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Allgemeine Zeitung, Nr. 337, 5. Dezember 1890.

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München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337.
[Spaltenumbruch]

Folge dessen, der ständigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge-
kommen, die Wahl v. Redens für gültig zu erklären, wegen
der in dem Proteste aufgestellten Behauptungen aber um die An-
stellung von Erhebungen zu ersuchen. Alle Beredsamkeit des
Berichterstatters hat indeß nicht vermocht, die HH. Rickert und
Auer von der Inscenirung einer großen Entrüstungsdebatte ab-
zuhalten. Von conservativer Seite fühlte sich der Sachse
Mehnert zu einer scharfen Jungfernrede gegen die Social-
demokratie gedrungen, und so tobte denn glücklich ein Partei-
kampf, über welchem das Richteramt des Hauses in Vergessen-
heit zu gerathen schien. Immerhin hätte man den Herren
diese Herzenserleichterung gönnen mögen, wenn man wenigstens
schließlich bei der Entscheidung über den vorliegenden Fall zu
der erforderlichen Unparteilichkeit zurückgekehrt wäre. Statt
dessen stimmte das Centrum unter Führung des Hrn. Windt-
horst und unter Schürung seiner welfischen Hospitanten mit
den Freisinnigen und den Socialdemokraten, kurz, das ganze
Anticartell für die Beanstandung der Wahl, obgleich Keiner,
der sich überhaupt um die Lage der Sache gekümmert hat,
darüber in Zweifel sein kann, daß die Gültigkeit der Wahl
schließlich doch erklärt werden muß. Das heutige Votum kann
also, wenn man ihm psychologisch auf den Grund geht, nur
als ein Ausdruck des Parteihasses gegen die Nationalliberalen
oder, wenn man will, gegen das Cartell aufgefaßt werden.
Schön ist das nicht, aber es ist leider auch nicht unerhört.
Den Vorzug vollständiger Neuheit dagegen hatte es, daß bei
der nun folgenden Verhandlung über die Wahl im achten
württembergischen Wahlkreise der Gewählte selbst, und zwar
als einziger Redner, auftrat. Sonst pflegen die Betheiligten
den Saal zu verlassen, Frhr. v. Münch aber entschuldigte seine
Durchbrechung aller Tradition mit dem Umstande, daß er
keinen einzigen Freund im Hause habe. Originell, das muß
man diesem rothen schwäbischen Baron lassen, ist er immer!
In der Sache handelte es sich um die berühmten massenhaften
Freibierspenden. Aus dem vorliegenden Material ist die Commission
nicht zu einer bestimmten Ansicht darüber gelangt, inwieweit diese
Spenden das Wahlergebniß hätten beeinflussen können; sie
schlug deßhalb vor, die Beschlußfassung über die Wahl bis
nach erfolgter Beweiserhebung auszusetzen, und das Haus trat
diesem Vorschlage bei.

Die Arbeiterschutzcommission ist heute ziemlich langsam
vorwärts gekommen. Die in den Paragraphen, welche von
den behördlichen Anordnungen betreffs der zum Schutze von
Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiter zu treffenden
Maßnahmen handeln, in der ersten Lesung beschlossene gutacht-
liche Mitwirkung der Berufsgenossenschaften wurde seitens der
verbündeten Regierungen heute von neuem angefochten, jedoch
nach längerer Debatte, wenn auch in etwas modisicirter Ge-
stalt, aufrechterhalten. Eine seltsame Ueberraschung brachte
ein Antrag Gutfleisch. Derselbe wollte einen neuen Para-
graphen einfügen, nach welchem die in erster Lesung nur in
dem Abschnitt über die Betriebsbeamten beschlossene Bestim-
mung, daß jeder der beiden Theile vor Ablauf der vertrags-
mäßigen Zeit ohne Innehaltung einer Kündigungsfrist die Auf-
hebung des Arbeitsverhältnisses verlangen kann, wenn ein
wichtiger, nach den Umständen des Falles die Aufhebung recht-
fertigender Grund vorliegt, auf sämmtliche Arbeiter Anwendung
finden sollte. Der Antrag würde, wie Jeder, der ihn sich auf
das praktische Leben angewandt denkt, sofort einsieht, dem
Contractbruch Thür und Thor öffnen. Er wurde gegen die
Stimmen der Freisinnigen und Socialdemokraten, sowie der
Centrumsmitglieder Graf Galen und Stötzel abgelehnt.



