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Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914.

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1. August 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]

Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten)
verlockt ihn mit ihrem tierhaften Sinnenreize in das Reich
der Trolle, wo er im Tierhaften versinkt (angedeutet durch den
Eber, auf dem sie reiten, und durch den Affenschwanz), um
sich aber doch endlich unter der Einwirkung seines höheren
Ich (Solvejg) wieder daraus zu befreien.

Anitra repräsentiert die Seelenlosigkeit in der aus-
gebildetsten Gestalt, in der sie bei Menschen möglich ist. Sie
sucht nichts als das Materielle (Edelsteine); während Peer
Gynt doch nie ganz den Drang verliert, sich zu seinem wahren
Selbst durchzuringen. Dies zeigt sich auch nach seinem wüsten
Abenteuer mit den

Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in
den Sumpf des Triebhaft-Tierischen hinabzogen.

Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauses,
ist nicht bloß eine Karikatur des deutschen Gelehrten, sondern
er, der durch den Umgang mit Irren selbst verrückt geworden
ist, fühlt gerade deshalb das Irre in Peer Gynts Wesen. Er
"erkennt ihn" und erkennt ihn an als Kaiser -- im Irren-
hause, das heißt unter denen, die ihre höhere Bestimmung
nicht erfüllt (wie z. B. die Feder, mit der nie geschrieben
wurde).

Der fremde Passagier, der Peer Gynt auf dem
gescheiterten Schiffe erscheint, ist der Tod. Durch ihn und
durch das fallende Meteor wird Peer Gynt sich klar über die
Nichtigkeit seiner irdischen Existenz.

Der Knopfgießer: "Die Menschheit wäre ein miß-
glückter Versuch der Gottheit und müßte umgegossen werden,
wenn sie ihrer Bestimmung Trotz böte bis zum Schluß, d. h.
sich bis ans Ende untreu erwiese im Dienste des ihr inne-
wohnenden Höheren. Der Knopfgießer stellt, so unpathetisch
als nur möglich, die Gottheit und ihre Ansprüche an die
Menschheit dar." -- Er hat daher auch die Kraft, die Men-
schen, welche hienieden nicht das geworden, was sie nach ihrer
höheren Bestimmung hätten werden sollen und können, in
eine bessere Form "umzugießen".

Der Magere = der Teufel ist im Gegensatz dazu
auf der Suche nach wahren Sündern "wirklich großen Stiles".
Die Halb und Halben lehnt er ab. Für die ist der Knopf-
gießer da.

Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche
den Menschen immer wieder treulos gegen sich selbst werden
läßt. Der Krumme ist also das die Erlösung negierende
Prinzip. Er wird deshalb auch von Solvejg (= Prinzip der
Erlösung durch die Liebe) überwunden. Und dies zweimal:
im II. und V. Akte. -- Er ist zugleich -- und daher hat er
seinen Namen -- das Prinzip der Lüge.

"Die Knäuel", die dem Helden zuletzt über den Berg
rollen, sind die Forderungen, die Peer Gynt nicht erfüllt hat
("Wir sind Lieder, hast du uns gesungen?").

Das Gesamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all-
gemeine Zustimmung finden dürfte, lautet: "Peer Gynt ist ein
Erlösungsdrama, und zwar der größten eines, um es nur gleich
zu bekennen. Reicher und umfassender als irgend ein Drama
Shakespeares, ohne an Schönheit hinter diesen zurückzublei-
ben, an sinnlichem Glanze unter allen Werken Ibsens
überlegen, steht es an Bedeutung der Konzeption ebenbürtig
neben, an Gewalt der Durchführung über Goethes "Faust"
und reicht beinahe hinan zu den Höhen des "Tristan" und
"Parsifal" von Richard Wagner. Mit diesen drei Dichtungen
gemeinsam ist ihm die Stellung des Menschheitsproblems im
allergrößten Umfang und mit den allerunerbittlichsten Alter-
nativen."

