Allgemeine Zeitung, Nr. 24, 20. Juni 1920.20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtschaft Die Regierungskrisis im Reich. Es ist nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskrisis Fragt man sich nun, ob eine Regierung, die sich ledig- Regierung gegen die Arbeiterschaft stempeln. Dann würde "Ein stimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für Abgesehen von dem mittleren Absatz, der einige Ge- Man wird nun aber allerdings zunächst im Zweifel 20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung [Spaltenumbruch] Politik und Wirtſchaft Die Regierungskriſis im Reich. Es iſt nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskriſis Fragt man ſich nun, ob eine Regierung, die ſich ledig- Regierung gegen die Arbeiterſchaft ſtempeln. Dann würde „Ein ſtimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für Abgeſehen von dem mittleren Abſatz, der einige Ge- Man wird nun aber allerdings zunächſt im Zweifel <TEI> <text> <body> <div type="jAnnouncements" n="1"> <div type="jAn" n="2"> <pb facs="#f0003" n="225"/> <fw place="top" type="header">20. 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Der bisherige Reichs-<lb/> kanzler Müller, der als erſter vom Reichspräſidenten den<lb/> Auftrag zur Kabinettsbildung empfangen hatte, hat ſich auf<lb/> einen einzigen Verſuch beſchränkt: Er hat ſich an die Unab-<lb/> hängigen gewandt, und als dieſe für ihren Eintritt in die<lb/> Regierung Bedingungen ſtellten, die unannehmbar waren<lb/> und es offenbar auch ſein ſollten, obwohl der Vorwärts ſich<lb/> den Anſchein gab, als hielte er ſie für durchaus diskutabel,<lb/> hat er den ihm erteilten Auftrag in die Hand des Reichs-<lb/> präſidenten zurückgelegt. Der zweite Vertrauensmann,<lb/> der Führer der Deutſchen Volkspartei, ſächſ. Staatsminiſter<lb/> a. D. Dr. Heinze, hat ebenfalls nur einen einzigen Schritt<lb/> getan. Er hat mit den Mehrheitsſozialiſten verhandelt und<lb/> von ihnen unverzüglich den feierlichen und förmlichen Be-<lb/> ſcheid erhalten, daß ſie nicht in der Lage ſeien, in eine<lb/> Koalition mit der Deutſchen Volkspartei einzutreten. 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Denn dieſe ſcheint ent-<lb/> ſchloſſen, in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht<lb/> einzutreten.</p><lb/> <p>Fragt man ſich nun, ob eine Regierung, die ſich ledig-<lb/> lich auf das Zentrum und die „Volksparteien“ ſtützt (Baye-<lb/> riſche oder Chriſtliche, Deutſche und Deutſchnationale) unter<lb/> den gegenwärtigen Verhältniſſen überhaupt lebensfähig<lb/> wäre, ſo muß man ſich ohne Zweifel hüten, lediglich nach<lb/> den Zahlen zu urteilen, wonach eine ſolche Kombination<lb/> näher an die abſolute Mehrheit heranreichen würde, als<lb/> jede andere, die zurzeit denkbar erſcheint. Die Frage muß<lb/> politiſch beurteilt werden und politiſch ſcheint eine ſolche<lb/> Regierung auf die Dauer ebenſo unmöglich wie etwa eine<lb/> rein ſozialiſtiſche, nicht nur wegen des Auslandes, das eine<lb/> reine Rechtsregierung — und ſo würde ſie ohne Zweifel<lb/> charakteriſiert werden, wenn auch das Zentrum ſich füglich<lb/> gegen eine ſolche Bezeichnung wehren würde — ſicherlich<lb/> zum Anlaß oder Vorwand nehmen würde, alle Schrauben<lb/> des Verſailler Folterinſtrumentes ſchärfer anzuziehen, ſon-<lb/> dern auch mit Rückſicht auf unſere innere Lebensmöglich-<lb/> keit. Es iſt an dieſer Stelle ſchon oft geſagt worden, muß<lb/> aber immer aufs neue wiederholt werden, daß nicht nur<lb/> ein Regieren <hi rendition="#g">gegen</hi> die Geſamtheit der Arbeiterſchaft, das<lb/> ja niemandem in den Sinn kommt, auch den Deutſch-<lb/> nationalen nicht, ſondern auch ein Regieren <hi rendition="#g">ohne</hi> die<lb/> Arbeiterſchaft in dem durch die Revolution umgeſtalteten<lb/> Deutſchland ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt, und das Agi-<lb/> tationsbedürfnis der ſozialiſtiſchen Preſſe würde jede Re-<lb/> gierung <hi rendition="#g">ohne</hi> eine Arbeiterpartei ohne weiteres zu einer</p><lb/> <cb/> <p>Regierung gegen die Arbeiterſchaft ſtempeln. Dann würde<lb/> auch beim beſten Willen der bürgerlichen Parteien alles ver-<lb/> lorengehen, was wir ſeit der Revolution an inneren Er-<lb/> rungenſchaften zu verzeichnen haben. 