Deutsches Reich.

Der Reichstag verwies heute,
nachdem er die Vorlage wegen Helgolands in zweiter Lesung
unverändert angenommen hatte, die Novelle zum Patent-
gesetz
an eine Commission von 21 Mitgliedern. Staats-
secretär v. Boetticher hatte die Vorlage begründet, an der
Debatte hatten sich die Abgg. Goldschmidt, v. Buol,
Hultzsch,
Dr. Hammacher und Münch betheiligt, die ins-
gesammt die Vorlage im allgemeinen freudig begrüßten, aber
betreffs einzelner Punkte, namentlich in der Gebührenfrage,
bezüglich des Anschlusses an die Union und wegen der Frist



auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hause getriebene
Heerde, von welcher bei den Bauernhäusern immer ein oder
mehrere Stücke abschwenken, um den Heimstall aufzusuchen.
Das ist der rechte Nachgenuß des bald suchenden, bald tändeln-
den Geistes, mit dem Sie die Ferien ausfüllen sollen, die ich
Ihnen geschenkt habe. Gönnen Sie sich diese auch, wenn Ihre
Skizze erst halb vollendet wäre, in welcher Sie den 'Kampf
um das Weib' zu schildern suchen oder den 'Kampf mit dem
Erbfehler' -- natürlich höchst ernsthaft und mit der starken
Seelen geziemenden Selbstverspottung. Bilden Sie sich meinet-
wegen ein, Sie hätten es mit Einfällen ihres müßigen Ge-
hirns zu thun, welches von der leidenschaftlichen Erregung der
Liebe ausrastet. Ich weiß freilich, daß Sie von verheerenden
Leidenschaften unangetastet blieben. Man beschreibt nicht den
Kampf, wenn man mitten darin steht, sondern meist, wenn er
vorüber und die überfallene Seele wieder ihre Vorposten aus-
gestellt hat. Häusig auch nur, wenn man den Zuschauer, den
Schlachtenbummler abgegeben hat. Die Arbeit des Schriftstellers
ist Nachdenken und Nachempfinden. Sie zweifeln an dem Hund,
der auf dem Grabe des Herrn verhungert ist? Und an dem
Dichter, welchen die Eitelkeit der Welt nicht aus seinem
Phantasiereiche zurücklockt? Das finde ich ganz erklärlich. Es
sind gewöhnlich unterdrückte Triebe, welche zur Offenbarung
eines wirklichen Innenlebens zwingen. Wir Modernen sind
aber gar nicht so triebkräftig.

"Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar
vor Ihre Füße hin. Ich weiß, daß Sie als kluger Mensch
diese Frucht nicht genießen werden wie ein dummer Junge.
Doch Sie heben das Fallobst auf, betrachten es flüchtig und
werfen es wieder weg. Thut es der Schöpfer anders mit seiner
Welt? Wäre das geistige Schaffen ein unbewußtes Treiben
gleicher Art, so hätten Sie schon manches Ihrer Werke weg-
geworfen, in welches Sie die letzte Illusion hineinbinden ließen,
die Sie erübrigt: 'den Wahn der Unsterblichkeit Ihres Namens'.
Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen diesen Wahn raube. Ihr
geschwächtes Nervensystem bedarf desselben, um sich erholen zu
können. Meine Curmethode beruht überhaupt darauf, Ihnen
wieder einige Illusionen einzuflößen, ohne welche der Mensch
nie das prophetische Wort gewinnt, um die Herzen zu er-
schließen. So, jetzt legen Sie sich zu Bette und genießen Sie
eine ausgiebige Nachtruhe ohne jeden Vererbungsalp, der
sich auf die Brust legt. Mehr kann ich als Arzt nicht für Sie
thun. Das Beste, die siegende Heilkraft, muß Ihr eigener
Organismus hergeben. Schelten Sie ruhig auf den Arzt, wenn
Ihre Genesung nicht gelingt oder Sie sich nach der überwundenen
Krankheit zurücksehnen sollten, welche Sie mitkleidswürdig gemacht."

[Spaltenumbruch]
Deutsches Reich.

der Nichtigkeitsbeschwerde, Bedenken oder Wünsche äußerten.
Morgen um 2 Uhr soll der Rest der heutigen Tagesordnung
erledigt und die erste Berathung der Novelle zum Kranken-
versicherungsgesetz begonnen werden.



Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen.

Aus dem "Reichs-Anzeiger".

Die Conferenz zur
Berathung von Fragen, das höhere Schulwesen be-
treffend,
wurde in Gegenwart des Kaisers heute Vormittag
11 Uhr im großen Sitzungssaale des Ministeriums der geist-
lichen etc. Angelegenheiten eröffnet. Der Cultusminister v. Goßler
leitete die Sitzung mit nachstehender Ansprache ein:

Genehmigen Ew. kaiserliche und königliche Majestät, daß ich,
sicherlich aus dem Herzen und im Ramen aller Anwesenden, unsern
ehrfurchtsvollsten, tiefgefühltesten Dank ausspreche für die warme
Theilnahme, welche Sie der Erziehung unsrer Jugend zuwenden.
Ew. Majestät treten auch in dieser Hinsicht in die Fußstapsen
Ihrer erlauchten Vorfahren. Die Hohenzollern haben es allezeit
als ihr Recht, aber auch als ihre Pflicht erachtet, unmittelbar be-
stimmend in die Entwicklung und Erziehung der Jugend einzugreifen.
Schon Ihr erlauchter Vorfahr Johann Georg erließ im Jahre 1573 die
bekannte Visitations- und Consistorialordnung, welche auf Jahrhun-
derte hinaus die Geschicke der brandenburgischen Schule bestimmte. Am
Schlusse seines thatenreichen Lebens erließ Kurfürst Friedrich Wil-
helm der Große die berühmte Schulordnung von Brandenburg und
zwar auf lutherischer Grundlage. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I.
erließ bereits im ersten Jahre seiner segensreichen Regierung die
Cabinets- und Schulordnung, welche bis in dieses Jahrhundert
hinein das Fundament des Unterrichtswesens bildete. Unermüd-
lich hat er bis zum Schluß seines reichen Lebens über den Schulen
gewaltet und was er auf dem Gebiet der Volksschule gethan,
ist ja bekanntlich heute noch in den Provinzen Preußen
geltendes Recht. Friedrich der Große trat in seiner Instruction
für die lutherischen Oberconsistorien in die Fußstapfen seines
Vaters. Er erließ im Jahre 1763 das berühmte General-
Schulreglement,
und was er für die höheren Schulen geplant
hatte, wurde ein Jahr nach seinem Tode Recht in der bekannten
Instruction für das Oberschulcollegium. Damals vollzog sich zum
ersten Male in Preußen, allen Ländern vorbildlich, eine sorgfältige
Abgrenzung der Schul- und Kirchenbehörden auf dem Gebiete des
Unterrichtswesens. Unsre ganze preußische Unterrichtsverwaltung
und Gesetzgebung berubt aber auf der berühmten Cabinetsordre
Ew. Majestät allerdurchlauchtigsten Urgroßvaters. Diese leider
wenig bekannte Cabinetsordre vom Jahre 1817 fordert in wirk-
lich ergreifender Weise die ganze Ration auf, bei der Erziehung
der Jugend mitzuwirken. Die großen Thaten, welche Preußen
unter Führung seines Königs vollbracht, ließen erkennen, daß die
Kräfte der Nation überwiegend auf der geistigen Seite, in den
Idealen, lägen und daß nur durch eine Erneuerung des ganzen
geistigen Inhalts des Volkes diejenige Kraft erreicht werden könnte,
welche Preußen seine hohe, aber auch gesährdete Stellung sicherte.
Wenn damals Friedrich Wilhelm III. alle Classen des Volkes auf-
rief, mitzuwirken an der Erneuerung der Nation, so haben Ew.
Majestät in der denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres
uns aufgerufen, die Schule für befugt und berufen erklärt, mitzu-
wirken an der Erneuerung des Volkes auf den Gebieten, welche durch
die Mächte des Umsturzes in Frage gestellt sind. Ew. Majestät
haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar die machwollste,
aber auch die langsamste und mühsamste ist, und daß erst vom
Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schulen
erreicht werden können. Ew. Majestät haben erneut auf die
