Allgemeine Zeitung, Nr. 21, 30. Mai 1920.30. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtschaft Wahlbetrachtungen. Der Wonnemond wird uns politisch heuer zu einem Die allgemeine Situation vor den Wahlen ist diesmal Die bayerische Mehrheitssozialdemokratie befindet sich Es ist nach dem heutigen Stande der Dinge durchaus würde, wenigstens im ersten Augenblick, eine solche Wen- Die Bayerische Volkspartei, welche gegenwär- 30. Mai 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch]
Politik und Wirtſchaft Wahlbetrachtungen. Der Wonnemond wird uns politiſch heuer zu einem Die allgemeine Situation vor den Wahlen iſt diesmal Die bayeriſche Mehrheitsſozialdemokratie befindet ſich Es iſt nach dem heutigen Stande der Dinge durchaus würde, wenigſtens im erſten Augenblick, eine ſolche Wen- Die Bayeriſche Volkspartei, welche gegenwär- <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <div type="jAn" n="2"> <pb facs="#f0003" n="201"/> <fw place="top" type="header">30. 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Schon<lb/> fangen die Gemüter an, ſich bedenklich zu erhitzen, und die<lb/> Leidenſchaften des politiſchen Kampfes treiben üppige und<lb/> nicht immer wohlriechende Blüten.</p><lb/> <p>Die allgemeine Situation vor den Wahlen iſt diesmal<lb/> in Bayern von der im übrigen Reiche weſentlich verſchieden,<lb/> inſofern als hier der Kapp-Putſch in ſeiner Auswirkung<lb/> eine ganz andere parteipolitiſche Konſtellation herbeigeführt<lb/> hat. Mit der äußerſten Linken und der äußerſten Rechten,<lb/> die der Zahl ihrer Mandate nach bisher in Bayern nicht<lb/> viel bedeuteten, iſt durch den Kapp-Putſch die Mehrheits-<lb/> ſozialdemokratie ihrem eigenen Willen gemäß ausgeſchaltet<lb/> worden. Die Angſt vor den kommenden Wahlen und vor<lb/> der Verantwortung für die wenig populäre Regierungspoli-<lb/> tik, die unter ihrer Führung gemacht worden iſt, trieb ſie<lb/> in die Oppoſition. Sie hat den etwas vorſchnellen Schritt<lb/> höchſtwahrſcheinlich ſchon bitter bereut. Denn die Hoffnung,<lb/> daß dank der krampfhaft geſteigerten und die U.S.P. über-<lb/> trumpfen wollenden Oppoſition und Agitation die Wahlge-<lb/> ſchäfte für die Partei beſſer gehen würden, hat ſich bis<lb/> jetzt als wenig begründet erwieſen, während andrerſeits das<lb/> Scheiden aus Amt und Würden doch manchem Genoſſen nicht<lb/> leicht gefallen ſein mag und die Gefahr, dauernd beiſeite<lb/> geſchoben zu werden, immerhin nicht unbeträchtlich gewach-<lb/> ſen iſt. Dabei iſt man im Reiche nach wie vor führende<lb/> Regierungspartei und denkt nicht daran, den unbedachten<lb/> Streich der bayeriſchen Genoſſen nachzumachen und die Herr-<lb/> ſchaft freiwillig aus der Hand zu geben. Man weiß zu gut,<lb/> was dabei auf dem Spiele ſtünde.