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Allgemeine Zeitung, Nr. 336, 4. Dezember 1890.

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Donnerstag, Drittes Morgenblatt, Nr. 336 der Allgemeinen Zeitung. 4. December 1890.


Inhalts-Uebersicht.
Die Arbeiterfrage in der Schweiz. -- Rechtsprechung des
Reichsgerichts. -- Für den Weihnachtstisch.
(IV.)

Die Arbeiterfrage in der Schweiz.1)

Hr. Ribot, Minister des Aus-
wärtigen, hatte vor einigen Monaten seine Vertreter in Deutsch-
land, Oesterreich-Ungarn, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden
und Norwegen, Spanien, Portugal, Italien, der Schweiz, Eng-
land, Rußland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika
aufgefordert, ihm einen eingehenden Bericht über den Stand der
Arbeiterfrage in den betreffenden Ländern einzusenden. Es liegt
uns nun die interessante Arbeit des französischen Botschafters in
Bern, Hrn. Emanuel Arago, vor, auf die wir die Aufmerksamkeit
der Leser dieses Blattes lenken wollen.

Die Schrift zerfällt in zwei Haupttheile. Im ersteren wird
von den Arbeitervereinen, den Strikes, den Handwerkerschulen, den
Arbeiterwohnungen und den Volksbanken gehandelt; der zweite
beschäftigt sich namentlich mit der Arbeitergesetzgebung und den
Reformen, welche auf dieselbe Bezug haben.

Hr. Arago hebt im Eingange mit Recht hervor, daß die in
der Schweiz herrschende größere Einfachheit der Sitten und der
Mangel an Großstädten dem Arbeiter und selbst dem Bauern die
Distanz weniger fühlbar machen, welche sie von den sogenannten
leitenden Classen der Gesellschaft trennt. Dazu kommen die bis
in die untersten Volksschichten verbreitete Bildung, die Decentrali-
sirung der öffentlichen Gewalten und die seit langem bestehende
freiheitliche Gesetzgebung -- Elemente, welche es dem schweizerischen
Arbeiter leichter machen, als seinen Collegen in den übrigen
Ländern, die für die Verbesserung seines Standes wünschens-
werthen Reformen auf friedlichem Wege durchzusetzen; die
schweizerischen Arbeiter seien in dieser Hinsicht den englischen zu
vergleichen. Mit einem Worte: die Arbeiter fühlen sich in der
helvetischen Republik zur internationalen Socialdemokratie nicht
sonderlich hingezogen und in der That bestehen die anarchistischen
Gefellschaften in Zürich und Genf zumeist aus Nussen, Polen,
Deutschen und anderen Ausländern.

Das Associationswesen in der Schweiz ist ein sehr reich ent-
wickeltes. Schon im Jahre 1867 zählte man mehr als 4000 Ge-
sellschaften und Vereine aller Art. Die Baseler Genossenschaft,
welche im Jahre 1770 begründet wurde, ist die wichtigste von
allen: sie zählt ungefähr 2000 Mitglieder. Nach ihr kommt die
Züricher, welche Filialen in der ganzen Schweiz zählt. Ihr
Vereinsorgan ist die Schweizerische Revue (vgl. Renee Lavollee,
Les Classes ouvrieres en Suisse. Paris, Guillaumin,
1882).

Der eigentliche schweizerische Arbeiterverein aber ist der
Grütli-Verein, der im Jahre 1830 in Genf gegründet und am
20. Mai 1838 auf ernsten Grundlagen aufgebaut wurde. Nach
einer Krisis im Jahre 1868 raffte sich der Verein bald wieder
auf und zählte in den Jahren 1880--1885 200 Sectionen und
7000 wirkliche Mitglieder. Die Jahresbeiträge beliefen sich auf
70,000 bis 80,000 Francs. Am 30. September 1889 hatte der
Grütli-Verein 301 Sectionen und 15,520 wirkliche Mitglieder;
die Jahresbeiträge beliefen sich auf 170,000 Francs und der
Reservefonds erreichte die Höhe von 225,000 Francs. Die
Arbeiter der meisten schweizerischen Fabriken gehören diesem Verein
an. Ihr Zweck ist die allmäbliche Erreichung eines Ideals politi-
scher und socialer Gleichheit aller Bürger und der Sieg der echten
Demokratie in sämmtlichen Cantonen. Die Devise des Grütli-
Bereins ist: "Durch Bildung zur Freiheit."

Der Verein ist fehr patriotisch, er läßt Fremde nur als
[Spaltenumbruch] außerordentliche Mitglieder zu. Er hatte im Anfange nur zwei
publicistische Organe, von denen das eine, Le Grütli, in französi-
scher Sprache geschrieben ist. In der officiellen Statistik wird der
Verein unter den "Vaterländischen politischen Vereinen" aufgezählt.
Der Grütli-Verein hat einen hervorragend deutschen Charakter; von
den 301 Sectionen befinden sich bloß 40 auf dem Boden der
französischen Schweiz. Der gegenwärtige Sitz des Centralcomites
ist St. Gallen; dasselbe besteht aus einem Präsidenten, einem
Vicepräsidenten, 4 Secretären, einem Buchführer, einem Cassier
und einem Archivar. Dem Centralcomite stehen zur Seite eine Control-
commission und ein Specialcomite, die sich namentlich mit der Auf-
stellung des politisch-socialen Programmes zu beschäftigen haben.

Hr. Arago prophezeit dem Grütli-Vereine ein große Zukunft
und hält es für möglich, daß er die Verbesserung des Looses der
Arbeiterclasse im demokratischen Sinne erreichen werde. Der
Verein zählt warme Vertheidiger in den Reihen des Bundesrathes,
der Publicistik, der Nationalökonomen etc. Der Einfluß des Grütli-
Vereines ist ein so hervorragender, daß die Bundesregierung sich
im Jahre 1887 veranlaßt gesehen hat, das "schweizerische Arbeiter-
secretariat" zu gründen, welches die Centralisirung der gesammten
schweizerischen Arbeiterclasse ermöglichte. Der würdige Secretär,
Hr. Greulich, wurde heuer für drei Jahre wiedergewählt. Sein
Mitarbeiter ist Dr. Kozak, Privatdocent an der Züricher Polytech-
nischen Hochschule, bekannt durch seine Schriften über die Arbeiter-
versicherungs-Gesetzgebung in Deutschland.

Den beiden genannten publicistischen Organen in deutscher
und französischer Sprache gesellte sich bald eines in italienischer
Sprache hinzu: Il lavoratore, welches in Lugano erscheint. Der
Grütli-Verein arbeitet jetzt mit Hülfe seiner drei Organe daran, eine
parallele Genossenschaft der Arbeitgeber zu gründen, da er sich klar
darüber ist, daß eine Lösung der Arbeiterfrage im friedlichen Sinne
ohne Zustimmung jener unmöglich ist.

Der französische Botschafter entwirft in einem besonderen Ab-
schnitte eine Statistik der Bevölkerung der Schweiz nach ihren
Berufsclassen. Von den 2,933,334 Einwohnern (1. Dec. 1888)
sind 1,170,000 Ackerbauer, 1,060,000 Industrielle, 320,000 Kauf-
leute, 115,000 Verwaltungsbeamte und Lehrer, 30,000 Bedienstete,
160,000 ohne bestimmte Profession.

Die Schweiz zählt 3786 der Inspicirung unterworfene Fabriken,
welche 160,000 Arbeiter beschäftigen, darunter 86,532 Männer und
73,011 Frauen.

Die politische Unabhängigkeit des schweizerischen Arbeiters ist
eine absolute. Es werden die peinlichsten Vorsichtsmaßregeln ge-
troffen, um seinem Votum bei den gesetzgebenden Wahlen den
Charakter der geheimen Abstimmung zu wahren.

Der französische Botschafter constatirt mit sichtlichem Ver-
gnügen, daß es in der schweizerischen Gesellschaft keinen Unter-
schied zwischen Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten
gibt, und daß der Kastengeist, der in den meisten anderen euro-
päischen Ländern herrsche, in der Schweiz unbekannt sei.

Hr. Arago bemerkt, daß trotz der Züricher Bombenaffaire
und dem Vorfalle Wohlgemuth gegen die in der Schweiz arbeiten-
den Fremden keine Gehässigkeit herrsche, daß aber immerhin der
Bundesrath seitdem eine reservirtere Haltung einnehme.

Aus dem Capitel über die Arbeiterwohnungen ist die Be-
merkung Arago's hervorzuheben, in welcher er die Hoffnung aus-
spricht, daß, wenn eines Tages der Staat der Generalversicherer
der Bevölkerung sein werde, die Wohnungen und überbaupt die
Existenzbedingungen der arbeitenden Classe einer noch strengeren
Controle, als bisher, werden unterworfen werden. Im allgemeinen
verfügt der schweizerische Arbeiter, fährt der französische Botschafter
in seinem Berichte fort, über eine gesunde Wohnung, ist jedoch
nur in feltenen Fällen Hauseigenthümer. Dieses Ideal sei eben
bei dem hohen Preise des Terrains in den industriellen Centren
leider nicht zu erreichen. Mehrere Gesellschaften, wie die 1860
[Spaltenumbruch] gegründete Societe de construction von Lausanne, die Associa-
tion immobiliere
in Genf etc. bauten viele Hunderte Arbeiter-
häuser mit billigen Wohnungen.

Was die Consumvereine betrifft, so wurde der erste 1802 in
Basel gegründet. Heute zählt der Züricher Canton allein ihrer
mehr als 100. Die Actienbäckereien, die Familienfleischhauereien etc.
erweisen den Arbeitern, zumal zur Zeit von Arbeiterkrisen, ganz
bedeutende Dienste. Im Winter wird unter die armen Arbeiter
Heizmaterial unentgeltlich oder doch zu sehr billigen Preisen ver-
theilt. Es gibt zahlreiche unentgeltliche warme Badeanstalten für
Arbeiter; daß diese im Sommer in allen Seen und Flüssen frei
baden dürfen, ist selbstverständlich.