Trotz allen Tiefsinns, den Deuter und Erklärer aus
Peer Gynt herauslesen, bleibt das dramatische Gedicht
eine formlose Dichtung, und die Aufführung am 30. Juli
offenbarte diese Formlosigkeit, die ja bei einem Lese-
drama weniger bedeutet als bei einem Stück, das für die
Bühne lebendig werden soll, mit der Deutlichkeit, die nun ein-
mal an allen Bühnenvorgängen haftet. Man saß, um es
ehrlich zu sagen, zum Teil mit recht gemischten Stimmungen
vor den einzelnen Bühnenbildern, und wenn manche, wie die
herrliche Schlußßene des dritten Aktes, Aases Tod, und der
Schluß des fünften eine starke Wirkung ausübten, so muß
man diese zum guten Teil der Grieg'schen Musik zuschreiben.
[Spaltenumbruch] Und die Frage, ob denn die Bühne des Künstlertheaters wirk-
lich geeignet sei, solchen Problemdichtungen, die in zahlreiche
Bilder aus aller Herrgottswelt auseinanderfallen, zur größten
Wirkung zu verhelfen, wird immer wieder lebendig, wenn
man als Zuschauer in diesem vielberufenen Theater sitzt.
Schon der da außen geschaffene neutrale Schauplatz der Dich-
tung, eine flache, nach rechts und links ansteigende Gras-
mulde, an die alle andern Schauplätze: Meer, Küste, Bauern-
hütte, Bergwerk, Friedhof etc. sozusagen angestückelt werden,
ist der Stimmung der Bilder und, was wichtiger ist, den
Schauspielern nicht immer günstig. Und leider muß man von
diesen wieder sagen, daß sich unter diesen keine einzige her-
vorragende Persönlichkeit befindet. Ein sehr gutes Provinz-
ensemble, nichts weiter. Frau Dumont bot als Aase die beste
Leistung des Abends; aber sie tritt nur in einigen Szenen
hervor. Und welche Anklänge an allerlei liebliche norddeutsche
Dialekte bekam man wieder zu hören! Und wie wurde das
Tempo verschleppt! Und wie wurde, nach dem bekannten
Reinhardtschen Muster, gelärmt und geschrien, um jene
Lebendigkeit zu erreichen, die mit dem wahren Bühnenleben
zuweilen, aber nicht immer identisch ist! Bei diesen Ausstel-
lungen bleibt allerdings stets zu erwägen, daß sich der Ver-
lebendigkeit des barocken Gedichts auf der Bühne die aller-
größten Schwierigkeiten entgegenstellen. Wer die Dichtung
genießen will, muß immer wieder zum Buche greifen. Dem
Leser ist die Phantasie eine willigere Dienerin als dem Zu-
schauer, den tausend Dinge an die Unzulänglichkeit aller
Bühnen erinnern können. Und wenn man vollends mit dem
Gefühl vor der Rampe sitzt, das draußen in der wirklichen
Welt, vielleicht im Augenblick über das Schicksal einer Welt
entschieden wird, bekommt die Theaterspielerei ein ganz merk-
würdiges Gesicht. Ein Teil des Publikums spendete nach dem
dritten Akt und zum Schluß herzlichen Beifall, während der
größere wohl mit dem Gefühl hinausging, daß die ehrlichsten
Bemühungen nicht immer den Erfolg verbürgen, der unaus-
löschliche Eindrücke hinterläßt.

Kunst und Literatur
Johann Sperl +
(geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, gest. in Aibling
am 28. Juli 1914).

Wenn man aus der Großstadt in die Berge gefahren ist und
nach einigen Stunden der Wanderung in ein Dorfwirtshaus kommt,
dann setzt man sich an einen Nebentisch in der Ecke und betrachtet
die Bauern bei ihrer Unterhaltung. Das legt sich breit mit schweren
Armen in den Tisch und starrt auf den Erzähler, der den Hut auf
die linke Kopfseite geschoben hat, sich auf den linken Arm stützt
und mit dem rechten Arm und der rechten Faust seine Schilderung
bekräftigt. Darnach sieht man im Vorbeigehen vielleicht durch ein
geranienbestelltes Fenster in einer Bauernstube Leute am Tisch
sitzen und gemeinsam aus der Schüssel essen. Und dann geht man
weiter und denkt irgendwie an ein Defreggersches Bild.

Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung
wieder in einem Dorfwirtshaus rastet, dann nimmt man sich schon
so einen dieser Bauern genauer vor, und blickt ihm ins Gesicht, geht
all' den Runzeln und Furchen nach, und studiert so eine Hand, und
so eine Haltung und so einen Ausdruck, mit dem er zuhört, mit
dem er seine Worte herausknollt, daß sie wie schwere Steine auf
den Tisch fallen. Und dann denkt man irgendwie an ein Bild von
Leibl.

