräſidenten des neuen Gemein-<lb/> ſchaftsſtaates zu erblicken.</p><lb/> <p> <hi rendition="#aq">II.</hi> </p><lb/> <p>Bolſchewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links<lb/> in Weimar? Sowjetherrſchaft in Gotha, Räterepublik in<lb/> Reuß? Der an Ort und Stelle Geweſene antwortet darauf<lb/> mit einem immerhin beruhigenden: So weit iſt es nicht ge-<lb/> kommen. Zum mindeſten noch nicht.</p><lb/> <p>Hohe Reichsſtellen haben das Recht, vielleicht ſogar die<lb/> Pflicht, ſehr optimiſtiſch zu ſein, ſonſt hielten ſie’s auf der<lb/> windigen Höhe nicht aus. Die Geſtalt eines Noske iſt ohne<lb/> ſtarknervigen, auf die Spitze getriebenen Optimismus un-<lb/> denkbar. Hohe Reichsſtellen wiſſen nichts vom Bolſchemis-<lb/> mus in Deutſchland, wollen nichts von ihm wiſſen, lehnen<lb/> ihn ab. Wie ſagte Friedrich Frekſa ſo ſchön im „Phosphor“:</p><lb/> <cit> <quote>„Herrſcht der Bolſchewiſt durch’s Land hin,<lb/> Müllern ſetzt er nicht in Trab,<lb/> Lehnt er Müllern an die Wand hin,<lb/> Lehnt ihn Müller einfach ab!“</quote> </cit><lb/> <p>Wir ſind keine hohe Reichsſtelle und haben das Recht,<lb/> einen Grad weniger optimiſtiſch zu ſein. Aber auch zu über-<lb/> triebenem Peſſimismus liegt, wenigſtens im Falle Thürin-<lb/> gen, kein Grund vor.</p><lb/> <p>Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren<lb/> ſchon vor den Märzereigniſſen dieſes Jahres die Induſtrie-<lb/> ſtädte Gotha und Gera. Dort haben nämlich die Leute der<lb/> U. S. P. D. die Regierungsgewalt in der Hand. Ja — aber<lb/> ſie regieren wirklich, das heißt ſie haben nicht etwa eine<lb/> Schreckensherrſchaft von der Art der des Räubers Hölz im<lb/> ſächſiſchen Vogtland aufgerichtet, ſondern ſie zeigen Ver-<lb/> nunft, Mäßigung, Ordnungswillen. So war es vor dem<lb/> Kappiſtenputſch. Man konnte zufrieden ſein.</p><lb/> <p>Nach den unruhigen Märztagen dieſes Jahres hatte<lb/> es allerdings eine Zeitlang den Anſchein, als ſollte die<lb/> oberſte Gewalt in Gotha und Gera ganz den verfaſſungs-<lb/> mäßigen Regierungen der beiden kleinen Länder entgleiten<lb/> und in die Hände linksradikaler Aktionsausſchüſſe über-<lb/> gehen. In Gotha, wo die Lage wenig Gefahr für beſondere<lb/> Verwicklungen bot, wurde dem durch eine rechtzeitig ein-<lb/> rückende Reichswehrbeſatzung vorgebeugt, in Gero ſchien<lb/> dieſes einfache Hilfsmittel nicht wohl anwendbar, da hier<lb/> auf den ſchnell vorübergegangenen, temperamentvoll ein-<lb/> geleiteten, aber höchſt ungeſchickt durchgeführten Kappiſten-<lb/> putſch eine ſehr lebhafte und nachhaltige Gegenwirkung ge-<lb/> folgt war. Die geſamte Arbeiterſchaft ſtand unter den Waffen,<lb/> wachſam bis aufs äußerſte und zur Verteidigung ihrer<lb/> neuerrungenen, gegen die Aufrührer ſiegreich behaupteten<lb/> revolutionären Freiheit gegen jeden Angriff oder auch nur<lb/> Schein eines Angriffes feſt entſchloſſen. Eine Annäherung<lb/> irgendwelcher Truppen hätte den bewaffneten Widerſtand<lb/> der gut organiſierten und diſziplinierten Arbeiterwehren<lb/> in Reuß, Altenburg und darüber hinaus ausgelöſt und das<lb/> Leben der aus den Tagen des Kappiſtenputſches verhaf-<lb/> teten, zum großen Teil ſehr harmloſen Bürger und Zeit-<lb/> freiwilligen, die der Aktionsausſchuß eingeſtandenermaßen<lb/> noch als Geiſeln feſthielt, in ſchwerſte Gefahr gebracht.