Auch für die Vergnügungen der Arbeiter ist in hinlänglichem
Maße gesorgt. Mehrere Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften
haben specielle Arbeiterkarten für Sonntagsausflüge eingerichtet.
Eigene Vereine, wie die "Heimath" in Zürich, bereiten den reisen-
den Genossen eine gastfreundschaftliche Aufnahme.

Der französische Botschafter schließt seinen Bericht mit der
Aufzählung folgender 7 Punkte, die nach den durch ihn einge-
zogenen Erkundigungen auf dem nächsten Arbeitercongresse im
Jahre 1891 in Erörterung gezogen werden dürften: 1. Resultate
der Berliner Arbeiterconferenz, die Rescripte Kaiser Wilhelms, der
Widerstand, der seitens der deutschen Handelskammern den Re-
formen des Kaisers geleistet wird; Maßnahmen, um diesen Wider-
stand zu brechen. 2. Allgemeine Einführung der schweizerischen
Arbeitergenossenschaften. 3. Allgemeine Einführung des Systems
der Pariser Arbeitsbörfe. 4. Die Frage der obligatorischen Ver-
sicherung. Die Resultate ihrer Functionirung in Deutschland.
5. Arbeitersyndikate. Einheitliche Regelung ihrer Beziehungen zum
Staate und zu den capitalistischen Syndikaten. 6. Grundlinien
für ein gemeinsames politisches Vorgehen: Die Frage des all-
gemeinen Stimmrechts in Belgien, Wahlreform in England,
Italien und Oesterreich. 7. Systematischere Ausnützung der Welt-
ausstellungen im Sinne der Arbeiter.

Wir wissen nicht, wie Vieles von dem hier Angeführten dem
Leser bereits bekannt ist; es ist aber nach unsrer Ansicht immerhin
interessant, die Auffassung der officiellen Vertreter der französischen
Republik über diese Fragen kennen zu lernen.



Rechtsprechung des Reichsgerichts.

[&#xfffc;] Verpflichtung zu kaufmännischer Buchführung
bei einem theilweise als Hausirhandel betriebenen Ge-
schäfte; §. 210 der Concursordnung.

Der wegen Banke-
rotts
verurtheilte Angeklagte hat den größten Theil seiner Waaren
im Umherfahren auf dem Lande abgesetzt, daneben aber ein offenes
Stadtgeschäft gehabt, bei welchem sich sein Waarenlager befand.
Diesem von ihm betriebenen Geschäfte war im ganzen die Eigen-
schaft des Hausirhandels nicht beizulegen, vielmehr ist es als
ein einheitliches gemischtes Handelsgeschäft aufzufassen,
welches zum Theil, nämlich soweit der Geschäftsbetrieb in der
stehenden Handelsniederlassung stattfand, nicht unter die Ausnahme-
vorschrift des Art. 10 des Handelsgesetzbuches fiel. Für ein ge-
mischtes Geschäft dieser Art muß aber der Satz aufgestellt werden,
daß dasselbe in seiner Totalität die kaufmännische
Buchführungspflicht
mit sich bringt. Denn der Art. 10 des
Handelsgesetzbuches, welcher diese Pflicht beim Höker-, Trödler-
und Hausirgewerbe erläßt, statuirt nur Ausnahmen, und außer-
halb derselben greift die allgemeine Regel Platz, daß derjenige,
welcher durch den Betrieb von Handelsgeschäften Kaufmann ist,
Bücher zu führen hat. Eine Ausnahme würde nur dann anzu-
nehmen sein, wenn das nicht unter Art. 10 fallende Geschäft in
der Weise den Schwerpunkt des ganzen Gewerbes bilden würde,
daß der übrige Geschäftsbetrieb jeder eigenen Selbständigkeit ent-
behrte, was bei den Geschäftsverhältnissen des Angeklagten nicht
der Fall war. Urtheil vom 6. October 1890.



Für den Weihnachtstisch.
IV.
Illustrirte Werke.

[&#xfffc;] Aus den Skizzenbüchern des leider schon am 22. October
1883 zu Frankfurt verstorbenen Albert Hendschel treten immer
noch neue Blätter zu Tage als selbstredende Zeugen, wie ernstlich
der Künstler sein Motto "Nulla dies sine linea" ausgeführt
habe. Die neueste Sammlung "Allerlei aus Hendschels
Skizzenmappen" (in vierzig Lichtdrucken von Martin Rommel u. Co.
in Stuttgart, Verlag von M. Hendschel, Frankfurt a. M.) scheint
absichtlich in die Jugendzeit des Zeichners zurückgegriffen zu haben,
um uns in den Bildungsgang desselben einen Einblick zu gönnen.
Hiebei macht sich ein Hang zur Caricatur bemerklich, welcher sehr
bald zur scharfen Charakteristik und schließlich zur wahrhast künstle-
rischen Gestaltung führte. Aus der ersten Periode des Zeichners
scheinen das häßliche, weinerliche Kind, die Straßenkehrer, die
Currendschüler aus Eisenach, die Gothaer Bäuerinnen und Alten-
burger Mädchen, die Zuckerwasser trinkende Lordschaft, einige
Soldatenbilder, der Vogelschütz und Sonntagsreiter und mehrere
ganz dilettantisch gezeichnete Katzen- und Menschenportraits zu
stammen. In die zweite Periode setzen wir: die Bilder betrachten-
den Kunstenthusiasten, die malenden Damen, den Eurszettel
studirenden Bankier, den Familienvater mit seiner Brut (25), die
construirten Gesichter (26) u. s. w. Den Uebergang bilden das
Scheibenbild vom Frankfurter Schützenfest 1863 mit den "Tiroler
Schmerzenskindern" (10), die Frankfurter Jugendwehr (20), der
Traum des Studiosen, die eines Vautier würdige Schwarzwälderin
aus Gutach (30), die Dame mit dem Rosenstock und der Cactus-
Philister (36) und die puppenspielenden Mädchen (17). Zum
echtesten "Hendschel" aber, wie wir ihn heutzutage kennen und
lieben, hat er sich geglättet und abgeklärt mit den graciösen, an
den "kleinen Augenarzt" erinnernden Rococo-Kindern (27), mit
der ihr verirrtes Lamm heimtragenden Hirtin (28) und der "Am
Ziele" betitelten Einkehr des altersmüden Wanderers an der
Klosterpforte (40): freilich nur "Skizzen", aber in ihrer Weise un-
vergängliche Perlen.

Der junge, originell aufstrebende Alexander Zick, welcher
durch zahlreiche Illustrationen zu Goethe's Gedichten, zu Bruck-
manns "Deutschen Lieblingsdichtern", zu Bodenstedts "Sakuntala"
rasch einen gediegenen Namen errang, hat nun auch das von
Albert Goldschmidt zu Berlin als Prachtausgabe ausgestattete
"Käthchen von Heilbronn" (Berlin, 1890, bei A. Gold-
schmidt, 90 S. 4°) mit Bildern geschmückt. Dieses ehedem Epoche
machende Drama unsres Heinrich v. Kleist, welches ein Jahr vor
dem Tode des Dichters (1811) zuerst über die Bretter ging und
sich seither immerdar darauf behauptete, eine ganze, theilweise so-
gar scharf polemische Literatur im Gefolge hatte, neuestens gerade
in der Allg. Ztg. eine überraschend neue Beleuchtung erfuhr (durch
Dr. Carl du Prel im Morgenblatt Nr. 320 vom 18. Nov.) und
demnächst nach Kleists ursprünglichem Entwurse wieder inscenirt
werden soll, hat somit eine artistische Ausstattung erhalten, welche
in ihrer Weise den Illustrationen Adolf Menzels zum "Zer-
brochenen Krug", diesem problematischen Lustspiele Kleists, in eben-
[Spaltenumbruch] bürtigster Fassung zur Seite geht. Acht Vollbilder (in Lichtdruck
von Martin Rommel in Stuttgart) und 18 Vignetten in Holz-
schnitt zieren das Ganze.

Gleichfalls mit acht Vollbildern, dann aber noch reicher, mit
58 großen Holzschnitten nach Compositionen des unermüdlichen
P. Grot Johann ausgestattet, erschien Julius Wolffs be-
kannter Romanzen-Cyklus "Lurlei" (Berlin, 1890, Grote.
166 doppelspaltige Seiten 4°). Der Maler geht hier mit dem
Dichter in erfreulichster, congenialer Weise Hand in Hand, Bild
und Wort decken sich vollkommen.