</p><lb/> <p>Die bayeriſche Mehrheitsſozialdemokratie befindet ſich<lb/> alſo in der höchſt eigenartigen Lage, den Wahlkampf, ſoweit<lb/> der Reichstag in Betracht kommt, als Regierungspartei füh-<lb/> ren, die Landtagskampagne dagegen in ſchärfſter Oppo-<lb/> ſitionsſtellung durchfechten zu müſſen. Das gleichzeitige Spiel<lb/> einer ſolch ſchwierigen Doppelrolle iſt eine äußerſt peinliche<lb/> und unangenehme Sache. Man hätte es daher begreiflicher-<lb/> weiſe ganz gerne geſehen, wenn es den demokratiſchen<lb/> Freunden gelungen wäre, das rechtzeitige Zuſtandekommen<lb/> des Landtagswahlgeſetzes zu vereiteln und damit den Ter-<lb/> min der Neuwahlen zum Landtag auf unbeſtimmte Zeit<lb/> hinauszuſchieben. Selbſt durften die Mehrheitsſozialdemo-<lb/> kraten ſich nicht getrauen, das Landtagswahlgeſetz zu ſabo-<lb/> tieren. Ein ſolches Unterfangen hätte ihre ſowieſo nicht<lb/> beneidenswerte Wahllage nur noch weiter verſchlechtern<lb/> können. So blieben die Demokraten in ihrem Widerſtande<lb/> gegen das Wahlgeſetz bzw. gewiſſe Beſtimmungen desſelben<lb/> wie die Stimmkreiseinteilung und Stimmkreisbindung<lb/> allein auf weiter Flur, und ſie haben es auch nicht gewagt,<lb/> ihre anfängliche Drohung wahr und aus der Geſtaltung des<lb/> Wahlgeſetzes eine <hi rendition="#aq">conditio ſine qua non</hi> zu machen, d. h.<lb/> die Konſequenzen durch ihren Austritt aus der Regierungs-<lb/> koalition zu ziehen, wie ihnen gewiſſe norddeutſche Freunde<lb/> wiederholt recht aufdringlich nahegelegt hatten.</p><lb/> <p>Es iſt nach dem heutigen Stande der Dinge durchaus<lb/> richtig, was der Reichswehrminiſter Dr. Geßler ſagte, daß<lb/> man im Reiche nicht gegen die Sozialdemokratie regieren<lb/> könne. In Bayern, wo die geſamte Sozialdemokratie 1919<lb/> kaum ein Drittel aller Wählerſtimmen auf ſich vereinigte<lb/> und am 6. Juni d. J. vielleicht noch einen weiteren Abfall<lb/> erleben wird, kann, wenn es ſein muß und die Sozialdemo-<lb/> kratie es nicht anders haben will, wohl auch ohne ſie regiert<lb/> werden, und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung</p><lb/> <cb/> <p>würde, wenigſtens im erſten Augenblick, eine ſolche Wen-<lb/> dung begrüßen. Gerade das ewige Schwanken der Mehr-<lb/> heitsſozialdemokratie und ihr ſtändiges Schielen nach links<lb/> hat unendlich viel dazu beigetragen, einen Zuſtand dauernder<lb/> Unruhe und Unſicherheit zu erhalten. In dieſer Hinſicht iſt<lb/> eine gewiſſe Beſſerung eingetreten, ſeit eine Regierung da<lb/> iſt, von der die Allgemeinheit weiß und ſicher iſt, daß ſie<lb/> über das Beſtehende und geſetzlich Feſtgelegte hinaus weitere<lb/> Zugeſtändniſſe nach links nicht machen wird. Schließlich ge-<lb/> hört das Recht der Mehrheit zu den unveräußerlichen<lb/> Grundzügen der Demokratie und die bürgerlichen zwei Drit-<lb/> tel brauchen ſich nicht zu ſcheuen, von dem Recht Gebrauch<lb/> zu machen, das die anderen als Minderheit nun bald zwei<lb/> Jahre lang in überreichem Maße und nichts weniger als<lb/> ſchüchtern für ſich in Anſpruch genommen haben. Nach ſol-<lb/> cher Ueberſpannung des politiſchen Bogens iſt eine gewiſſe<lb/> Reaktion unausbleiblich, das braucht deshalb noch lange<lb/> nicht <hi rendition="#g">die</hi> Reaktion zu ſein, und wenn Anſätze dazu auch<lb/> unleugbar vorhanden ſind, ſo iſt doch die große Maſſe des<lb/> Volkes, welche nichtſozialiſtiſch denkt und wählt, wie wir<lb/> hoffen dürfen, vernünftig genug, um einzuſehen, daß man<lb/> nicht mit dem Kopf durch die Wand kann, daß man mit-<lb/> einander leben, ſich vertragen und gegenſeitig Konzeſſionen<lb/> machen muß. Es hängt unſeres Erachtens ganz von dem<lb/> ſozialiſtiſch geſinnten Teil der Bevölkerung ab, ob der natür-<lb/> liche und berechtigte Widerſtand des anderen, zahlenmäßig<lb/> ſtärkeren Bevölkerungsteiles gegen die einſeitige Verfolgung<lb/> der Klaſſenziele des Sozialismus ſich in den für die All-<lb/> gemeinheit wünſchenswerten und notwendigen Grenzen hal-<lb/> ten oder ſchließlich ins Extrem nach rechts ausarten wird.