Bedeutung aufmerksam gemacht, welche in der richtigen Aneignung
der Religion, in der Hervorhebung der sittlich religiös bildenden
Momente unsrer preußischen Geschichte eingeschlossen liegen, und wir
sind Ew. Majestät aufs tiefste in Dankbarkeit verpflichtet, in dieser
energischen und krafwollen Weise uns den Weg gewiefen zu haben.
Diese Allerhöchste Kundgebung vom 1. Mai 1889 fiel mitten hinein
in eine bereits machwolle Bewegung, welche auf dem Gebiete des
Unterrichtswesens ganz Deutschland ergriffen hatte. Wo die An-
fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen
Ereignissen; aber im Allgemeinen darf man wohl sagen, daß die
veränderte Weltstellung Preußens und Deutschlands unseren Blick
erweitert und uns allen die Frage auf die Lippen geführt hatte,
ob unsere Erziehung noch genau in denselben Bahnen sich bewegen
könne, wie früher, wo Deutschland mehr ein in sich gekehrtes, ein
einsames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unsere
Augen erweitert sind, wo unsere Blicke sich richten auf alle
Nationen, wo wir Colonien vor unseren Augen haben, überall
haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der
bisher unser Unterrichtswesen umschlossen hielt, in dieser oder
jener Weise durchbrechen müssen. Mehr noch war das Streben zu
erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes Fortschritte
mache, daß die Methode der Lehrer gebessert werde, daß man Zeit
gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen
wurde diese Bewegung eine um so machtvollere und intensivere,
als in Preußen -- es ist nicht zu läugnen -- durch eine über-
mäßige Zahl von höheren Schulen und durch eine übermäßige
Production von akademisch Gebildeten alle gelehrten Berufsfächer
überfüllt waren und nun in der Noth, im Kampfe um das Dasein
eine Menge Zweifel austraten, ob die Schule selbst oder die Unter-
richtsmethode eine Verschuldung treffe. So sind wir in Preußen im Gegen-
satz zu den süddeutschen Staaten in eine Bewegung hineingekommen, in
der das Berechtigungswesen in dem Kampf der Concurrenz eine hervor-
ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im Stande in einem einleitenden
Vortrage auch nur zu skizziren, in welchen Richtungen die Haupt-
bewegung sich gestaltet. Man kann aber wohl sagen, daß von
den radicalsten Auffassungen bis zu den conservativsten hin jede
Nuance eines neuen Vorschlags sich vorhanden findet. Das
preußische Schulwesen hat aber -- und das muß doch wohl in
der Einleitung hervorgehoben werden -- doch insofern eine eminent
politische Bedeutung. als es ein einigendes Band innerhalb der
deutschen Staaten geworden ist. Nach Preußen haben sich die
übrigen deutschen Staaten gerichtet, mit Preußen haben die
übrigen deutschen Staaten Verträge geschlossen über Lehrer-
befähigung und Reifezengnisse; für Theologen und für Lehrer;
kurzum auf allen Gebieten hat sich ein Band geschlossen
zwischen Preußen und den übrigen deutschen Staaten. Und wenn
wir hier am heutigen Tage eine durchaus preußische Versammlung
sind, so müssen wir uns doch eingedenk halten, daß das ge-
sammte Deutschland mit Aufmerksamkeit auf unsre Berathungen
seine Blicke richtet. Zwar besinden sich hier unter uns, mit Er-
laubniß ihrer hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht
Preußen angehören, aber ich habe es den Herren erklärt und
wiederhole es hier, daß sie nicht als Vertreter ihrer Staaten, son-
dern als Schulmänner, welche auf gewissen Gebieten Hervorragen-
des geleistet haben, hier sind, und ich danke den Regierungen
auch an dieser Stelle, daß sie diese ausgezeichneten Kräfte zur Ver-
fügung gestellt haben.