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Aber abgeſehen<lb/> davon, hat die Mehrheitsſozialdemokratie als leitende Re-<lb/> gierungspartei die weiteren Erſchütterungen unſeres inne-<lb/> ren Lebens zwar nicht vollſtändig verhindern können, aber<lb/> doch erheblich abgeſchwächt, daß ſie wenigſtens nicht allzu-<lb/> viel Unheil angerichtet haben. Wenn dieſes Ventil nun-<lb/> mehr verſchloſſen werden ſoll, wenn die 190 ſozialiſtiſchen<lb/> Abgeordneten und die Millionen Wähler, die hinter ihnen<lb/> ſtehen, insgeſamt in die Oppoſition abmarſchieren, ſo wer-<lb/> den wir in gewiſſem Sinne in Zuſtände zurückgeworfen,<lb/> wie ſie vor den Wahlen der Nationalverſammlung beſtanden,<lb/> und das iſt eine außerordentlich ernſte Perſpektive. Wir<lb/> halten alſo eine Regierung aus den Parteien der Rechten<lb/> bis zum Zentrum einſchließlich nicht für lebensfähig. Crotz-<lb/> dem aber ſcheint die Gefahr einer ſolchen Regierung außer-<lb/> ordentlich nahegerückt, denn die am 14. 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20. Juni 1920 Allgemeine Zeitung
Politik und Wirtſchaft
Die Regierungskriſis im Reich.
Es iſt nicht ganz unmöglich, daß die Regierungskriſis
in Berlin eine gewiſſe Löſung gefunden hat, wenn dieſe
Zeilen an die Oeffentlichkeit gelangen; aber wahrſcheinlich
iſt es nicht und ganz gewiß iſt, daß die Löſung auch im
beſten Falle nur eine vorläufige ſein wird; denn die natür-
liche Löſung, die einzige, die eine Gewähr der Dauer in ſich tra-
gen würde, die Verbreiterung der unzulänglich gewordenen
bisherigen und „natürlichen“ Regierungsbaſis nach rechts oder
links ſcheint unmöglich geworden. Der bisherige Reichs-
kanzler Müller, der als erſter vom Reichspräſidenten den
Auftrag zur Kabinettsbildung empfangen hatte, hat ſich auf
einen einzigen Verſuch beſchränkt: Er hat ſich an die Unab-
hängigen gewandt, und als dieſe für ihren Eintritt in die
Regierung Bedingungen ſtellten, die unannehmbar waren
und es offenbar auch ſein ſollten, obwohl der Vorwärts ſich
den Anſchein gab, als hielte er ſie für durchaus diskutabel,
hat er den ihm erteilten Auftrag in die Hand des Reichs-
präſidenten zurückgelegt. Der zweite Vertrauensmann,
der Führer der Deutſchen Volkspartei, ſächſ. Staatsminiſter
a. D. Dr. Heinze, hat ebenfalls nur einen einzigen Schritt
getan. Er hat mit den Mehrheitsſozialiſten verhandelt und
von ihnen unverzüglich den feierlichen und förmlichen Be-
ſcheid erhalten, daß ſie nicht in der Lage ſeien, in eine
Koalition mit der Deutſchen Volkspartei einzutreten. Darauf
hat auch Dr. Heinze verzichtet. Nun kam als dritter der
Führer des Zentrums, Staatsſekretär a. D. Crimborn, an
die Reihe. Für ihn war die Anzahl der Möglichkeiten
durch die vorangegangenen Entſcheidungen von vornherein
ziemlich eingeſchränkt. Wenn die Sozialdemokratie es ab-
lehnte, mit der Deutſchen Volkspartei in die Regierung ein-
zutreten, ſo kam ein Paktieren mit den Deutſchnationalen
von der Baſis der bisherigen Koalition aus erſt recht nicht
in Frage, ſondern es blieben nur zwei Wege; entweder man
ſuchte die bisherige Koalition ohne Verbreiterung not-
dürftig regierungsfähig zu machen, oder man verzichtete
auf die Mitarbeit der Sozialdemokratie und unternahm das
Wagſtück einer rein bürgerlichen Regierung. Dieſer Ver-
zicht hätte aber nach allem, was man bisher gehört, auch
den weiteren Verzicht auf die Mitwirkung der Deutſchen
Demokratiſchen Partei bedeutet. Denn dieſe ſcheint ent-
ſchloſſen, in eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht
einzutreten.