<lb/> An ſich iſt die Gefahr für eine ſolche radikale Rechtsent-<lb/> wicklung dank der glücklichen wirtſchaftlichen Konſtruktion<lb/> von Land und Volk in Bayern nicht ſehr groß.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Bayeriſche Volkspartei,</hi> welche gegenwär-<lb/> tig ſchon die weitaus ſtärkſte Partei im Lande iſt und aus<lb/> den Wahlen ſicher nicht geſchwächt, ſondern eher noch ver-<lb/> ſtärkt hervorgehen wird, wird, wenn ſie klug iſt — und<lb/> dieſe Eigenſchaft hat man ihr bisher im allgemeinen nicht<lb/> abſprechen können — aus den Erfahrungen der Sozialdemo-<lb/> kratie lernen und im parlamentariſchen Tauziehen ihre<lb/> Ueberlegenheit nicht ſo anwenden, daß das Seil reißt oder<lb/> die Partner am anderen Ende jeden Halt verlieren. Auf die<lb/> Bayeriſche Volkspartei wird es wohl in der Hauptſache an-<lb/> kommen, welche Wege die innere Politik in Bayern nach den<lb/> Wahlen einſchlagen wird. Die beiden anderen Rechtsparteien,<lb/> die Deutſchnationale <hi rendition="#aq">alias</hi> Mittelpartei und die Deutſche<lb/> Volkspartei, werden darauf keinen beſtimmenden Einfluß<lb/> haben, zumal ihnen innerhalb der bürgerlichen Front nach<lb/> links hin durch den Bauernbund und die Demokraten die<lb/> Wage gehalten wird. Was die <hi rendition="#g">Mehrheitsſozial-<lb/> demokratie</hi> und ihre Wahlausſichten anlangt, ſo ſpre-<lb/> chen alle Anzeichen dafür, daß ſie am 6. Juni zugunſten<lb/> der U.S.P. ganz bedeutend Haare wird laſſen müſſen. Mit<lb/> ihrer dominierenden Stellung als Konkurrentin der Bayeri-<lb/> ſchen Volkspartei dürfte es vorbei ſein. Sie wird die Wahl<lb/> haben, wieder in die Regierungskoalition, aber mit weſent-<lb/> lich beſcheideneren Anſprüchen einzutreten, oder aber ſich<lb/> endgültig zur Oppoſition zu ſchlagen. Geſchähe das letztere,<lb/> ſo wäre wieder die Notwendigkeit einer rein bürgerlichen<lb/> Regierung gegeben, wie wir ſie ſchon ſeit Mitte März<lb/> dieſes Jahres beſitzen. Das Miniſterium Kahr wird auf alle<lb/> Fälle ſofort beim Zuſammentritt des neuen Landtages, der<lb/> wohl längſtens bis Mitte Juni erfolgen dürfte, zurücktreten.<lb/> Es war von vornherein von den Parteien, die es aufgeſtellt,<lb/> nur als Proviſorium gedacht und hat ſich ſelbſt niemals als<lb/> etwas anderes betrachtet. Miniſterpräſident v. Kahr hat ſich<lb/> bei ſeiner Vorſtellung im Landtag ausdrücklich als den<lb/> „Treuhänder des ſouveränen Volkes bis zur erfolgten Neu-<lb/> wahl“ bezeichnet, und der Zentrumsführer Speck ſtellte ſchon<lb/> damals die endgültige Neubildung des Miniſteciums durch<lb/> den neugewählten Landtag in Ausſicht. Das Bild dieſes<lb/> Landtages wird aller Vorausſicht nach ſo ſein, daß die<lb/> Bayeriſche Volkspartei in der Lage ſein dürfte, mit den<lb/> Rechtsparteien und dem Bauernbund zuſammen eine regie-<lb/> rungsfähige Mehrheit auch dann zu bilden, wenn, was ſehr</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [201/0003]