Als ein in seiner Art gewiß unerhörtes Werk, bei welchem
Kunst und Schönheit im voraus keinen Antheil hatten, sondern
nur der willkürlichste Zufall und die groteskeste Phantasterei sich
die Hände boten, präsentiren sich die "Kleksographien" des
liebenswürdigen Dichters Justinus Kerner, welche, nachdem
ihr Verfasser schon 1857 die Vorrede dazu geschrieben, erst jetzt,
lange nach seinem am 22. Februar 1862 erfolgten Tode, in
treuester Reproduction vor die Oeffentlichkeit treten (Stuttgart,
Deutsche Verlagsanstalt. VII und 79 S. gr. 8°). Die Technik,
durch Zerdrücken von kleinen färbenden Beeren, Fliegenköpfen oder
willkürlichen Kritzeleien und Tintenflecken zwischen zusammen-
gefalztem Papier unförmliche Phantome herzustellen, welche durch
wenige charakteristische Federstriche zum gehörigen Ausdruck gebracht
werden, ist ein uraltes Vorrecht unsrer Jugend. Justinus Kerner
kam in seinen alten Tagen durch die beim Schreiben unwillkürlich
unterlaufenden Klekse wieder darauf, dergleichen durch möglichst
wenige Zuthaten seiner des Zeichnens ganz unkundigen Hand
weiter zu bilden. Proben dieser Art, welche Kerner mit er-
läuternden Versen an seinen Freund, den edlen Grafen Franz
Pocci, nach München sendete, erregten dessen Theilnahme. Beide
wetteiferten nun in den tollsten Erfindungen, wobei Pocci, der mit
seiner leichtbeschwingten Hand in Caricaturen so geistreiche Blätter
lieferte und damit den gepreßten Blumen der "Viola tricolor"
Aehnliches leistete, auf den Einfall gerieth, diese "schwarze Kunst"
mit zeitgemäßer Namenbildung zur "Kleksographie" zu erheben.
Dem momentanen Zufall ist natürlich Thür und Thor geöffnet;
Niemand kann im voraus ahnen, was bei Entfaltung des Papiers
zum Vorschein kommen kann: gewiß immer etwas Ungeheuerliches,
was dann zu Drachen, Schmetterlingen, Gerippen, Käfern und
Würmern werden kann, was zu arm- und kopflosen Menschen, Skeletten,
Südsee-Insulaner-Götzen- und mexicanischen Fratzen-Bildern und
Diablerien aller Art promovirt werden kann, wenn eine geschickte
Hand in adäguater Weise das Fehlende ergänzt. Keine "Aesthetik"
weiß von dieser "Kunst" zu berichten, bei welcher Phantasie, Witz,
Laune und Geist ebenso wie bei jeder anderen Invention zu Ge-
vatter stehen müssen; dabei ergibt sich regelmäßig die Erfahrung,
daß Dilettanten mit überraschenden Resultaten zu excelliren ver-
mögen, während ein guter Zeichner die Formfehler des vorliegen-
den wechselbalgartigen Problems selten bemeistern kann. Kerners
kleksographische Blättchen wurden bald von Freunden aus der Nähe
und Ferne als Albumblätter erbeten, gesammelt und in Verkehr
gebracht; der mit seiner bekannten Güte hiezu immer bereite
Dichter begleitete die Gabe dann mit exegisirenden Versen, welche
den Geisterspuk weiter spannen und in drolligster, oft auch in tief-
[Spaltenumbruch] sinnigster Beziehung die Genesis des Werkes darlegten. So ent-
sinnt sich Ihr Berichterstatter eines gräulichen Ungeheuers, worunter
Kerner die erläuternden Reime gesetzt hatte:

"Ich hab' gezeichnet Dir im Traum,
Und dabei stark geschwitzt,
Den Kobold, welcher auf dem Baum
Vor meinem Häuschen sitzt."

Die ganze Tiefinnerlichkeit seines Wesens spricht aus den Zeilen,
welche der Dichter unter einen veritablen Papillon schried:

"Aus Tintenflecken ganz gering
Entstand der schöne Schmetterling:
Zur gleichen Wandelung ich empfehle
Gott meine fleckenvolle Seele!"

Es sind oft sehr grufelige Bestien, wahre "Hadesbilder" und
fratziger Spuk, welche Kerner auch mittelst des Kaffesatzes ge-
wann, wie denn auch Wilhelm Kaulbach mit solchen "Kaffee-
bildern" zu experimentiren liebte. Was Justinus Kerner aus dem
Tintenfasse kriechen läßt, ist immer von poetischer Fassung begleitet,
in welcher ein Callot-Hoffmann'scher Geist spukt; man erkennt den
Dichter der "Reiseschatten", welcher als Magus und Teufels-
beschwörer ohnehin gern an der Geisterwelt anklopste. Ein gräu-
liches Ungeziefer dieser Art wird also angesungen:

"Eine Geistin ist dieses, die im Leben einst ganz
Einzig gelebt hat für Spiel und für Tanz;
Sie hatte kein Herz, hat auch keines gekannt,
Als das Herz auf der Karte, Coeur-Aß benannt.
In den Spiel-, in den Tanzsaal -- in den Vetsaal doch nie
Trugen die luftigen Füße sie,
Nach dem Tode ein Lustgeist, in Lüften stumm
Wirbelt sie ohne Tänzer herum,
Sie wirbelt im Regen, sie wirbelt im Schnee,
Oft hört man im Sturmwind sie rufen: Weh! weh!"

Die reichlich mit Reproductionen nach alten Holz-
schnitten, Initialen und Bildern ausgestattete "Historie von
S. Quirinus"
(München, 1890, bei Huttler-Fischer. 113 S. 8°),
welche bereits im Morgenblatt Nr. 161 der Allg. Ztg. vom
12. Juni in eingehender Weise besprochen wurde, liegt jetzt schon
in zweiter, durch weitere fleißige Nachträge und Annotationen ver-
mehrter Auflage vor. Der Ertrag dieser schönen, wissenschaftlichen,
aber in populäre Form gekleideten Arbeit ist zum Besten des
Spitals in Tegernsee bestimmt.

Von derselben Hand (A. R.) und im gleichen Verlag, aus-
gestattet mit Bildern, Liedern und den echten alten Singweisen,
erschien ein "Weihnachtsgruß eines Münchener Kindl an Mün-
chener und andere Kindeln groß und klein" (45 S. 12°), mit der
Geschichte eines aus der ehemaligen Augustiner-Kirche stammenden, nun
im sogenannten "Bürgersaal" aufbewahrten, einen "Bambino" vor-
stellenden Sculpturbildes. Dabei sind alle früheren im Advent
üblichen Gebräuche und Lieder, wie das "Ansingen", "Klöpfeln",
"Herbergsuchen", in culturhistorischen Betracht gezogen, so daß das
Büchlein auch über die Grenzen des Münchener Weichbildes
hinaus Interesse finden wird.



1) Recneil de rapports sur les conditions du travail dans
les pays etrangers adresses au Ministre des Affaires Etrangeres.
Suisse. Berger-Levrault et Cie. Paris, Nancy 1890. pp. 81.
Donnerſtag, Drittes Morgenblatt, Nr. 336 der Allgemeinen Zeitung. 4. December 1890.


Inhalts-Ueberſicht.
Die Arbeiterfrage in der Schweiz. — Rechtſprechung des
Reichsgerichts. — Für den Weihnachtstiſch.
(IV.)

Die Arbeiterfrage in der Schweiz.1)

Hr. Ribot, Miniſter des Aus-
wärtigen, hatte vor einigen Monaten ſeine Vertreter in Deutſch-
land, Oeſterreich-Ungarn, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden
und Norwegen, Spanien, Portugal, Italien, der Schweiz, Eng-
land, Rußland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika
aufgefordert, ihm einen eingehenden Bericht über den Stand der
Arbeiterfrage in den betreffenden Ländern einzuſenden. Es liegt
uns nun die intereſſante Arbeit des franzöſiſchen Botſchafters in
Bern, Hrn. Emanuel Arago, vor, auf die wir die Aufmerkſamkeit
der Leſer dieſes Blattes lenken wollen.

Die Schrift zerfällt in zwei Haupttheile. Im erſteren wird
von den Arbeitervereinen, den Strikes, den Handwerkerſchulen, den
Arbeiterwohnungen und den Volksbanken gehandelt; der zweite
beſchäftigt ſich namentlich mit der Arbeitergeſetzgebung und den
Reformen, welche auf dieſelbe Bezug haben.

Hr. Arago hebt im Eingange mit Recht hervor, daß die in
der Schweiz herrſchende größere Einfachheit der Sitten und der
Mangel an Großſtädten dem Arbeiter und ſelbſt dem Bauern die
Diſtanz weniger fühlbar machen, welche ſie von den ſogenannten
leitenden Claſſen der Geſellſchaft trennt. Dazu kommen die bis
in die unterſten Volksſchichten verbreitete Bildung, die Decentrali-
ſirung der öffentlichen Gewalten und die ſeit langem beſtehende
freiheitliche Geſetzgebung — Elemente, welche es dem ſchweizeriſchen
Arbeiter leichter machen, als ſeinen Collegen in den übrigen
Ländern, die für die Verbeſſerung ſeines Standes wünſchens-
werthen Reformen auf friedlichem Wege durchzuſetzen; die
ſchweizeriſchen Arbeiter ſeien in dieſer Hinſicht den engliſchen zu
vergleichen. Mit einem Worte: die Arbeiter fühlen ſich in der
helvetiſchen Republik zur internationalen Socialdemokratie nicht
ſonderlich hingezogen und in der That beſtehen die anarchiſtiſchen
Gefellſchaften in Zürich und Genf zumeiſt aus Nuſſen, Polen,
Deutſchen und anderen Ausländern.

Das Aſſociationsweſen in der Schweiz iſt ein ſehr reich ent-
wickeltes. Schon im Jahre 1867 zählte man mehr als 4000 Ge-
ſellſchaften und Vereine aller Art. Die Baſeler Genoſſenſchaft,
welche im Jahre 1770 begründet wurde, iſt die wichtigſte von
allen: ſie zählt ungefähr 2000 Mitglieder. Nach ihr kommt die
Züricher, welche Filialen in der ganzen Schweiz zählt. Ihr
Vereinsorgan iſt die Schweizeriſche Revue (vgl. Renée Lavollée,
Les Classes ouvrières en Suisse. Paris, Guillaumin,
1882).

Der eigentliche ſchweizeriſche Arbeiterverein aber iſt der
Grütli-Verein, der im Jahre 1830 in Genf gegründet und am
20. Mai 1838 auf ernſten Grundlagen aufgebaut wurde. Nach
einer Kriſis im Jahre 1868 raffte ſich der Verein bald wieder
auf und zählte in den Jahren 1880—1885 200 Sectionen und
7000 wirkliche Mitglieder. Die Jahresbeiträge beliefen ſich auf
70,000 bis 80,000 Francs. Am 30. September 1889 hatte der
Grütli-Verein 301 Sectionen und 15,520 wirkliche Mitglieder;
die Jahresbeiträge beliefen ſich auf 170,000 Francs und der
Reſervefonds erreichte die Höhe von 225,000 Francs. Die
Arbeiter der meiſten ſchweizeriſchen Fabriken gehören dieſem Verein
an. Ihr Zweck iſt die allmäbliche Erreichung eines Ideals politi-
ſcher und ſocialer Gleichheit aller Bürger und der Sieg der echten
Demokratie in ſämmtlichen Cantonen. Die Deviſe des Grütli-
Bereins iſt: „Durch Bildung zur Freiheit.“

Der Verein iſt fehr patriotiſch, er läßt Fremde nur als
[Spaltenumbruch] außerordentliche Mitglieder zu. Er hatte im Anfange nur zwei
publiciſtiſche Organe, von denen das eine, Le Grütli, in franzöſi-
ſcher Sprache geſchrieben iſt. In der officiellen Statiſtik wird der
Verein unter den „Vaterländiſchen politiſchen Vereinen“ aufgezählt.
Der Grütli-Verein hat einen hervorragend deutſchen Charakter; von
den 301 Sectionen befinden ſich bloß 40 auf dem Boden der
franzöſiſchen Schweiz. Der gegenwärtige Sitz des Centralcomités
iſt St. Gallen; dasſelbe beſteht aus einem Präſidenten, einem
Vicepräſidenten, 4 Secretären, einem Buchführer, einem Caſſier
und einem Archivar. Dem Centralcomité ſtehen zur Seite eine Control-
commiſſion und ein Specialcomité, die ſich namentlich mit der Auf-
ſtellung des politiſch-ſocialen Programmes zu beſchäftigen haben.