<lb/> Hier mußte anders verfahren werden. Feſtſtellungen von<lb/> Vertretern des Reiches in Gera ergaben, daß eine ſchnelle<lb/> Konſolidation der Lage erwartet werden durfte, eine Kon-<lb/> ſolidation im Sinne einer allmählichen Ausſchaltung des<lb/> Aktionsausſchuſſes und damit eine Wiederherſtellung ver-<lb/> faſſungsmäßiger Verhältniſſe, wenn man die Reußen ſich<lb/> ſelbſt überließ und keinen Eingriff von außen unternahm.<lb/> Der Staatsrat in Gera unter dem Freiherrn v. Branden-<lb/> ſtein und der ordnungsmäßig aus Wahlen hervorgegangene,<lb/> in den Märztagen vorübergehend etwas an die Wand ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [189/0003]
23. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Neuthüringen.
Von Reinhard Weer.
I.
Das ſchöne mitteldeutſche Land zwiſchen Werra und
Elſter ſchickt ſich an, aus dem geographiſchen Begriff Thü-
ringen ein politiſcher, aus einer Landſchaft ein Staat, aus
einer bunten Ländervielheit eine Einheit zu werden. Was
die deutſche Revolution verſäumt hat: die kulturhiſtoriſch
verdienſtvollen, aber politiſch auf die Dauer unmöglichen
Splitterſtaaten unſeres geſchlagenen Vaterlandes mit ra-
ſchem, ſchmerzloſem Zugriff zu einem geſchloſſenen Block zu-
ſammenzuſchweißen, der vielleicht eine ſchnellere Ueberwin-
dung von Kriegs- und Nachkriegsnöten verſprochen hätte,
Thüringen will es im kleinen auf eigene Fauſt nachholen.
Einen rühmlichen Vorſtoß in dieſer Richtung haben ſchon
um die Mitte des vorigen Jahres die beiden reußiſchen
Freiſtaaten gemacht, indem ſie ſich zu einem Volksſtaate
Reuß mit der Hauptſtadt Gera zuſammenſchloſſen. Hier
ſchien ein Kriſtalliſationspunkt gegeben, der zunächſt auf
das durch Gemeinſamkeit vieler Intereſſen mit Reuß eng-
verbundene Altenburg eine ſtarke Anziehungskraft ausüben
konnte. Unterbrochen und abgebrochen wurde dieſe Ent-
wicklung jedoch durch das Dazwiſchentreten des großthürtn-
giſchen Projektes, das die Schaffung eines thüringiſchen
Staatsweſens unter Einbeziehung recht bedeutender preußi-
ſcher Gebietsteile vorſah, eines Staatsweſens, deſſen wirt-
ſchaftlichen und politiſchen Mittelpunkt das preußiſche Er-
furt gebildet hätte, das auch als Hauptſtadt des neuen Ge-
bildes gedacht war. Die Ausführung dieſes Planes wurde
von ſeiten der thüringiſchen Staatsmänner nicht ungeſchickt
angeſetzt, ſie ſcheiterte aber an dem lebhaften Widerſtand,
der jeder Abtretung preußiſcher Gebiete einmal vom preußi-
ſchen Miniſterium des Innern, dann aber auch und in ganz
beſonderem Maße von den Provinzialbehörden und der Be-
völkerung Erfurts und ſeines Regierungsbezirkes ausging.