30. Mai 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Wahlbetrachtungen.
Der Wonnemond wird uns politiſch heuer zu einem
Qualenmond; denn wer die Wahl hat, der die Qual hat,
und wir in Bayern haben ſie doppelt, da mit dem Reich
gleichzeitig auch das Land uns zur Urne ruft. Daß wieder
Wahlzeit iſt, merkt man nicht nur an den Plakattafeln und
in den Spalten der Preſſe, ſondern auch ſonſt allenthalben,
wo Menſchen ſich in größerer Zahl zuſammenfinden. Schon
fangen die Gemüter an, ſich bedenklich zu erhitzen, und die
Leidenſchaften des politiſchen Kampfes treiben üppige und
nicht immer wohlriechende Blüten.
Die allgemeine Situation vor den Wahlen iſt diesmal
in Bayern von der im übrigen Reiche weſentlich verſchieden,
inſofern als hier der Kapp-Putſch in ſeiner Auswirkung
eine ganz andere parteipolitiſche Konſtellation herbeigeführt
hat. Mit der äußerſten Linken und der äußerſten Rechten,
die der Zahl ihrer Mandate nach bisher in Bayern nicht
viel bedeuteten, iſt durch den Kapp-Putſch die Mehrheits-
ſozialdemokratie ihrem eigenen Willen gemäß ausgeſchaltet
worden. Die Angſt vor den kommenden Wahlen und vor
der Verantwortung für die wenig populäre Regierungspoli-
tik, die unter ihrer Führung gemacht worden iſt, trieb ſie
in die Oppoſition. Sie hat den etwas vorſchnellen Schritt
höchſtwahrſcheinlich ſchon bitter bereut. Denn die Hoffnung,
daß dank der krampfhaft geſteigerten und die U.S.P. über-
trumpfen wollenden Oppoſition und Agitation die Wahlge-
ſchäfte für die Partei beſſer gehen würden, hat ſich bis
jetzt als wenig begründet erwieſen, während andrerſeits das
Scheiden aus Amt und Würden doch manchem Genoſſen nicht
leicht gefallen ſein mag und die Gefahr, dauernd beiſeite
geſchoben zu werden, immerhin nicht unbeträchtlich gewach-
ſen iſt. Dabei iſt man im Reiche nach wie vor führende
Regierungspartei und denkt nicht daran, den unbedachten
Streich der bayeriſchen Genoſſen nachzumachen und die Herr-
ſchaft freiwillig aus der Hand zu geben. Man weiß zu gut,
was dabei auf dem Spiele ſtünde.