Hr. Arago prophezeit dem Grütli-Vereine ein große Zukunft
und hält es für möglich, daß er die Verbeſſerung des Looſes der
Arbeiterclaſſe im demokratiſchen Sinne erreichen werde. Der
Verein zählt warme Vertheidiger in den Reihen des Bundesrathes,
der Publiciſtik, der Nationalökonomen ꝛc. Der Einfluß des Grütli-
Vereines iſt ein ſo hervorragender, daß die Bundesregierung ſich
im Jahre 1887 veranlaßt geſehen hat, das „ſchweizeriſche Arbeiter-
ſecretariat“ zu gründen, welches die Centraliſirung der geſammten
ſchweizeriſchen Arbeiterclaſſe ermöglichte. Der würdige Secretär,
Hr. Greulich, wurde heuer für drei Jahre wiedergewählt. Sein
Mitarbeiter iſt Dr. Kozak, Privatdocent an der Züricher Polytech-
niſchen Hochſchule, bekannt durch ſeine Schriften über die Arbeiter-
verſicherungs-Geſetzgebung in Deutſchland.

Den beiden genannten publiciſtiſchen Organen in deutſcher
und franzöſiſcher Sprache geſellte ſich bald eines in italieniſcher
Sprache hinzu: Il lavoratore, welches in Lugano erſcheint. Der
Grütli-Verein arbeitet jetzt mit Hülfe ſeiner drei Organe daran, eine
parallele Genoſſenſchaft der Arbeitgeber zu gründen, da er ſich klar
darüber iſt, daß eine Löſung der Arbeiterfrage im friedlichen Sinne
ohne Zuſtimmung jener unmöglich iſt.

Der franzöſiſche Botſchafter entwirft in einem beſonderen Ab-
ſchnitte eine Statiſtik der Bevölkerung der Schweiz nach ihren
Berufsclaſſen. Von den 2,933,334 Einwohnern (1. Dec. 1888)
ſind 1,170,000 Ackerbauer, 1,060,000 Induſtrielle, 320,000 Kauf-
leute, 115,000 Verwaltungsbeamte und Lehrer, 30,000 Bedienſtete,
160,000 ohne beſtimmte Profeſſion.

Die Schweiz zählt 3786 der Inſpicirung unterworfene Fabriken,
welche 160,000 Arbeiter beſchäftigen, darunter 86,532 Männer und
73,011 Frauen.

Die politiſche Unabhängigkeit des ſchweizeriſchen Arbeiters iſt
eine abſolute. Es werden die peinlichſten Vorſichtsmaßregeln ge-
troffen, um ſeinem Votum bei den geſetzgebenden Wahlen den
Charakter der geheimen Abſtimmung zu wahren.

Der franzöſiſche Botſchafter conſtatirt mit ſichtlichem Ver-
gnügen, daß es in der ſchweizeriſchen Geſellſchaft keinen Unter-
ſchied zwiſchen Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten
gibt, und daß der Kaſtengeiſt, der in den meiſten anderen euro-
päiſchen Ländern herrſche, in der Schweiz unbekannt ſei.

Hr. Arago bemerkt, daß trotz der Züricher Bombenaffaire
und dem Vorfalle Wohlgemuth gegen die in der Schweiz arbeiten-
den Fremden keine Gehäſſigkeit herrſche, daß aber immerhin der
Bundesrath ſeitdem eine reſervirtere Haltung einnehme.

Aus dem Capitel über die Arbeiterwohnungen iſt die Be-
merkung Arago’s hervorzuheben, in welcher er die Hoffnung aus-
ſpricht, daß, wenn eines Tages der Staat der Generalverſicherer
der Bevölkerung ſein werde, die Wohnungen und überbaupt die
Exiſtenzbedingungen der arbeitenden Claſſe einer noch ſtrengeren
Controle, als bisher, werden unterworfen werden. Im allgemeinen
verfügt der ſchweizeriſche Arbeiter, fährt der franzöſiſche Botſchafter
in ſeinem Berichte fort, über eine geſunde Wohnung, iſt jedoch
nur in feltenen Fällen Hauseigenthümer. Dieſes Ideal ſei eben
bei dem hohen Preiſe des Terrains in den induſtriellen Centren
leider nicht zu erreichen. Mehrere Geſellſchaften, wie die 1860
[Spaltenumbruch] gegründete Société de construction von Lauſanne, die Associa-
tion immobilière
in Genf ꝛc. bauten viele Hunderte Arbeiter-
häuſer mit billigen Wohnungen.

Was die Conſumvereine betrifft, ſo wurde der erſte 1802 in
Baſel gegründet. Heute zählt der Züricher Canton allein ihrer
mehr als 100. Die Actienbäckereien, die Familienfleiſchhauereien ꝛc.
erweiſen den Arbeitern, zumal zur Zeit von Arbeiterkriſen, ganz
bedeutende Dienſte. Im Winter wird unter die armen Arbeiter
Heizmaterial unentgeltlich oder doch zu ſehr billigen Preiſen ver-
theilt. Es gibt zahlreiche unentgeltliche warme Badeanſtalten für
Arbeiter; daß dieſe im Sommer in allen Seen und Flüſſen frei
baden dürfen, iſt ſelbſtverſtändlich.

Auch für die Vergnügungen der Arbeiter iſt in hinlänglichem
Maße geſorgt. Mehrere Eiſenbahn- und Schifffahrtsgeſellſchaften
haben ſpecielle Arbeiterkarten für Sonntagsausflüge eingerichtet.
Eigene Vereine, wie die „Heimath“ in Zürich, bereiten den reiſen-
den Genoſſen eine gaſtfreundſchaftliche Aufnahme.

Der franzöſiſche Botſchafter ſchließt ſeinen Bericht mit der
Aufzählung folgender 7 Punkte, die nach den durch ihn einge-
zogenen Erkundigungen auf dem nächſten Arbeitercongreſſe im
Jahre 1891 in Erörterung gezogen werden dürften: 1. Reſultate
der Berliner Arbeiterconferenz, die Reſcripte Kaiſer Wilhelms, der
Widerſtand, der ſeitens der deutſchen Handelskammern den Re-
formen des Kaiſers geleiſtet wird; Maßnahmen, um dieſen Wider-
ſtand zu brechen. 2. Allgemeine Einführung der ſchweizeriſchen
Arbeitergenoſſenſchaften. 3. Allgemeine Einführung des Syſtems
der Pariſer Arbeitsbörfe. 4. Die Frage der obligatoriſchen Ver-
ſicherung. Die Reſultate ihrer Functionirung in Deutſchland.
5. Arbeiterſyndikate. Einheitliche Regelung ihrer Beziehungen zum
Staate und zu den capitaliſtiſchen Syndikaten. 6. Grundlinien
für ein gemeinſames politiſches Vorgehen: Die Frage des all-
gemeinen Stimmrechts in Belgien, Wahlreform in England,
Italien und Oeſterreich. 7. Syſtematiſchere Ausnützung der Welt-
ausſtellungen im Sinne der Arbeiter.

Wir wiſſen nicht, wie Vieles von dem hier Angeführten dem
Leſer bereits bekannt iſt; es iſt aber nach unſrer Anſicht immerhin
intereſſant, die Auffaſſung der officiellen Vertreter der franzöſiſchen
Republik über dieſe Fragen kennen zu lernen.



Rechtſprechung des Reichsgerichts.

[&#xfffc;] Verpflichtung zu kaufmänniſcher Buchführung
bei einem theilweiſe als Hauſirhandel betriebenen Ge-
ſchäfte; §. 210 der Concursordnung.

Der wegen Banke-
rotts
verurtheilte Angeklagte hat den größten Theil ſeiner Waaren
im Umherfahren auf dem Lande abgeſetzt, daneben aber ein offenes
Stadtgeſchäft gehabt, bei welchem ſich ſein Waarenlager befand.
Dieſem von ihm betriebenen Geſchäfte war im ganzen die Eigen-
ſchaft des Hauſirhandels nicht beizulegen, vielmehr iſt es als
ein einheitliches gemiſchtes Handelsgeſchäft aufzufaſſen,
welches zum Theil, nämlich ſoweit der Geſchäftsbetrieb in der
ſtehenden Handelsniederlaſſung ſtattfand, nicht unter die Ausnahme-
vorſchrift des Art. 10 des Handelsgeſetzbuches fiel. Für ein ge-
miſchtes Geſchäft dieſer Art muß aber der Satz aufgeſtellt werden,
daß dasſelbe in ſeiner Totalität die kaufmänniſche
Buchführungspflicht
mit ſich bringt. Denn der Art. 10 des
Handelsgeſetzbuches, welcher dieſe Pflicht beim Höker-, Trödler-
und Hauſirgewerbe erläßt, ſtatuirt nur Ausnahmen, und außer-
halb derſelben greift die allgemeine Regel Platz, daß derjenige,
welcher durch den Betrieb von Handelsgeſchäften Kaufmann iſt,
Bücher zu führen hat. Eine Ausnahme würde nur dann anzu-
nehmen ſein, wenn das nicht unter Art. 10 fallende Geſchäft in
der Weiſe den Schwerpunkt des ganzen Gewerbes bilden würde,
daß der übrige Geſchäftsbetrieb jeder eigenen Selbſtändigkeit ent-
behrte, was bei den Geſchäftsverhältniſſen des Angeklagten nicht
der Fall war. Urtheil vom 6. October 1890.