Die thüringiſchen Politiker, an ihrer Spitze der weimariſche
Miniſter Paulſſen und der reußiſche Staatsminiſter Freiherr
v. Brandſtein, waren einſichtsvoll genug, Unmögliches bei-
zeiten als unmöglich erkennend, ſich nähere, leichter erreich-
bare Ziele zu ſtecken. Die Idec „Großthüringen“ verſchwand
in der Verſenkung, dafür wurde der nicht als Stückwerk
und Ueberbleibſel des alten zu wertende, ſondern organiſch
neue Plan entworfen, einen Staat „Geſamtthüringen“ zu
ſchaffen, der alle thüringiſchen Länder ohne Einbeziehung
preußiſcher Gebietsteile umfaſſen ſollte. Vorſichtige Prüfung
ergab, daß auch dieſes kleinere Staatsweſen ein durchaus
lebensfähiges Gebilde abgeben, daß es finanziell ſogar in
mancher Hinſicht recht günſtig daſtehen werde. Nach man-
cherlei Vorbereitungen, von denen die große Oeffentlichkeit
wenig erfahren hat, die aber darum nicht minder ſorgſame
und gründliche Arbeit erforderten, trat im Dezember im
alten Landtagshaus zu Weimar der erſte gemeinſchaftliche
Volksrat von Geſamtthüringen zuſammen, deſſen Aufgabe es
iſt, dem neuen Staatsweſen Form und Verfaſſung zu geben.
Die Geburtsſtunde des Landes Thüringen mit der Haupt-
ſtadt Weimar iſt nicht mehr fern.
Koburg hat bekanntlich den Entſchluß gefaßt, dem neuen
mitteldeutſchen Staate fernzubleiben und ſich Bayern anzu-
gliedern; ſein Anſchluß an die bayeriſche Republik iſt bereits
Tatſache geworden. Dieſe Lostrennung kam denen, die thü-
ringiſche Verhältniſſe kannten und die Entwicklung der
Dinge in den letzten Monaten verfolgt hatten, nicht über-
raſchend. Auch der Freiſtaat Meiningen war einige Zeit im
Zweifel, welcher Seite er ſich zuwenden ſollte, bis um die
Jahreswende das Meiningenſche Jawort für Thüringen beim
Staatsrat und Volksrat in Weimar abgegeben wurde. Das
Verdienſt, die Abſplitterung dieſes größten thüringiſchen
Einzellandes verhindert zu haben, gebührt in erſter Linie
den ſchon genannten beiden Miniſtern, die ſich als Inſpira-
toren und Motoren der geſamtthüringiſchen Bewegung un-
vergängliche Verdienſte erworben haben. Die große Ruhe,
Mäßigung und Beſonnenheit Paulſſens und die radikalere
Art des Freiherrn v. Brandenſtein haben ſich hier bei einem
löblichen Werk par excellence in glücklichſter Weiſe er-
gänzt. In Herrn Paulſſen hat Thüringen wohl — dieſer Er-
wartung und Hoffnung darf ſchon heute Ausdruck verliehen
werden — den erſten Miniſterpräſidenten des neuen Gemein-
ſchaftsſtaates zu erblicken.
II.
Bolſchewismus in Thüringen? Starker Ruck nach links
in Weimar? Sowjetherrſchaft in Gotha, Räterepublik in
Reuß? Der an Ort und Stelle Geweſene antwortet darauf
mit einem immerhin beruhigenden: So weit iſt es nicht ge-
kommen. Zum mindeſten noch nicht.