Die bayeriſche Mehrheitsſozialdemokratie befindet ſich
alſo in der höchſt eigenartigen Lage, den Wahlkampf, ſoweit
der Reichstag in Betracht kommt, als Regierungspartei füh-
ren, die Landtagskampagne dagegen in ſchärfſter Oppo-
ſitionsſtellung durchfechten zu müſſen. Das gleichzeitige Spiel
einer ſolch ſchwierigen Doppelrolle iſt eine äußerſt peinliche
und unangenehme Sache. Man hätte es daher begreiflicher-
weiſe ganz gerne geſehen, wenn es den demokratiſchen
Freunden gelungen wäre, das rechtzeitige Zuſtandekommen
des Landtagswahlgeſetzes zu vereiteln und damit den Ter-
min der Neuwahlen zum Landtag auf unbeſtimmte Zeit
hinauszuſchieben. Selbſt durften die Mehrheitsſozialdemo-
kraten ſich nicht getrauen, das Landtagswahlgeſetz zu ſabo-
tieren. Ein ſolches Unterfangen hätte ihre ſowieſo nicht
beneidenswerte Wahllage nur noch weiter verſchlechtern
können. So blieben die Demokraten in ihrem Widerſtande
gegen das Wahlgeſetz bzw. gewiſſe Beſtimmungen desſelben
wie die Stimmkreiseinteilung und Stimmkreisbindung
allein auf weiter Flur, und ſie haben es auch nicht gewagt,
ihre anfängliche Drohung wahr und aus der Geſtaltung des
Wahlgeſetzes eine conditio ſine qua non zu machen, d. h.
die Konſequenzen durch ihren Austritt aus der Regierungs-
koalition zu ziehen, wie ihnen gewiſſe norddeutſche Freunde
wiederholt recht aufdringlich nahegelegt hatten.
Es iſt nach dem heutigen Stande der Dinge durchaus
richtig, was der Reichswehrminiſter Dr. Geßler ſagte, daß
man im Reiche nicht gegen die Sozialdemokratie regieren
könne. In Bayern, wo die geſamte Sozialdemokratie 1919
kaum ein Drittel aller Wählerſtimmen auf ſich vereinigte
und am 6. Juni d. J. vielleicht noch einen weiteren Abfall
erleben wird, kann, wenn es ſein muß und die Sozialdemo-
kratie es nicht anders haben will, wohl auch ohne ſie regiert
werden, und ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung
würde, wenigſtens im erſten Augenblick, eine ſolche Wen-
dung begrüßen. Gerade das ewige Schwanken der Mehr-
heitsſozialdemokratie und ihr ſtändiges Schielen nach links
hat unendlich viel dazu beigetragen, einen Zuſtand dauernder
Unruhe und Unſicherheit zu erhalten. In dieſer Hinſicht iſt
eine gewiſſe Beſſerung eingetreten, ſeit eine Regierung da
iſt, von der die Allgemeinheit weiß und ſicher iſt, daß ſie
über das Beſtehende und geſetzlich Feſtgelegte hinaus weitere
Zugeſtändniſſe nach links nicht machen wird. Schließlich ge-
hört das Recht der Mehrheit zu den unveräußerlichen
Grundzügen der Demokratie und die bürgerlichen zwei Drit-
tel brauchen ſich nicht zu ſcheuen, von dem Recht Gebrauch
zu machen, das die anderen als Minderheit nun bald zwei
Jahre lang in überreichem Maße und nichts weniger als
ſchüchtern für ſich in Anſpruch genommen haben. Nach ſol-
cher Ueberſpannung des politiſchen Bogens iſt eine gewiſſe
Reaktion unausbleiblich, das braucht deshalb noch lange
nicht die Reaktion zu ſein, und wenn Anſätze dazu auch
unleugbar vorhanden ſind, ſo iſt doch die große Maſſe des
Volkes, welche nichtſozialiſtiſch denkt und wählt, wie wir
hoffen dürfen, vernünftig genug, um einzuſehen, daß man
nicht mit dem Kopf durch die Wand kann, daß man mit-
einander leben, ſich vertragen und gegenſeitig Konzeſſionen
machen muß. Es hängt unſeres Erachtens ganz von dem
ſozialiſtiſch geſinnten Teil der Bevölkerung ab, ob der natür-
liche und berechtigte Widerſtand des anderen, zahlenmäßig
ſtärkeren Bevölkerungsteiles gegen die einſeitige Verfolgung
der Klaſſenziele des Sozialismus ſich in den für die All-
gemeinheit wünſchenswerten und notwendigen Grenzen hal-
ten oder ſchließlich ins Extrem nach rechts ausarten wird.