Für den Weihnachtstiſch.
IV.
Illuſtrirte Werke.

[&#xfffc;] Aus den Skizzenbüchern des leider ſchon am 22. October
1883 zu Frankfurt verſtorbenen Albert Hendſchel treten immer
noch neue Blätter zu Tage als ſelbſtredende Zeugen, wie ernſtlich
der Künſtler ſein Motto „Nulla dies sine linea“ ausgeführt
habe. Die neueſte Sammlung „Allerlei aus Hendſchels
Skizzenmappen“ (in vierzig Lichtdrucken von Martin Rommel u. Co.
in Stuttgart, Verlag von M. Hendſchel, Frankfurt a. M.) ſcheint
abſichtlich in die Jugendzeit des Zeichners zurückgegriffen zu haben,
um uns in den Bildungsgang desſelben einen Einblick zu gönnen.
Hiebei macht ſich ein Hang zur Caricatur bemerklich, welcher ſehr
bald zur ſcharfen Charakteriſtik und ſchließlich zur wahrhaſt künſtle-
riſchen Geſtaltung führte. Aus der erſten Periode des Zeichners
ſcheinen das häßliche, weinerliche Kind, die Straßenkehrer, die
Currendſchüler aus Eiſenach, die Gothaer Bäuerinnen und Alten-
burger Mädchen, die Zuckerwaſſer trinkende Lordſchaft, einige
Soldatenbilder, der Vogelſchütz und Sonntagsreiter und mehrere
ganz dilettantiſch gezeichnete Katzen- und Menſchenportraits zu
ſtammen. In die zweite Periode ſetzen wir: die Bilder betrachten-
den Kunſtenthuſiaſten, die malenden Damen, den Eurszettel
ſtudirenden Bankier, den Familienvater mit ſeiner Brut (25), die
conſtruirten Geſichter (26) u. ſ. w. Den Uebergang bilden das
Scheibenbild vom Frankfurter Schützenfeſt 1863 mit den „Tiroler
Schmerzenskindern“ (10), die Frankfurter Jugendwehr (20), der
Traum des Studioſen, die eines Vautier würdige Schwarzwälderin
aus Gutach (30), die Dame mit dem Roſenſtock und der Cactus-
Philiſter (36) und die puppenſpielenden Mädchen (17). Zum
echteſten „Hendſchel“ aber, wie wir ihn heutzutage kennen und
lieben, hat er ſich geglättet und abgeklärt mit den graciöſen, an
den „kleinen Augenarzt“ erinnernden Rococo-Kindern (27), mit
der ihr verirrtes Lamm heimtragenden Hirtin (28) und der „Am
Ziele“ betitelten Einkehr des altersmüden Wanderers an der
Kloſterpforte (40): freilich nur „Skizzen“, aber in ihrer Weiſe un-
vergängliche Perlen.

Der junge, originell aufſtrebende Alexander Zick, welcher
durch zahlreiche Illuſtrationen zu Goethe’s Gedichten, zu Bruck-
manns „Deutſchen Lieblingsdichtern“, zu Bodenſtedts „Sakuntala“
raſch einen gediegenen Namen errang, hat nun auch das von
Albert Goldſchmidt zu Berlin als Prachtausgabe ausgeſtattete
„Käthchen von Heilbronn“ (Berlin, 1890, bei A. Gold-
ſchmidt, 90 S. 4°) mit Bildern geſchmückt. Dieſes ehedem Epoche
machende Drama unſres Heinrich v. Kleiſt, welches ein Jahr vor
dem Tode des Dichters (1811) zuerſt über die Bretter ging und
ſich ſeither immerdar darauf behauptete, eine ganze, theilweiſe ſo-
gar ſcharf polemiſche Literatur im Gefolge hatte, neueſtens gerade
in der Allg. Ztg. eine überraſchend neue Beleuchtung erfuhr (durch
Dr. Carl du Prel im Morgenblatt Nr. 320 vom 18. Nov.) und
demnächſt nach Kleiſts urſprünglichem Entwurſe wieder inſcenirt
werden ſoll, hat ſomit eine artiſtiſche Ausſtattung erhalten, welche
in ihrer Weiſe den Illuſtrationen Adolf Menzels zum „Zer-
brochenen Krug“, dieſem problematiſchen Luſtſpiele Kleiſts, in eben-
[Spaltenumbruch] bürtigſter Faſſung zur Seite geht. Acht Vollbilder (in Lichtdruck
von Martin Rommel in Stuttgart) und 18 Vignetten in Holz-
ſchnitt zieren das Ganze.

Gleichfalls mit acht Vollbildern, dann aber noch reicher, mit
58 großen Holzſchnitten nach Compoſitionen des unermüdlichen
P. Grot Johann ausgeſtattet, erſchien Julius Wolffs be-
kannter Romanzen-Cyklus „Lurlei“ (Berlin, 1890, Grote.
166 doppelſpaltige Seiten 4°). Der Maler geht hier mit dem
Dichter in erfreulichſter, congenialer Weiſe Hand in Hand, Bild
und Wort decken ſich vollkommen.

Als ein in ſeiner Art gewiß unerhörtes Werk, bei welchem
Kunſt und Schönheit im voraus keinen Antheil hatten, ſondern
nur der willkürlichſte Zufall und die groteskeſte Phantaſterei ſich
die Hände boten, präſentiren ſich die „Klekſographien“ des
liebenswürdigen Dichters Juſtinus Kerner, welche, nachdem
ihr Verfaſſer ſchon 1857 die Vorrede dazu geſchrieben, erſt jetzt,
lange nach ſeinem am 22. Februar 1862 erfolgten Tode, in
treueſter Reproduction vor die Oeffentlichkeit treten (Stuttgart,
Deutſche Verlagsanſtalt. VII und 79 S. gr. 8°). Die Technik,
durch Zerdrücken von kleinen färbenden Beeren, Fliegenköpfen oder
willkürlichen Kritzeleien und Tintenflecken zwiſchen zuſammen-
gefalztem Papier unförmliche Phantome herzuſtellen, welche durch
wenige charakteriſtiſche Federſtriche zum gehörigen Ausdruck gebracht
werden, iſt ein uraltes Vorrecht unſrer Jugend. Juſtinus Kerner
kam in ſeinen alten Tagen durch die beim Schreiben unwillkürlich
unterlaufenden Klekſe wieder darauf, dergleichen durch möglichſt
wenige Zuthaten ſeiner des Zeichnens ganz unkundigen Hand
weiter zu bilden. Proben dieſer Art, welche Kerner mit er-
läuternden Verſen an ſeinen Freund, den edlen Grafen Franz
Pocci, nach München ſendete, erregten deſſen Theilnahme. Beide
wetteiferten nun in den tollſten Erfindungen, wobei Pocci, der mit
ſeiner leichtbeſchwingten Hand in Caricaturen ſo geiſtreiche Blätter
lieferte und damit den gepreßten Blumen der „Viola tricolor“
Aehnliches leiſtete, auf den Einfall gerieth, dieſe „ſchwarze Kunſt“
mit zeitgemäßer Namenbildung zur „Klekſographie“ zu erheben.
Dem momentanen Zufall iſt natürlich Thür und Thor geöffnet;
Niemand kann im voraus ahnen, was bei Entfaltung des Papiers
zum Vorſchein kommen kann: gewiß immer etwas Ungeheuerliches,
was dann zu Drachen, Schmetterlingen, Gerippen, Käfern und
Würmern werden kann, was zu arm- und kopfloſen Menſchen, Skeletten,
Südſee-Inſulaner-Götzen- und mexicaniſchen Fratzen-Bildern und
Diablerien aller Art promovirt werden kann, wenn eine geſchickte
Hand in adäguater Weiſe das Fehlende ergänzt. Keine „Aeſthetik“
weiß von dieſer „Kunſt“ zu berichten, bei welcher Phantaſie, Witz,
Laune und Geiſt ebenſo wie bei jeder anderen Invention zu Ge-
vatter ſtehen müſſen; dabei ergibt ſich regelmäßig die Erfahrung,
daß Dilettanten mit überraſchenden Reſultaten zu excelliren ver-
mögen, während ein guter Zeichner die Formfehler des vorliegen-
den wechſelbalgartigen Problems ſelten bemeiſtern kann. Kerners
klekſographiſche Blättchen wurden bald von Freunden aus der Nähe
und Ferne als Albumblätter erbeten, geſammelt und in Verkehr
gebracht; der mit ſeiner bekannten Güte hiezu immer bereite
Dichter begleitete die Gabe dann mit exegiſirenden Verſen, welche
den Geiſterſpuk weiter ſpannen und in drolligſter, oft auch in tief-
[Spaltenumbruch] ſinnigſter Beziehung die Geneſis des Werkes darlegten. So ent-
ſinnt ſich Ihr Berichterſtatter eines gräulichen Ungeheuers, worunter
Kerner die erläuternden Reime geſetzt hatte:

„Ich hab’ gezeichnet Dir im Traum,
Und dabei ſtark geſchwitzt,
Den Kobold, welcher auf dem Baum
Vor meinem Häuschen ſitzt.“

Die ganze Tiefinnerlichkeit ſeines Weſens ſpricht aus den Zeilen,
welche der Dichter unter einen veritablen Papillon ſchried:

„Aus Tintenflecken ganz gering
Entſtand der ſchöne Schmetterling:
Zur gleichen Wandelung ich empfehle
Gott meine fleckenvolle Seele!“