Man sieht nicht mehr bloß die ßenische Aufmachung, Bauern
in der Unterhaltung, ein Schlierseer Bauernstück, man sieht einen
Typus, einen Charakter, einen andern Menschen, eine realistische
Szene in einem wirklichen Dorfwirtshaus. Und wenn man am
andern Morgen vor Sonnenaufgang über die Bäume und Wiesen
und Bauernhäuser an den Bergwänden hinaufschaut, dann sieht
man kein Alpenpanorama, sondern man empfindet die Natur; man
ist garnicht mehr Beobachter, man ist selbst etwas in der Natur;
man sieht nicht mehr die Form eines Baumes, die Farbe einer
Wiese, die Höhe eines Berges, die Figur eines Bauern, man ver-
gleicht nicht mehr, man erinnert sich nicht mehr -- man atmet mit

1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch]

Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten)
verlockt ihn mit ihrem tierhaften Sinnenreize in das Reich
der Trolle, wo er im Tierhaften verſinkt (angedeutet durch den
Eber, auf dem ſie reiten, und durch den Affenſchwanz), um
ſich aber doch endlich unter der Einwirkung ſeines höheren
Ich (Solvejg) wieder daraus zu befreien.

Anitra repräſentiert die Seelenloſigkeit in der aus-
gebildetſten Geſtalt, in der ſie bei Menſchen möglich iſt. Sie
ſucht nichts als das Materielle (Edelſteine); während Peer
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Selbſt durchzuringen. Dies zeigt ſich auch nach ſeinem wüſten
Abenteuer mit den

Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in
den Sumpf des Triebhaft-Tieriſchen hinabzogen.

Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauſes,
iſt nicht bloß eine Karikatur des deutſchen Gelehrten, ſondern
er, der durch den Umgang mit Irren ſelbſt verrückt geworden
iſt, fühlt gerade deshalb das Irre in Peer Gynts Weſen. Er
„erkennt ihn“ und erkennt ihn an als Kaiſer — im Irren-
hauſe, das heißt unter denen, die ihre höhere Beſtimmung
nicht erfüllt (wie z. B. die Feder, mit der nie geſchrieben
wurde).

Der fremde Paſſagier, der Peer Gynt auf dem
geſcheiterten Schiffe erſcheint, iſt der Tod. Durch ihn und
durch das fallende Meteor wird Peer Gynt ſich klar über die
Nichtigkeit ſeiner irdiſchen Exiſtenz.

Der Knopfgießer: „Die Menſchheit wäre ein miß-
glückter Verſuch der Gottheit und müßte umgegoſſen werden,
wenn ſie ihrer Beſtimmung Trotz böte bis zum Schluß, d. h.
ſich bis ans Ende untreu erwieſe im Dienſte des ihr inne-
wohnenden Höheren. Der Knopfgießer ſtellt, ſo unpathetiſch
als nur möglich, die Gottheit und ihre Anſprüche an die
Menſchheit dar.“ — Er hat daher auch die Kraft, die Men-
ſchen, welche hienieden nicht das geworden, was ſie nach ihrer
höheren Beſtimmung hätten werden ſollen und können, in
eine beſſere Form „umzugießen“.

Der Magere = der Teufel iſt im Gegenſatz dazu
auf der Suche nach wahren Sündern „wirklich großen Stiles“.
Die Halb und Halben lehnt er ab. Für die iſt der Knopf-
gießer da.

Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche
den Menſchen immer wieder treulos gegen ſich ſelbſt werden
läßt. Der Krumme iſt alſo das die Erlöſung negierende
Prinzip. Er wird deshalb auch von Solvejg (= Prinzip der
Erlöſung durch die Liebe) überwunden. Und dies zweimal:
im II. und V. Akte. — Er iſt zugleich — und daher hat er
ſeinen Namen — das Prinzip der Lüge.

Die Knäuel“, die dem Helden zuletzt über den Berg
rollen, ſind die Forderungen, die Peer Gynt nicht erfüllt hat
(„Wir ſind Lieder, haſt du uns geſungen?“).