Fragt man ſich nun, ob eine Regierung, die ſich ledig-
lich auf das Zentrum und die „Volksparteien“ ſtützt (Baye-
riſche oder Chriſtliche, Deutſche und Deutſchnationale) unter
den gegenwärtigen Verhältniſſen überhaupt lebensfähig
wäre, ſo muß man ſich ohne Zweifel hüten, lediglich nach
den Zahlen zu urteilen, wonach eine ſolche Kombination
näher an die abſolute Mehrheit heranreichen würde, als
jede andere, die zurzeit denkbar erſcheint. Die Frage muß
politiſch beurteilt werden und politiſch ſcheint eine ſolche
Regierung auf die Dauer ebenſo unmöglich wie etwa eine
rein ſozialiſtiſche, nicht nur wegen des Auslandes, das eine
reine Rechtsregierung — und ſo würde ſie ohne Zweifel
charakteriſiert werden, wenn auch das Zentrum ſich füglich
gegen eine ſolche Bezeichnung wehren würde — ſicherlich
zum Anlaß oder Vorwand nehmen würde, alle Schrauben
des Verſailler Folterinſtrumentes ſchärfer anzuziehen, ſon-
dern auch mit Rückſicht auf unſere innere Lebensmöglich-
keit. Es iſt an dieſer Stelle ſchon oft geſagt worden, muß
aber immer aufs neue wiederholt werden, daß nicht nur
ein Regieren gegen die Geſamtheit der Arbeiterſchaft, das
ja niemandem in den Sinn kommt, auch den Deutſch-
nationalen nicht, ſondern auch ein Regieren ohne die
Arbeiterſchaft in dem durch die Revolution umgeſtalteten
Deutſchland ſo gut wie ausgeſchloſſen iſt, und das Agi-
tationsbedürfnis der ſozialiſtiſchen Preſſe würde jede Re-
gierung ohne eine Arbeiterpartei ohne weiteres zu einer
Regierung gegen die Arbeiterſchaft ſtempeln. Dann würde
auch beim beſten Willen der bürgerlichen Parteien alles ver-
lorengehen, was wir ſeit der Revolution an inneren Er-
rungenſchaften zu verzeichnen haben. Man mag von den
Leiſtungen in den letzten 18 Monaten denken wie man will
— an den ungeheuren Schwierigkeiten gemeſſen, die ihnen
entgegenſtanden, erſcheinen ſie vielleicht nicht ſo belanglos,
wie in ihrer Projektion auf einen normalen Staats- und
Wirtſchaftskörper: das eine iſt jedenfalls von allergrößter
Bedeutung, daß die große Maſſe der deutſchen Arbeiter in
dieſer Zeit mit den Realitäten des Staats- und Wirt-
ſchaftslebens hat rechnen lernen. Sie hat ſich gezwungen
geſehen, ihre begabteſten Geſellſchaftskritiker in die Aemter
verantwortlicher Staatsmänner und Verwaltungsbeamten
zu kommandieren und wenn ihre Erfolge dieſen neuen Auf-
gaben gegenüber nicht überwältigend geweſen ſind, ſo iſt
doch dadurch eine Art aufbauender Zukunftsarbeit geleiſtet
worden, die man nicht unterſchätzen darf. Aber abgeſehen
davon, hat die Mehrheitsſozialdemokratie als leitende Re-
gierungspartei die weiteren Erſchütterungen unſeres inne-
ren Lebens zwar nicht vollſtändig verhindern können, aber
doch erheblich abgeſchwächt, daß ſie wenigſtens nicht allzu-
viel Unheil angerichtet haben. Wenn dieſes Ventil nun-
mehr verſchloſſen werden ſoll, wenn die 190 ſozialiſtiſchen
Abgeordneten und die Millionen Wähler, die hinter ihnen
ſtehen, insgeſamt in die Oppoſition abmarſchieren, ſo wer-