Was nun diese Berathungen auszeichnen soll, ist die volle
Freiheit in der Discussion. Es ist der dringende Wunsch der
Unterrichtsverwaltung, von den Herren, die hier versammelt sind,
[Spaltenumbruch] Stoff und Formen als sichere und zuverlässige Grundlage für die
weiteren Entschlüsse zu erhalten, welche Ew. Majestät demnächst
zur allerhöchsten Kritik unterbreitet werden. Die Geschäftsordnung
soll volle Freiheit geben. Eine Abstimmung wird sich nicht ver-
meiden lassen; sie wird aber nicht nach Zahlen erfolgen, sondern
sie wird erfolgen nach einzelnen Personen, so daß die Quellen der
Abstimmung immer klar vor Augen liegen. Es ist möglich, daß
eine zweite Lesung in einzelnen Fällen eintreten muß, wo ein
Ausgleich bei der ersten Lesung nicht erreicht wird. Darüber be-
halte ich mir weitere Entschließungen vor.

Ich schließe damit, daß ich es ausspreche: ich gehe in die
Berathung mit der sichern Hoffnung auf Gelingen; ich bin über-
zeugt, daß alle versammelten Herren mit voller Begeisterung und
mit voller Hingebung den großen Aufgaben sich widmen, welche
den Kern in dieser Berathung bilden. Und wenn uns dabei die
Kraft erlahmen sollte, so werden wir auf Ew. Majestät blicken und
in Dankbarkeit und Ehrfurcht uns des Eifers, der Liebe und Hin-
gebung erinnern, die Ew. Majestät unserm gesammten Schulwesen
stets geschenkt haben."

Der Kaiser erwiderte hierauf Folgendes:

"Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen
hier und Ich danke dem Hrn. Minister persönlich,
daß er trotz des Ueberladenseins mit Arbeiten
aller Art es übernommen hat, den Vorsitz in dieser
Versammlung zu führen. Ich bin der festen Ueber-
zeugung, daß kein Mensch mehr dazu ange than ist
und geschickter dazu angelegt ist, eine solche Frage
richtig zu leiten und zu ihrer Lösung beizutragen,
wie unser Hr. Cultusminister, von dem Ich
ganz bestimmt und ohne Ueberhebung sagen
kann, daß der deutsche Staat und das Königreich
Preußen seit langen Jahren keinen so tapferen, hin-
gebenden und hervorragenden Cultusminister ge-
habt haben, wie ihn. Ich hoffe, daß es gelingen
wird, das Werk mit Ihrer Hülfe nicht nur zu fördern,
sondern auch zum Abschluß zu bringen."

Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der
Kaiser nochmals das Wort zu einer längeren Rede, welche
etwa folgenden Wortlaut hatte:

Meine Herren! Ich habe Mir zuerst ausgebeten, ein paar
Worte zu Ihnen zu reden, weil Mir daran liegt, daß die Herren
von vornherein wissen, wie Ich über die Sache denke. Es wird
entschieden sehr vieles zur Discussion kommen, ohne entschieden
werden zu können, und Ich glaube, daß auch manche Punkte nebel-
hast im Dunkeln bleiben werden; deßhalb habe Ich es für gut
gehalten, die Herren nicht im Zweifel zu lassen, welches Meine
Ansichten darüber sind. Zunächst möchte Ich bemerken, daß es sich
hier vor allen Dingen nicht um eine politische Schulfrage handelt,
sondern lediglich um technische und pädagogische Maß-
nahmen,
die wir zu ergreifen haben, um unsre heranwachsende
Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltstellung unsres Vater-
landes und auch unsres Lebens entsprechend heranzubilden. Und da
möchte Ich gleich Eins bemerken. Ich würde Mich sehr gefreut haben,
wenn wir diese Prüfungen, diese Verhandlungen nicht mit einem
französischen Wort "Schulenquete", sondern mit dem deutschen
Wort "Schulfrage" benannt hätten. "Frage" ist das alte deutsche
Wort für Voruntersuchung, und Ich muß sagen, das ist auch
mehr oder weniger eine Voruntersuchung. Rennen wir die Sache
doch kurzweg "Schulfrage". Ich habe die 14 Punkte durchgelesen
und sinde, daß dieselben leicht dazu verführen könnten, die Sache
zu schematisiren. Das würde Ich im höchsten Grade bedauern. Die
Hauptsache ist, daß der Geist der Sache erfaßt wird und nicht die
bloße Form. Und da habe Ich Meinerseits einige Fragen aufgestellt
-- Ich werde sie eirculiren lassen -- von denen Ich hoffe, daß
sie auch Berücksichtigung finden werden. Zunächst "Schul-
hygiene außer Turnen
", eine Sache, die sehr genau erwogen
werden muß; sodann "Verminderung des Lehrstoffs" (Er-
wägung des Auszuscheidenden); ferner die "Lehrpläne für die
einzelnen Fächer
", sodann die "Lehrmethode für die
Organisation
" -- es sind bereits die Hauptpunkte vorgeschla-
gen worden -- sechstens: "Ist der Hauptballast aus den
Examina beseitigt?
" und siebentens: "Die Ueberbürdung
in Zukunft vermindern?
" Achtens: "Wie denkt man sich
die Controle, wenn das Werk zu Stande gekommen
ist?
" Reuntens: "Regelmäßige und außerordentliche
Revisionen durch verschiedene Oberbehörden?
"