Es ſind oft ſehr grufelige Beſtien, wahre „Hadesbilder“ und
fratziger Spuk, welche Kerner auch mittelſt des Kaffeſatzes ge-
wann, wie denn auch Wilhelm Kaulbach mit ſolchen „Kaffee-
bildern“ zu experimentiren liebte. Was Juſtinus Kerner aus dem
Tintenfaſſe kriechen läßt, iſt immer von poetiſcher Faſſung begleitet,
in welcher ein Callot-Hoffmann’ſcher Geiſt ſpukt; man erkennt den
Dichter der „Reiſeſchatten“, welcher als Magus und Teufels-
beſchwörer ohnehin gern an der Geiſterwelt anklopſte. Ein gräu-
liches Ungeziefer dieſer Art wird alſo angeſungen:

„Eine Geiſtin iſt dieſes, die im Leben einſt ganz
Einzig gelebt hat für Spiel und für Tanz;
Sie hatte kein Herz, hat auch keines gekannt,
Als das Herz auf der Karte, Coeur-Aß benannt.
In den Spiel-, in den Tanzſaal — in den Vetſaal doch nie
Trugen die luftigen Füße ſie,
Nach dem Tode ein Luſtgeiſt, in Lüften ſtumm
Wirbelt ſie ohne Tänzer herum,
Sie wirbelt im Regen, ſie wirbelt im Schnee,
Oft hört man im Sturmwind ſie rufen: Weh! weh!“

Die reichlich mit Reproductionen nach alten Holz-
ſchnitten, Initialen und Bildern ausgeſtattete „Hiſtorie von
S. Quirinus“
(München, 1890, bei Huttler-Fiſcher. 113 S. 8°),
welche bereits im Morgenblatt Nr. 161 der Allg. Ztg. vom
12. Juni in eingehender Weiſe beſprochen wurde, liegt jetzt ſchon
in zweiter, durch weitere fleißige Nachträge und Annotationen ver-
mehrter Auflage vor. Der Ertrag dieſer ſchönen, wiſſenſchaftlichen,
aber in populäre Form gekleideten Arbeit iſt zum Beſten des
Spitals in Tegernſee beſtimmt.

Von derſelben Hand (A. R.) und im gleichen Verlag, aus-
geſtattet mit Bildern, Liedern und den echten alten Singweiſen,
erſchien ein „Weihnachtsgruß eines Münchener Kindl an Mün-
chener und andere Kindeln groß und klein“ (45 S. 12°), mit der
Geſchichte eines aus der ehemaligen Auguſtiner-Kirche ſtammenden, nun
im ſogenannten „Bürgerſaal“ aufbewahrten, einen „Bambino“ vor-
ſtellenden Sculpturbildes. Dabei ſind alle früheren im Advent
üblichen Gebräuche und Lieder, wie das „Anſingen“, „Klöpfeln“,
„Herbergſuchen“, in culturhiſtoriſchen Betracht gezogen, ſo daß das
Büchlein auch über die Grenzen des Münchener Weichbildes
hinaus Intereſſe finden wird.