den wir in gewiſſem Sinne in Zuſtände zurückgeworfen,
wie ſie vor den Wahlen der Nationalverſammlung beſtanden,
und das iſt eine außerordentlich ernſte Perſpektive. Wir
halten alſo eine Regierung aus den Parteien der Rechten
bis zum Zentrum einſchließlich nicht für lebensfähig. Crotz-
dem aber ſcheint die Gefahr einer ſolchen Regierung außer-
ordentlich nahegerückt, denn die am 14. Juni von der
ſozialdemokratiſchen Fraktion und dem Parteiausſchuß an-
genommene Erklärung lautet wie folgt:
„Ein ſtimmig kam die Ueberzeugung zum Ausdruck, daß für
die Partei die Beteiligung an einer Regierung, die Elemente der
Rechtsparteien enthält, ausgeſchloſſen iſt.
Nachdem die Unabhängigen es abgelehnt haben, ſich an
einer Regierung zu beteiligen, die den Schutz der Republik und
der revolutionären Errungenſchaften der Arbeiter, Angeſtellten
und Beamten übernimmt, haben ſie die Verantwortung für
eine Situation zu tragen, in der nur die Bildung einer rein
bürgerlichen Regierung möglich iſt.
Eine Fortſetzung der bisher betriebenen Koalitionspolitik
mit Zentrum und Demokraten wird gegenwärtig als unmöglich
betrachtet.“
Abgeſehen von dem mittleren Abſatz, der einige Ge-
wiſſensſkrupel erkennen läßt, enthält dieſe Entſchließung
zwei völlig ſelbſtändige Ablehnungen: die einſtimmige Ab-
lehnung der Ceilnahme an einer Regierung, die „Elemente
der Rechtsparteien“ enthält, und den anſcheinend nicht ein-
ſtimmigen Derzicht auf eine Fortſetzung der bisherigen
Koalitionspolitik, die „gegenwärtig als unmöglich be-
trachtet“ wird. Nimmt man das alles wörtlich, ſo bedeutet
es das vorläufige Ausſcheiden der Sozialdemokratie aus
jeder Regierungskombination, d. h. alſo eine rein bürger-
liche Regierung, denn eine die Mehrheitsſozialdemokratie
überſpringende Verſtändigung der Rechtsparteien oder des
Zentrums mit den Unabhängigen, wie ſie während der
März-Putſchtage von blutigen politiſchen Dilettanten ver-
ſucht worden iſt, kann ja ſelbſtverſtändlich nicht ernſthaft
in Frage kommen; bliebe es alſo dabei, ſo käme wirklich
nur eine bürgerliche Koalition in Frage und da auch die
demokratiſchen Führer wiederholt erklärt haben, daß ſie in
eine Koalition ohne die Sozialdemokratie nicht eintreten
würden, ſo würde der Regierungsblock tatſächlich mit dem
Zentrum abſchließen müſſen.
Man wird nun aber allerdings zunächſt im Zweifel
darüber ſein dürfen, ob das letzte Wort der Demokraten
ſchon geſprochen iſt. Es wäre durchaus zu verſtehen, wenn
die Demokraten ihre Mitarbeit in einer Regierung ab-
lehnten, aus der die Sozialdemokratie ausgeſchloſſen
werden ſoll; davon iſt doch aber gar keine Rede. Jm Gegen-
teil, man umwirbt die Sozialdemokratie, wie ſie noch nie-
mals umworben worden iſt, und es ſcheint ihr ein dia-
boliſches Vergnügen zu machen, ſich in dieſer Weiſe um-
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(2023-04-24T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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