Das Geſamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all-
gemeine Zuſtimmung finden dürfte, lautet: „Peer Gynt iſt ein
Erlöſungsdrama, und zwar der größten eines, um es nur gleich
zu bekennen. Reicher und umfaſſender als irgend ein Drama
Shakeſpeares, ohne an Schönheit hinter dieſen zurückzublei-
ben, an ſinnlichem Glanze unter allen Werken Ibſens
überlegen, ſteht es an Bedeutung der Konzeption ebenbürtig
neben, an Gewalt der Durchführung über Goethes „Fauſt“
und reicht beinahe hinan zu den Höhen des „Triſtan“ und
„Parſifal“ von Richard Wagner. Mit dieſen drei Dichtungen
gemeinſam iſt ihm die Stellung des Menſchheitsproblems im
allergrößten Umfang und mit den allerunerbittlichſten Alter-
nativen.“

Trotz allen Tiefſinns, den Deuter und Erklärer aus
Peer Gynt herausleſen, bleibt das dramatiſche Gedicht
eine formloſe Dichtung, und die Aufführung am 30. Juli
offenbarte dieſe Formloſigkeit, die ja bei einem Leſe-
drama weniger bedeutet als bei einem Stück, das für die
Bühne lebendig werden ſoll, mit der Deutlichkeit, die nun ein-
mal an allen Bühnenvorgängen haftet. Man ſaß, um es
ehrlich zu ſagen, zum Teil mit recht gemiſchten Stimmungen
vor den einzelnen Bühnenbildern, und wenn manche, wie die
herrliche Schlußſzene des dritten Aktes, Aaſes Tod, und der
Schluß des fünften eine ſtarke Wirkung ausübten, ſo muß
man dieſe zum guten Teil der Grieg’ſchen Muſik zuſchreiben.
[Spaltenumbruch] Und die Frage, ob denn die Bühne des Künſtlertheaters wirk-
lich geeignet ſei, ſolchen Problemdichtungen, die in zahlreiche
Bilder aus aller Herrgottswelt auseinanderfallen, zur größten
Wirkung zu verhelfen, wird immer wieder lebendig, wenn
man als Zuſchauer in dieſem vielberufenen Theater ſitzt.
Schon der da außen geſchaffene neutrale Schauplatz der Dich-
tung, eine flache, nach rechts und links anſteigende Gras-
mulde, an die alle andern Schauplätze: Meer, Küſte, Bauern-
hütte, Bergwerk, Friedhof ꝛc. ſozuſagen angeſtückelt werden,
iſt der Stimmung der Bilder und, was wichtiger iſt, den
Schauſpielern nicht immer günſtig. Und leider muß man von
dieſen wieder ſagen, daß ſich unter dieſen keine einzige her-
vorragende Perſönlichkeit befindet. Ein ſehr gutes Provinz-
enſemble, nichts weiter. Frau Dumont bot als Aaſe die beſte
Leiſtung des Abends; aber ſie tritt nur in einigen Szenen
hervor. Und welche Anklänge an allerlei liebliche norddeutſche
Dialekte bekam man wieder zu hören! Und wie wurde das
Tempo verſchleppt! Und wie wurde, nach dem bekannten
Reinhardtſchen Muſter, gelärmt und geſchrien, um jene
Lebendigkeit zu erreichen, die mit dem wahren Bühnenleben
zuweilen, aber nicht immer identiſch iſt! Bei dieſen Ausſtel-
lungen bleibt allerdings ſtets zu erwägen, daß ſich der Ver-
lebendigkeit des barocken Gedichts auf der Bühne die aller-
größten Schwierigkeiten entgegenſtellen. Wer die Dichtung
genießen will, muß immer wieder zum Buche greifen. Dem
Leſer iſt die Phantaſie eine willigere Dienerin als dem Zu-
ſchauer, den tauſend Dinge an die Unzulänglichkeit aller
Bühnen erinnern können. Und wenn man vollends mit dem
Gefühl vor der Rampe ſitzt, das draußen in der wirklichen
Welt, vielleicht im Augenblick über das Schickſal einer Welt
entſchieden wird, bekommt die Theaterſpielerei ein ganz merk-
würdiges Geſicht. Ein Teil des Publikums ſpendete nach dem
dritten Akt und zum Schluß herzlichen Beifall, während der
größere wohl mit dem Gefühl hinausging, daß die ehrlichſten
Bemühungen nicht immer den Erfolg verbürgen, der unaus-
löſchliche Eindrücke hinterläßt.