Hohe Reichsſtellen haben das Recht, vielleicht ſogar die
Pflicht, ſehr optimiſtiſch zu ſein, ſonſt hielten ſie’s auf der
windigen Höhe nicht aus. Die Geſtalt eines Noske iſt ohne
ſtarknervigen, auf die Spitze getriebenen Optimismus un-
denkbar. Hohe Reichsſtellen wiſſen nichts vom Bolſchemis-
mus in Deutſchland, wollen nichts von ihm wiſſen, lehnen
ihn ab. Wie ſagte Friedrich Frekſa ſo ſchön im „Phosphor“:
„Herrſcht der Bolſchewiſt durch’s Land hin,
Müllern ſetzt er nicht in Trab,
Lehnt er Müllern an die Wand hin,
Lehnt ihn Müller einfach ab!“
Wir ſind keine hohe Reichsſtelle und haben das Recht,
einen Grad weniger optimiſtiſch zu ſein. Aber auch zu über-
triebenem Peſſimismus liegt, wenigſtens im Falle Thürin-
gen, kein Grund vor.
Die Gefahrenzentren für Unruhen in Thüringen waren
ſchon vor den Märzereigniſſen dieſes Jahres die Induſtrie-
ſtädte Gotha und Gera. Dort haben nämlich die Leute der
U. S. P. D. die Regierungsgewalt in der Hand. Ja — aber
ſie regieren wirklich, das heißt ſie haben nicht etwa eine
Schreckensherrſchaft von der Art der des Räubers Hölz im
ſächſiſchen Vogtland aufgerichtet, ſondern ſie zeigen Ver-
nunft, Mäßigung, Ordnungswillen. So war es vor dem
Kappiſtenputſch. Man konnte zufrieden ſein.
Nach den unruhigen Märztagen dieſes Jahres hatte
es allerdings eine Zeitlang den Anſchein, als ſollte die
oberſte Gewalt in Gotha und Gera ganz den verfaſſungs-
mäßigen Regierungen der beiden kleinen Länder entgleiten
und in die Hände linksradikaler Aktionsausſchüſſe über-
gehen. In Gotha, wo die Lage wenig Gefahr für beſondere
Verwicklungen bot, wurde dem durch eine rechtzeitig ein-
rückende Reichswehrbeſatzung vorgebeugt, in Gero ſchien
dieſes einfache Hilfsmittel nicht wohl anwendbar, da hier
auf den ſchnell vorübergegangenen, temperamentvoll ein-
geleiteten, aber höchſt ungeſchickt durchgeführten Kappiſten-
putſch eine ſehr lebhafte und nachhaltige Gegenwirkung ge-
folgt war. Die geſamte Arbeiterſchaft ſtand unter den Waffen,
wachſam bis aufs äußerſte und zur Verteidigung ihrer
neuerrungenen, gegen die Aufrührer ſiegreich behaupteten
revolutionären Freiheit gegen jeden Angriff oder auch nur
Schein eines Angriffes feſt entſchloſſen. Eine Annäherung
irgendwelcher Truppen hätte den bewaffneten Widerſtand
der gut organiſierten und diſziplinierten Arbeiterwehren
in Reuß, Altenburg und darüber hinaus ausgelöſt und das
Leben der aus den Tagen des Kappiſtenputſches verhaf-
teten, zum großen Teil ſehr harmloſen Bürger und Zeit-
freiwilligen, die der Aktionsausſchuß eingeſtandenermaßen
noch als Geiſeln feſthielt, in ſchwerſte Gefahr gebracht.
Hier mußte anders verfahren werden. Feſtſtellungen von
Vertretern des Reiches in Gera ergaben, daß eine ſchnelle
Konſolidation der Lage erwartet werden durfte, eine Kon-
ſolidation im Sinne einer allmählichen Ausſchaltung des
Aktionsausſchuſſes und damit eine Wiederherſtellung ver-
faſſungsmäßiger Verhältniſſe, wenn man die Reußen ſich
ſelbſt überließ und keinen Eingriff von außen unternahm.
Der Staatsrat in Gera unter dem Freiherrn v. Branden-
ſtein und der ordnungsmäßig aus Wahlen hervorgegangene,
in den Märztagen vorübergehend etwas an die Wand ge-
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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