1) Recneil de rapports sur les conditions du travail dans
les pays étrangers adressés au Ministre des Affaires Etrangères.
Suisse. Berger-Levrault et Cie. Paris, Nancy 1890. pp. 81.
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&#x017F;tand zu brechen. 2. Allgemeine Einführung der &#x017F;chweizeri&#x017F;chen<lb/>
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[0009] Donnerſtag, Drittes Morgenblatt, Nr. 336 der Allgemeinen Zeitung. 4. December 1890. Inhalts-Ueberſicht. Die Arbeiterfrage in der Schweiz. — Rechtſprechung des Reichsgerichts. — Für den Weihnachtstiſch. (IV.) Die Arbeiterfrage in der Schweiz. 1) J. S. Paris, Ende Nov. Hr. Ribot, Miniſter des Aus- wärtigen, hatte vor einigen Monaten ſeine Vertreter in Deutſch- land, Oeſterreich-Ungarn, Belgien, Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen, Spanien, Portugal, Italien, der Schweiz, Eng- land, Rußland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika aufgefordert, ihm einen eingehenden Bericht über den Stand der Arbeiterfrage in den betreffenden Ländern einzuſenden. Es liegt uns nun die intereſſante Arbeit des franzöſiſchen Botſchafters in Bern, Hrn. Emanuel Arago, vor, auf die wir die Aufmerkſamkeit der Leſer dieſes Blattes lenken wollen. Die Schrift zerfällt in zwei Haupttheile. Im erſteren wird von den Arbeitervereinen, den Strikes, den Handwerkerſchulen, den Arbeiterwohnungen und den Volksbanken gehandelt; der zweite beſchäftigt ſich namentlich mit der Arbeitergeſetzgebung und den Reformen, welche auf dieſelbe Bezug haben. Hr. Arago hebt im Eingange mit Recht hervor, daß die in der Schweiz herrſchende größere Einfachheit der Sitten und der Mangel an Großſtädten dem Arbeiter und ſelbſt dem Bauern die Diſtanz weniger fühlbar machen, welche ſie von den ſogenannten leitenden Claſſen der Geſellſchaft trennt. Dazu kommen die bis in die unterſten Volksſchichten verbreitete Bildung, die Decentrali- ſirung der öffentlichen Gewalten und die ſeit langem beſtehende freiheitliche Geſetzgebung — Elemente, welche es dem ſchweizeriſchen Arbeiter leichter machen, als ſeinen Collegen in den übrigen Ländern, die für die Verbeſſerung ſeines Standes wünſchens- werthen Reformen auf friedlichem Wege durchzuſetzen; die ſchweizeriſchen Arbeiter ſeien in dieſer Hinſicht den engliſchen zu vergleichen. Mit einem Worte: die Arbeiter fühlen ſich in der helvetiſchen Republik zur internationalen Socialdemokratie nicht ſonderlich hingezogen und in der That beſtehen die anarchiſtiſchen Gefellſchaften in Zürich und Genf zumeiſt aus Nuſſen, Polen, Deutſchen und anderen Ausländern. Das Aſſociationsweſen in der Schweiz iſt ein ſehr reich ent- wickeltes. Schon im Jahre 1867 zählte man mehr als 4000 Ge- ſellſchaften und Vereine aller Art. Die Baſeler Genoſſenſchaft, welche im Jahre 1770 begründet wurde, iſt die wichtigſte von allen: ſie zählt ungefähr 2000 Mitglieder. Nach ihr kommt die Züricher, welche Filialen in der ganzen Schweiz zählt. Ihr Vereinsorgan iſt die Schweizeriſche Revue (vgl. Renée Lavollée, Les Classes ouvrières en Suisse. Paris, Guillaumin, 1882). Der eigentliche ſchweizeriſche Arbeiterverein aber iſt der Grütli-Verein, der im Jahre 1830 in Genf gegründet und am 20. Mai 1838 auf ernſten Grundlagen aufgebaut wurde. Nach einer Kriſis im Jahre 1868 raffte ſich der Verein bald wieder auf und zählte in den Jahren 1880—1885 200 Sectionen und 7000 wirkliche Mitglieder. Die Jahresbeiträge beliefen ſich auf 70,000 bis 80,000 Francs. Am 30. September 1889 hatte der Grütli-Verein 301 Sectionen und 15,520 wirkliche Mitglieder; die Jahresbeiträge beliefen ſich auf 170,000 Francs und der Reſervefonds erreichte die Höhe von 225,000 Francs. Die Arbeiter der meiſten ſchweizeriſchen Fabriken gehören dieſem Verein an. Ihr Zweck iſt die allmäbliche Erreichung eines Ideals politi- ſcher und ſocialer Gleichheit aller Bürger und der Sieg der echten Demokratie in ſämmtlichen Cantonen. Die Deviſe des Grütli- Bereins iſt: „Durch Bildung zur Freiheit.“ Der Verein iſt fehr patriotiſch, er läßt Fremde nur als außerordentliche Mitglieder zu. Er hatte im Anfange nur zwei publiciſtiſche Organe, von denen das eine, Le Grütli, in franzöſi- ſcher Sprache geſchrieben iſt. In der officiellen Statiſtik wird der Verein unter den „Vaterländiſchen politiſchen Vereinen“ aufgezählt. Der Grütli-Verein hat einen hervorragend deutſchen Charakter; von den 301 Sectionen befinden ſich bloß 40 auf dem Boden der franzöſiſchen Schweiz. Der gegenwärtige Sitz des Centralcomités iſt St. Gallen; dasſelbe beſteht aus einem Präſidenten, einem Vicepräſidenten, 4 Secretären, einem Buchführer, einem Caſſier und einem Archivar. Dem Centralcomité ſtehen zur Seite eine Control- commiſſion und ein Specialcomité, die ſich namentlich mit der Auf- ſtellung des politiſch-ſocialen Programmes zu beſchäftigen haben. Hr. Arago prophezeit dem Grütli-Vereine ein große Zukunft und hält es für möglich, daß er die Verbeſſerung des Looſes der Arbeiterclaſſe im demokratiſchen Sinne erreichen werde. Der Verein zählt warme Vertheidiger in den Reihen des Bundesrathes, der Publiciſtik, der Nationalökonomen ꝛc. Der Einfluß des Grütli- Vereines iſt ein ſo hervorragender, daß die Bundesregierung ſich im Jahre 1887 veranlaßt geſehen hat, das „ſchweizeriſche Arbeiter- ſecretariat“ zu gründen, welches die Centraliſirung der geſammten ſchweizeriſchen Arbeiterclaſſe ermöglichte. Der würdige Secretär, Hr. Greulich, wurde heuer für drei Jahre wiedergewählt. Sein Mitarbeiter iſt Dr. Kozak, Privatdocent an der Züricher Polytech- niſchen Hochſchule, bekannt durch ſeine Schriften über die Arbeiter- verſicherungs-Geſetzgebung in Deutſchland. Den beiden genannten publiciſtiſchen Organen in deutſcher und franzöſiſcher Sprache geſellte ſich bald eines in italieniſcher Sprache hinzu: Il lavoratore, welches in Lugano erſcheint. Der Grütli-Verein arbeitet jetzt mit Hülfe ſeiner drei Organe daran, eine parallele Genoſſenſchaft der Arbeitgeber zu gründen, da er ſich klar darüber iſt, daß eine Löſung der Arbeiterfrage im friedlichen Sinne ohne Zuſtimmung jener unmöglich iſt. Der franzöſiſche Botſchafter entwirft in einem beſonderen Ab- ſchnitte eine Statiſtik der Bevölkerung der Schweiz nach ihren Berufsclaſſen. Von den 2,933,334 Einwohnern (1. Dec. 1888) ſind 1,170,000 Ackerbauer, 1,060,000 Induſtrielle, 320,000 Kauf- leute, 115,000 Verwaltungsbeamte und Lehrer, 30,000 Bedienſtete, 160,000 ohne beſtimmte Profeſſion. Die Schweiz zählt 3786 der Inſpicirung unterworfene Fabriken, welche 160,000 Arbeiter beſchäftigen, darunter 86,532 Männer und 73,011 Frauen. Die politiſche Unabhängigkeit des ſchweizeriſchen Arbeiters iſt eine abſolute. Es werden die peinlichſten Vorſichtsmaßregeln ge- troffen, um ſeinem Votum bei den geſetzgebenden Wahlen den Charakter der geheimen Abſtimmung zu wahren. Der franzöſiſche Botſchafter conſtatirt mit ſichtlichem Ver- gnügen, daß es in der ſchweizeriſchen Geſellſchaft keinen Unter- ſchied zwiſchen Reichen und Armen, Gebildeten und Ungebildeten gibt, und daß der Kaſtengeiſt, der in den meiſten anderen euro- päiſchen Ländern herrſche, in der Schweiz unbekannt ſei. Hr. Arago bemerkt, daß trotz der Züricher Bombenaffaire und dem Vorfalle Wohlgemuth gegen die in der Schweiz arbeiten- den Fremden keine Gehäſſigkeit herrſche, daß aber immerhin der Bundesrath ſeitdem eine reſervirtere Haltung einnehme. Aus dem Capitel über die Arbeiterwohnungen iſt die Be- merkung Arago’s hervorzuheben, in welcher er die Hoffnung aus- ſpricht, daß, wenn eines Tages der Staat der Generalverſicherer der Bevölkerung ſein werde, die Wohnungen und überbaupt die Exiſtenzbedingungen der arbeitenden Claſſe einer noch ſtrengeren Controle, als bisher, werden unterworfen werden. Im allgemeinen verfügt der ſchweizeriſche Arbeiter, fährt der franzöſiſche Botſchafter in ſeinem Berichte fort, über eine geſunde Wohnung, iſt jedoch nur in feltenen Fällen Hauseigenthümer. Dieſes Ideal ſei eben bei dem hohen Preiſe des Terrains in den induſtriellen Centren leider nicht zu erreichen. Mehrere Geſellſchaften, wie die 1860 gegründete Société de construction von Lauſanne, die Associa- tion immobilière in Genf ꝛc. bauten viele Hunderte Arbeiter- häuſer mit billigen Wohnungen. Was die Conſumvereine betrifft, ſo wurde der erſte 1802 in Baſel gegründet. Heute zählt der Züricher Canton allein ihrer mehr als 100. Die Actienbäckereien, die Familienfleiſchhauereien ꝛc. erweiſen den Arbeitern, zumal zur Zeit von Arbeiterkriſen, ganz bedeutende Dienſte. Im Winter wird unter die armen Arbeiter Heizmaterial unentgeltlich oder doch zu ſehr billigen Preiſen ver- theilt. Es gibt zahlreiche unentgeltliche warme Badeanſtalten für Arbeiter; daß dieſe im Sommer in allen Seen und Flüſſen frei baden dürfen, iſt ſelbſtverſtändlich. Auch für die Vergnügungen der Arbeiter iſt in hinlänglichem Maße geſorgt. Mehrere Eiſenbahn- und Schifffahrtsgeſellſchaften haben ſpecielle Arbeiterkarten für Sonntagsausflüge eingerichtet. Eigene Vereine, wie die „Heimath“ in Zürich, bereiten den reiſen- den Genoſſen eine gaſtfreundſchaftliche Aufnahme. Der franzöſiſche Botſchafter ſchließt ſeinen Bericht mit der Aufzählung folgender 7 Punkte, die nach den durch ihn einge- zogenen Erkundigungen auf dem nächſten Arbeitercongreſſe im Jahre 1891 in Erörterung gezogen werden dürften: 1. Reſultate der Berliner Arbeiterconferenz, die Reſcripte Kaiſer Wilhelms, der Widerſtand, der ſeitens der deutſchen Handelskammern den Re- formen des Kaiſers geleiſtet wird; Maßnahmen, um dieſen Wider- ſtand zu brechen. 2. Allgemeine Einführung der ſchweizeriſchen Arbeitergenoſſenſchaften. 3. Allgemeine Einführung des Syſtems der Pariſer Arbeitsbörfe. 4. Die Frage der obligatoriſchen Ver- ſicherung. Die Reſultate ihrer Functionirung in Deutſchland. 5. Arbeiterſyndikate. Einheitliche Regelung ihrer Beziehungen zum Staate und zu den capitaliſtiſchen Syndikaten. 6. Grundlinien für ein gemeinſames politiſches Vorgehen: Die Frage des all- gemeinen Stimmrechts in Belgien, Wahlreform in England, Italien und Oeſterreich. 7. Syſtematiſchere Ausnützung der Welt- ausſtellungen im Sinne der Arbeiter. Wir wiſſen nicht, wie Vieles von dem hier Angeführten dem Leſer bereits bekannt iſt; es iſt aber nach unſrer Anſicht immerhin intereſſant, die Auffaſſung der officiellen Vertreter der franzöſiſchen Republik über dieſe Fragen kennen zu lernen. Rechtſprechung des Reichsgerichts. &#xfffc; Verpflichtung zu kaufmänniſcher Buchführung bei einem theilweiſe als Hauſirhandel betriebenen Ge- ſchäfte; §. 