Kunſt und Literatur
Johann Sperl †
(geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, geſt. in Aibling
am 28. Juli 1914).

Wenn man aus der Großſtadt in die Berge gefahren iſt und
nach einigen Stunden der Wanderung in ein Dorfwirtshaus kommt,
dann ſetzt man ſich an einen Nebentiſch in der Ecke und betrachtet
die Bauern bei ihrer Unterhaltung. Das legt ſich breit mit ſchweren
Armen in den Tiſch und ſtarrt auf den Erzähler, der den Hut auf
die linke Kopfſeite geſchoben hat, ſich auf den linken Arm ſtützt
und mit dem rechten Arm und der rechten Fauſt ſeine Schilderung
bekräftigt. Darnach ſieht man im Vorbeigehen vielleicht durch ein
geranienbeſtelltes Fenſter in einer Bauernſtube Leute am Tiſch
ſitzen und gemeinſam aus der Schüſſel eſſen. Und dann geht man
weiter und denkt irgendwie an ein Defreggerſches Bild.

Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung
wieder in einem Dorfwirtshaus raſtet, dann nimmt man ſich ſchon
ſo einen dieſer Bauern genauer vor, und blickt ihm ins Geſicht, geht
all’ den Runzeln und Furchen nach, und ſtudiert ſo eine Hand, und
ſo eine Haltung und ſo einen Ausdruck, mit dem er zuhört, mit
dem er ſeine Worte herausknollt, daß ſie wie ſchwere Steine auf
den Tiſch fallen. Und dann denkt man irgendwie an ein Bild von
Leibl.

Man ſieht nicht mehr bloß die ſzeniſche Aufmachung, Bauern
in der Unterhaltung, ein Schlierſeer Bauernſtück, man ſieht einen
Typus, einen Charakter, einen andern Menſchen, eine realiſtiſche
Szene in einem wirklichen Dorfwirtshaus. Und wenn man am
andern Morgen vor Sonnenaufgang über die Bäume und Wieſen
und Bauernhäuſer an den Bergwänden hinaufſchaut, dann ſieht
man kein Alpenpanorama, ſondern man empfindet die Natur; man
iſt garnicht mehr Beobachter, man iſt ſelbſt etwas in der Natur;
man ſieht nicht mehr die Form eines Baumes, die Farbe einer
Wieſe, die Höhe eines Berges, die Figur eines Bauern, man ver-
gleicht nicht mehr, man erinnert ſich nicht mehr — man atmet mit