An ſich iſt die Gefahr für eine ſolche radikale Rechtsent-
wicklung dank der glücklichen wirtſchaftlichen Konſtruktion
von Land und Volk in Bayern nicht ſehr groß.
Die Bayeriſche Volkspartei, welche gegenwär-
tig ſchon die weitaus ſtärkſte Partei im Lande iſt und aus
den Wahlen ſicher nicht geſchwächt, ſondern eher noch ver-
ſtärkt hervorgehen wird, wird, wenn ſie klug iſt — und
dieſe Eigenſchaft hat man ihr bisher im allgemeinen nicht
abſprechen können — aus den Erfahrungen der Sozialdemo-
kratie lernen und im parlamentariſchen Tauziehen ihre
Ueberlegenheit nicht ſo anwenden, daß das Seil reißt oder
die Partner am anderen Ende jeden Halt verlieren. Auf die
Bayeriſche Volkspartei wird es wohl in der Hauptſache an-
kommen, welche Wege die innere Politik in Bayern nach den
Wahlen einſchlagen wird. Die beiden anderen Rechtsparteien,
die Deutſchnationale alias Mittelpartei und die Deutſche
Volkspartei, werden darauf keinen beſtimmenden Einfluß
haben, zumal ihnen innerhalb der bürgerlichen Front nach
links hin durch den Bauernbund und die Demokraten die
Wage gehalten wird. Was die Mehrheitsſozial-
demokratie und ihre Wahlausſichten anlangt, ſo ſpre-
chen alle Anzeichen dafür, daß ſie am 6. Juni zugunſten
der U.S.P. ganz bedeutend Haare wird laſſen müſſen. Mit
ihrer dominierenden Stellung als Konkurrentin der Bayeri-
ſchen Volkspartei dürfte es vorbei ſein. Sie wird die Wahl
haben, wieder in die Regierungskoalition, aber mit weſent-
lich beſcheideneren Anſprüchen einzutreten, oder aber ſich
endgültig zur Oppoſition zu ſchlagen. Geſchähe das letztere,
ſo wäre wieder die Notwendigkeit einer rein bürgerlichen
Regierung gegeben, wie wir ſie ſchon ſeit Mitte März
dieſes Jahres beſitzen. Das Miniſterium Kahr wird auf alle
Fälle ſofort beim Zuſammentritt des neuen Landtages, der
wohl längſtens bis Mitte Juni erfolgen dürfte, zurücktreten.
Es war von vornherein von den Parteien, die es aufgeſtellt,
nur als Proviſorium gedacht und hat ſich ſelbſt niemals als
etwas anderes betrachtet. Miniſterpräſident v. Kahr hat ſich
bei ſeiner Vorſtellung im Landtag ausdrücklich als den
„Treuhänder des ſouveränen Volkes bis zur erfolgten Neu-
wahl“ bezeichnet, und der Zentrumsführer Speck ſtellte ſchon
damals die endgültige Neubildung des Miniſteciums durch
den neugewählten Landtag in Ausſicht. Das Bild dieſes
Landtages wird aller Vorausſicht nach ſo ſein, daß die
Bayeriſche Volkspartei in der Lage ſein dürfte, mit den
Rechtsparteien und dem Bauernbund zuſammen eine regie-
rungsfähige Mehrheit auch dann zu bilden, wenn, was ſehr
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(2023-04-24T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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