210 der Concursordnung. Der wegen Banke- rotts verurtheilte Angeklagte hat den größten Theil ſeiner Waaren im Umherfahren auf dem Lande abgeſetzt, daneben aber ein offenes Stadtgeſchäft gehabt, bei welchem ſich ſein Waarenlager befand. Dieſem von ihm betriebenen Geſchäfte war im ganzen die Eigen- ſchaft des Hauſirhandels nicht beizulegen, vielmehr iſt es als ein einheitliches gemiſchtes Handelsgeſchäft aufzufaſſen, welches zum Theil, nämlich ſoweit der Geſchäftsbetrieb in der ſtehenden Handelsniederlaſſung ſtattfand, nicht unter die Ausnahme- vorſchrift des Art. 10 des Handelsgeſetzbuches fiel. Für ein ge- miſchtes Geſchäft dieſer Art muß aber der Satz aufgeſtellt werden, daß dasſelbe in ſeiner Totalität die kaufmänniſche Buchführungspflicht mit ſich bringt. Denn der Art. 10 des Handelsgeſetzbuches, welcher dieſe Pflicht beim Höker-, Trödler- und Hauſirgewerbe erläßt, ſtatuirt nur Ausnahmen, und außer- halb derſelben greift die allgemeine Regel Platz, daß derjenige, welcher durch den Betrieb von Handelsgeſchäften Kaufmann iſt, Bücher zu führen hat. Eine Ausnahme würde nur dann anzu- nehmen ſein, wenn das nicht unter Art. 10 fallende Geſchäft in der Weiſe den Schwerpunkt des ganzen Gewerbes bilden würde, daß der übrige Geſchäftsbetrieb jeder eigenen Selbſtändigkeit ent- behrte, was bei den Geſchäftsverhältniſſen des Angeklagten nicht der Fall war. Urtheil vom 6. October 1890. Für den Weihnachtstiſch. IV. Illuſtrirte Werke. &#xfffc; Aus den Skizzenbüchern des leider ſchon am 22. October 1883 zu Frankfurt verſtorbenen Albert Hendſchel treten immer noch neue Blätter zu Tage als ſelbſtredende Zeugen, wie ernſtlich der Künſtler ſein Motto „Nulla dies sine linea“ ausgeführt habe. Die neueſte Sammlung „Allerlei aus Hendſchels Skizzenmappen“ (in vierzig Lichtdrucken von Martin Rommel u. Co. in Stuttgart, Verlag von M. Hendſchel, Frankfurt a. M.) ſcheint abſichtlich in die Jugendzeit des Zeichners zurückgegriffen zu haben, um uns in den Bildungsgang desſelben einen Einblick zu gönnen. Hiebei macht ſich ein Hang zur Caricatur bemerklich, welcher ſehr bald zur ſcharfen Charakteriſtik und ſchließlich zur wahrhaſt künſtle- riſchen Geſtaltung führte. Aus der erſten Periode des Zeichners ſcheinen das häßliche, weinerliche Kind, die Straßenkehrer, die Currendſchüler aus Eiſenach, die Gothaer Bäuerinnen und Alten- burger Mädchen, die Zuckerwaſſer trinkende Lordſchaft, einige Soldatenbilder, der Vogelſchütz und Sonntagsreiter und mehrere ganz dilettantiſch gezeichnete Katzen- und Menſchenportraits zu ſtammen. In die zweite Periode ſetzen wir: die Bilder betrachten- den Kunſtenthuſiaſten, die malenden Damen, den Eurszettel ſtudirenden Bankier, den Familienvater mit ſeiner Brut (25), die conſtruirten Geſichter (26) u. ſ. w. Den Uebergang bilden das Scheibenbild vom Frankfurter Schützenfeſt 1863 mit den „Tiroler Schmerzenskindern“ (10), die Frankfurter Jugendwehr (20), der Traum des Studioſen, die eines Vautier würdige Schwarzwälderin aus Gutach (30), die Dame mit dem Roſenſtock und der Cactus- Philiſter (36) und die puppenſpielenden Mädchen (17). Zum echteſten „Hendſchel“ aber, wie wir ihn heutzutage kennen und lieben, hat er ſich geglättet und abgeklärt mit den graciöſen, an den „kleinen Augenarzt“ erinnernden Rococo-Kindern (27), mit der ihr verirrtes Lamm heimtragenden Hirtin (28) und der „Am Ziele“ betitelten Einkehr des altersmüden Wanderers an der Kloſterpforte (40): freilich nur „Skizzen“, aber in ihrer Weiſe un- vergängliche Perlen. Der junge, originell aufſtrebende Alexander Zick, welcher durch zahlreiche Illuſtrationen zu Goethe’s Gedichten, zu Bruck- manns „Deutſchen Lieblingsdichtern“, zu Bodenſtedts „Sakuntala“ raſch einen gediegenen Namen errang, hat nun auch das von Albert Goldſchmidt zu Berlin als Prachtausgabe ausgeſtattete „Käthchen von Heilbronn“ (Berlin, 1890, bei A. Gold- ſchmidt, 90 S. 4°) mit Bildern geſchmückt. Dieſes ehedem Epoche machende Drama unſres Heinrich v. Kleiſt, welches ein Jahr vor dem Tode des Dichters (1811) zuerſt über die Bretter ging und ſich ſeither immerdar darauf behauptete, eine ganze, theilweiſe ſo- gar ſcharf polemiſche Literatur im Gefolge hatte, neueſtens gerade in der Allg. Ztg. eine überraſchend neue Beleuchtung erfuhr (durch Dr. Carl du Prel im Morgenblatt Nr. 320 vom 18. Nov.) und demnächſt nach Kleiſts urſprünglichem Entwurſe wieder inſcenirt werden ſoll, hat ſomit eine artiſtiſche Ausſtattung erhalten, welche in ihrer Weiſe den Illuſtrationen Adolf Menzels zum „Zer- brochenen Krug“, dieſem problematiſchen Luſtſpiele Kleiſts, in eben- bürtigſter Faſſung zur Seite geht. Acht Vollbilder (in Lichtdruck von Martin Rommel in Stuttgart) und 18 Vignetten in Holz- ſchnitt zieren das Ganze. Gleichfalls mit acht Vollbildern, dann aber noch reicher, mit 58 großen Holzſchnitten nach Compoſitionen des unermüdlichen P. Grot Johann ausgeſtattet, erſchien Julius Wolffs be- kannter Romanzen-Cyklus „Lurlei“ (Berlin, 1890, Grote. 166 doppelſpaltige Seiten 4°). Der Maler geht hier mit dem Dichter in erfreulichſter, congenialer Weiſe Hand in Hand, Bild und Wort decken ſich vollkommen. Als ein in ſeiner Art gewiß unerhörtes Werk, bei welchem Kunſt und Schönheit im voraus keinen Antheil hatten, ſondern nur der willkürlichſte Zufall und die groteskeſte Phantaſterei ſich die Hände boten, präſentiren ſich die „Klekſographien“ des liebenswürdigen Dichters Juſtinus Kerner, welche, nachdem ihr Verfaſſer ſchon 1857 die Vorrede dazu geſchrieben, erſt jetzt, lange nach ſeinem am 22. Februar 1862 erfolgten Tode, in treueſter Reproduction vor die Oeffentlichkeit treten (Stuttgart, Deutſche Verlagsanſtalt. VII und 79 S. gr. 8°). Die Technik, durch Zerdrücken von kleinen färbenden Beeren, Fliegenköpfen oder willkürlichen Kritzeleien und Tintenflecken zwiſchen zuſammen- gefalztem Papier unförmliche Phantome herzuſtellen, welche durch wenige charakteriſtiſche Federſtriche zum gehörigen Ausdruck gebracht werden, iſt ein uraltes Vorrecht unſrer Jugend. Juſtinus Kerner kam in ſeinen alten Tagen durch die beim Schreiben unwillkürlich unterlaufenden Klekſe wieder darauf, dergleichen durch möglichſt wenige Zuthaten ſeiner des Zeichnens ganz unkundigen Hand weiter zu bilden. Proben dieſer Art, welche Kerner mit er- läuternden Verſen an ſeinen Freund, den edlen Grafen Franz Pocci, nach München ſendete, erregten deſſen Theilnahme. Beide wetteiferten nun in den tollſten Erfindungen, wobei Pocci, der mit ſeiner leichtbeſchwingten Hand in Caricaturen ſo geiſtreiche Blätter lieferte und damit den gepreßten Blumen der „Viola tricolor“ Aehnliches leiſtete, auf den Einfall gerieth, dieſe „ſchwarze Kunſt“ mit zeitgemäßer Namenbildung zur „Klekſographie“ zu erheben. Dem momentanen Zufall iſt natürlich Thür und Thor geöffnet; Niemand kann im voraus ahnen, was bei Entfaltung des Papiers zum Vorſchein kommen kann: gewiß immer etwas Ungeheuerliches, was dann zu Drachen, Schmetterlingen, Gerippen, Käfern und Würmern werden kann, was zu arm- und kopfloſen Menſchen, Skeletten, Südſee-Inſulaner-Götzen- und mexicaniſchen Fratzen-Bildern und Diablerien aller Art promovirt werden kann, wenn eine geſchickte Hand in adäguater Weiſe das Fehlende ergänzt. Keine „Aeſthetik“ weiß von dieſer „Kunſt“ zu berichten, bei welcher Phantaſie, Witz, Laune und Geiſt ebenſo wie bei jeder anderen Invention zu Ge- vatter ſtehen müſſen; dabei ergibt ſich regelmäßig die Erfahrung, daß Dilettanten mit überraſchenden Reſultaten zu excelliren ver- mögen, während ein guter Zeichner die Formfehler des vorliegen- den wechſelbalgartigen Problems ſelten bemeiſtern kann. Kerners klekſographiſche Blättchen wurden bald von Freunden aus der Nähe und Ferne als Albumblätter erbeten, geſammelt und in Verkehr gebracht; der mit ſeiner bekannten Güte hiezu immer bereite Dichter begleitete die Gabe dann mit exegiſirenden Verſen, welche den Geiſterſpuk weiter ſpannen und in drolligſter, oft auch in tief- ſinnigſter Beziehung die Geneſis des Werkes darlegten. So ent- ſinnt ſich Ihr Berichterſtatter eines gräulichen Ungeheuers, worunter Kerner die erläuternden Reime geſetzt hatte: „Ich hab’ gezeichnet Dir im Traum, Und dabei ſtark geſchwitzt, Den Kobold, welcher auf dem Baum Vor meinem Häuschen ſitzt.“ Die ganze Tiefinnerlichkeit ſeines Weſens ſpricht aus den Zeilen, welche der Dichter unter einen veritablen Papillon ſchried: „Aus Tintenflecken ganz gering Entſtand der ſchöne Schmetterling: Zur gleichen Wandelung ich empfehle Gott meine fleckenvolle Seele!“ Es ſind oft ſehr grufelige Beſtien, wahre „Hadesbilder“ und fratziger Spuk, welche Kerner auch mittelſt des Kaffeſatzes ge- wann, wie denn auch Wilhelm Kaulbach mit ſolchen „Kaffee- bildern“ zu experimentiren liebte. Was Juſtinus Kerner aus dem Tintenfaſſe kriechen läßt, iſt immer von poetiſcher Faſſung begleitet, in welcher ein Callot-Hoffmann’ſcher Geiſt ſpukt; man erkennt den Dichter der „Reiſeſchatten“, welcher als Magus und Teufels- beſchwörer ohnehin gern an der Geiſterwelt anklopſte. Ein gräu- liches Ungeziefer dieſer Art wird alſo angeſungen: „Eine Geiſtin iſt dieſes, die im Leben einſt ganz Einzig gelebt hat für Spiel und für Tanz; Sie hatte kein Herz, hat auch keines gekannt, Als das Herz auf der Karte, Coeur-Aß benannt. In den Spiel-, in den Tanzſaal — in den Vetſaal doch nie Trugen die luftigen Füße ſie, Nach dem Tode ein Luſtgeiſt, in Lüften ſtumm Wirbelt ſie ohne Tänzer herum, Sie wirbelt im Regen, ſie wirbelt im Schnee, Oft hört man im Sturmwind ſie rufen: Weh! weh!“ Die reichlich mit Reproductionen nach alten Holz- ſchnitten, Initialen und Bildern ausgeſtattete „Hiſtorie von S. Quirinus“ (München, 1890, bei Huttler-Fiſcher. 113 S. 8°), welche bereits im Morgenblatt Nr. 161 der Allg. Ztg. vom 12. Juni in eingehender Weiſe beſprochen wurde, liegt jetzt ſchon in zweiter, durch weitere fleißige Nachträge und Annotationen ver- mehrter Auflage vor. Der Ertrag dieſer ſchönen, wiſſenſchaftlichen, aber in populäre Form gekleideten Arbeit iſt zum Beſten des Spitals in Tegernſee beſtimmt. Von derſelben Hand (A. R.) und im gleichen Verlag, aus- geſtattet mit Bildern, Liedern und den echten alten Singweiſen, erſchien ein „Weihnachtsgruß eines Münchener Kindl an Mün- chener und andere Kindeln groß und klein“ (45 S. 12°), mit der Geſchichte eines aus der ehemaligen Auguſtiner-Kirche ſtammenden, nun im ſogenannten „Bürgerſaal“ aufbewahrten, einen „Bambino“ vor- ſtellenden Sculpturbildes. Dabei ſind alle früheren im Advent üblichen Gebräuche und Lieder, wie das „Anſingen“, „Klöpfeln“, „Herbergſuchen“, in culturhiſtoriſchen Betracht gezogen, ſo daß das Büchlein auch über die Grenzen des Münchener Weichbildes hinaus Intereſſe finden wird. 1) Recneil de rapports sur les conditions du travail dans les pays étrangers adressés au Ministre des Affaires Etrangères. Suisse. Berger-Levrault et Cie. Paris, Nancy 1890. pp. 81.

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-03-29T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 336, 4. Dezember 1890, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine336_1890/9>, abgerufen am 21.11.2024.