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[495/0009] 1. Auguſt 1914. Allgemeine Zeitung Die Grüngekleidete (Tochter des Dovre-Alten) verlockt ihn mit ihrem tierhaften Sinnenreize in das Reich der Trolle, wo er im Tierhaften verſinkt (angedeutet durch den Eber, auf dem ſie reiten, und durch den Affenſchwanz), um ſich aber doch endlich unter der Einwirkung ſeines höheren Ich (Solvejg) wieder daraus zu befreien. Anitra repräſentiert die Seelenloſigkeit in der aus- gebildetſten Geſtalt, in der ſie bei Menſchen möglich iſt. Sie ſucht nichts als das Materielle (Edelſteine); während Peer Gynt doch nie ganz den Drang verliert, ſich zu ſeinem wahren Selbſt durchzuringen. Dies zeigt ſich auch nach ſeinem wüſten Abenteuer mit den Saeterinnen (Sennerinnen), die ihn auch tief in den Sumpf des Triebhaft-Tieriſchen hinabzogen. Dr. Begriffenfeld, der Direktor des Irrenhauſes, iſt nicht bloß eine Karikatur des deutſchen Gelehrten, ſondern er, der durch den Umgang mit Irren ſelbſt verrückt geworden iſt, fühlt gerade deshalb das Irre in Peer Gynts Weſen. Er „erkennt ihn“ und erkennt ihn an als Kaiſer — im Irren- hauſe, das heißt unter denen, die ihre höhere Beſtimmung nicht erfüllt (wie z. B. die Feder, mit der nie geſchrieben wurde). Der fremde Paſſagier, der Peer Gynt auf dem geſcheiterten Schiffe erſcheint, iſt der Tod. Durch ihn und durch das fallende Meteor wird Peer Gynt ſich klar über die Nichtigkeit ſeiner irdiſchen Exiſtenz. Der Knopfgießer: „Die Menſchheit wäre ein miß- glückter Verſuch der Gottheit und müßte umgegoſſen werden, wenn ſie ihrer Beſtimmung Trotz böte bis zum Schluß, d. h. ſich bis ans Ende untreu erwieſe im Dienſte des ihr inne- wohnenden Höheren. Der Knopfgießer ſtellt, ſo unpathetiſch als nur möglich, die Gottheit und ihre Anſprüche an die Menſchheit dar.“ — Er hat daher auch die Kraft, die Men- ſchen, welche hienieden nicht das geworden, was ſie nach ihrer höheren Beſtimmung hätten werden ſollen und können, in eine beſſere Form „umzugießen“. Der Magere = der Teufel iſt im Gegenſatz dazu auf der Suche nach wahren Sündern „wirklich großen Stiles“. Die Halb und Halben lehnt er ab. Für die iſt der Knopf- gießer da. Der große Krumme bedeutet die Gewalt, welche den Menſchen immer wieder treulos gegen ſich ſelbſt werden läßt. Der Krumme iſt alſo das die Erlöſung negierende Prinzip. Er wird deshalb auch von Solvejg (= Prinzip der Erlöſung durch die Liebe) überwunden. Und dies zweimal: im II. und V. Akte. — Er iſt zugleich — und daher hat er ſeinen Namen — das Prinzip der Lüge. „Die Knäuel“, die dem Helden zuletzt über den Berg rollen, ſind die Forderungen, die Peer Gynt nicht erfüllt hat („Wir ſind Lieder, haſt du uns geſungen?“). Das Geſamturteil Weiningers aber, das wohl kaum all- gemeine Zuſtimmung finden dürfte, lautet: „Peer Gynt iſt ein Erlöſungsdrama, und zwar der größten eines, um es nur gleich zu bekennen. Reicher und umfaſſender als irgend ein Drama Shakeſpeares, ohne an Schönheit hinter dieſen zurückzublei- ben, an ſinnlichem Glanze unter allen Werken Ibſens überlegen, ſteht es an Bedeutung der Konzeption ebenbürtig neben, an Gewalt der Durchführung über Goethes „Fauſt“ und reicht beinahe hinan zu den Höhen des „Triſtan“ und „Parſifal“ von Richard Wagner. Mit dieſen drei Dichtungen gemeinſam iſt ihm die Stellung des Menſchheitsproblems im allergrößten Umfang und mit den allerunerbittlichſten Alter- nativen.“ Trotz allen Tiefſinns, den Deuter und Erklärer aus Peer Gynt herausleſen, bleibt das dramatiſche Gedicht eine formloſe Dichtung, und die Aufführung am 30. Juli offenbarte dieſe Formloſigkeit, die ja bei einem Leſe- drama weniger bedeutet als bei einem Stück, das für die Bühne lebendig werden ſoll, mit der Deutlichkeit, die nun ein- mal an allen Bühnenvorgängen haftet. Man ſaß, um es ehrlich zu ſagen, zum Teil mit recht gemiſchten Stimmungen vor den einzelnen Bühnenbildern, und wenn manche, wie die herrliche Schlußſzene des dritten Aktes, Aaſes Tod, und der Schluß des fünften eine ſtarke Wirkung ausübten, ſo muß man dieſe zum guten Teil der Grieg’ſchen Muſik zuſchreiben. Und die Frage, ob denn die Bühne des Künſtlertheaters wirk- lich geeignet ſei, ſolchen Problemdichtungen, die in zahlreiche Bilder aus aller Herrgottswelt auseinanderfallen, zur größten Wirkung zu verhelfen, wird immer wieder lebendig, wenn man als Zuſchauer in dieſem vielberufenen Theater ſitzt. Schon der da außen geſchaffene neutrale Schauplatz der Dich- tung, eine flache, nach rechts und links anſteigende Gras- mulde, an die alle andern Schauplätze: Meer, Küſte, Bauern- hütte, Bergwerk, Friedhof ꝛc. ſozuſagen angeſtückelt werden, iſt der Stimmung der Bilder und, was wichtiger iſt, den Schauſpielern nicht immer günſtig. Und leider muß man von dieſen wieder ſagen, daß ſich unter dieſen keine einzige her- vorragende Perſönlichkeit befindet. Ein ſehr gutes Provinz- enſemble, nichts weiter. Frau Dumont bot als Aaſe die beſte Leiſtung des Abends; aber ſie tritt nur in einigen Szenen hervor. Und welche Anklänge an allerlei liebliche norddeutſche Dialekte bekam man wieder zu hören! Und wie wurde das Tempo verſchleppt! Und wie wurde, nach dem bekannten Reinhardtſchen Muſter, gelärmt und geſchrien, um jene Lebendigkeit zu erreichen, die mit dem wahren Bühnenleben zuweilen, aber nicht immer identiſch iſt! Bei dieſen Ausſtel- lungen bleibt allerdings ſtets zu erwägen, daß ſich der Ver- lebendigkeit des barocken Gedichts auf der Bühne die aller- größten Schwierigkeiten entgegenſtellen. Wer die Dichtung genießen will, muß immer wieder zum Buche greifen. Dem Leſer iſt die Phantaſie eine willigere Dienerin als dem Zu- ſchauer, den tauſend Dinge an die Unzulänglichkeit aller Bühnen erinnern können. Und wenn man vollends mit dem Gefühl vor der Rampe ſitzt, das draußen in der wirklichen Welt, vielleicht im Augenblick über das Schickſal einer Welt entſchieden wird, bekommt die Theaterſpielerei ein ganz merk- würdiges Geſicht. Ein Teil des Publikums ſpendete nach dem dritten Akt und zum Schluß herzlichen Beifall, während der größere wohl mit dem Gefühl hinausging, daß die ehrlichſten Bemühungen nicht immer den Erfolg verbürgen, der unaus- löſchliche Eindrücke hinterläßt. J. V. Kunſt und Literatur Johann Sperl † (geb. am 3. November 1840 in Buch bei Nürnberg, geſt. in Aibling am 28. Juli 1914). Wenn man aus der Großſtadt in die Berge gefahren iſt und nach einigen Stunden der Wanderung in ein Dorfwirtshaus kommt, dann ſetzt man ſich an einen Nebentiſch in der Ecke und betrachtet die Bauern bei ihrer Unterhaltung. Das legt ſich breit mit ſchweren Armen in den Tiſch und ſtarrt auf den Erzähler, der den Hut auf die linke Kopfſeite geſchoben hat, ſich auf den linken Arm ſtützt und mit dem rechten Arm und der rechten Fauſt ſeine Schilderung bekräftigt. Darnach ſieht man im Vorbeigehen vielleicht durch ein geranienbeſtelltes Fenſter in einer Bauernſtube Leute am Tiſch ſitzen und gemeinſam aus der Schüſſel eſſen. Und dann geht man weiter und denkt irgendwie an ein Defreggerſches Bild. Wenn man dann am Abend nach der längeren Wanderung wieder in einem Dorfwirtshaus raſtet, dann nimmt man ſich ſchon ſo einen dieſer Bauern genauer vor, und blickt ihm ins Geſicht, geht all’ den Runzeln und Furchen nach, und ſtudiert ſo eine Hand, und ſo eine Haltung und ſo einen Ausdruck, mit dem er zuhört, mit dem er ſeine Worte herausknollt, daß ſie wie ſchwere Steine auf den Tiſch fallen. Und dann denkt man irgendwie an ein Bild von Leibl. Man ſieht nicht mehr bloß die ſzeniſche Aufmachung, Bauern in der Unterhaltung, ein Schlierſeer Bauernſtück, man ſieht einen Typus, einen Charakter, einen andern Menſchen, eine realiſtiſche Szene in einem wirklichen Dorfwirtshaus. Und wenn man am andern Morgen vor Sonnenaufgang über die Bäume und Wieſen und Bauernhäuſer an den Bergwänden hinaufſchaut, dann ſieht man kein Alpenpanorama, ſondern man empfindet die Natur; man iſt garnicht mehr Beobachter, man iſt ſelbſt etwas in der Natur; man ſieht nicht mehr die Form eines Baumes, die Farbe einer Wieſe, die Höhe eines Berges, die Figur eines Bauern, man ver- gleicht nicht mehr, man erinnert ſich nicht mehr — man atmet mit

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 31, 1. August 1914, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine31_1914/9>, abgerufen am 21.11.2024.