Ich lege hier die Fragen auf den Tisch des Hauses; wer sie
sich ansehen will, kann sich darüber weiter informiren. Die ganze
Frage, Meine Herren, hat sich allmählich vollkommen von selber
entwickelt; Sie stehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich fest
überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben
werden, durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieselbe
wie eine reife Frucht der Nation überreichen werden.

Dieser Cabinetsordre, die der Hr. Minister vorhin zu erwähnen
die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule
auf dem Standpunkt gestanden hätte, auf welchem sie hätte stehen
müssen. Ich möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas scharf werden
sollte, so bezieht sich das auf keinen Menschen persönlich, sondern auf das
System, auf die ganze Lage. Wenn die Schule gethan hätte, was von ihr
zu verlangen ist -- und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter spre-
chen, denn Ich habe auch auf dem Gymnasium gesessen und weiß,
wie es da zugeht -- so hätte sie von vornherein von selber das Gefecht
gegen die Socialdemokratie übernehmen müssen. Die Lehrercollegien
hätten alle mit einander die Sache fest ergreifen und die heran-
wachsende Generation so instruiren müssen, daß diejenigen jungen
Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig sind, also von etwa 30 Jahren,
von selbst bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im
Staate arbeiten könnte, um der Bewegung schneller Herr zu wer-
den. Das ist aber nicht der Fall gewesen. Der letzte Moment,
wo unsre Schule noch für unser ganzes vaterländisches
Leben und für unsre Entwicklung maßgebend gewesen ist,
ist in den Jahren 1864, 1866 bis 1870 gewesen. Da waren
die preußischen Schulen, die preußischen Lehrercollegien Träger
des Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abi-
turient, der aus der Schule herauskam und als Einjähriger ein-
trat oder ins Leben hinausging, Alles war einig in dem einen
Punkte: das Deutsche Reich wird wieder aufgerichtet und Elsaß-
Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 hat die Sache
aufgehört. Das Reich ist geeint; wir haben, was wir erreichen
wollten, und dabei ist die Sache stehen geblieben. Jetzt mußte
die Schule, von der neu gewonnenen Basis ausgehend, die Jugend
anführen und ihr klar machen, daß das neue Staatswesen dazu
da wäre, um erhalten zu werden. Davon ist nichts zu merken
gewesen; und jetzt schon entwickeln sich in der kurzen
Zeit, seit der das Reich besteht, centrifugale Tenden-
zen.
Ich kann das gewiß genau beurtheilen, weil Ich oben stehe und an
Mich alle solche Fragen heratreten. Der Grund ist in der Erziehung
der Jugend zu suchen; wo fehlt es da? Da fehlt es allerdings
an manchen Stellen. Der Hauptgrund ist, daß seit dem Jahr
1870 die Philologen als beati possidentes im Gymnafium ge-
sessen haben und hauptsächlich auf den Lernstoff, auf das Lernen
und Wissen den Nachdruck gelegt haben, aber nicht auf die
Bildung des Charakters und die Bedürffnisse des

München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337.
[Spaltenumbruch]

Folge deſſen, der ſtändigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge-
kommen, die Wahl v. Redens für gültig zu erklären, wegen
der in dem Proteſte aufgeſtellten Behauptungen aber um die An-
ſtellung von Erhebungen zu erſuchen. Alle Beredſamkeit des
Berichterſtatters hat indeß nicht vermocht, die HH. Rickert und
Auer von der Inſcenirung einer großen Entrüſtungsdebatte ab-
zuhalten. Von conſervativer Seite fühlte ſich der Sachſe
Mehnert zu einer ſcharfen Jungfernrede gegen die Social-
demokratie gedrungen, und ſo tobte denn glücklich ein Partei-
kampf, über welchem das Richteramt des Hauſes in Vergeſſen-
heit zu gerathen ſchien. Immerhin hätte man den Herren
dieſe Herzenserleichterung gönnen mögen, wenn man wenigſtens
ſchließlich bei der Entſcheidung über den vorliegenden Fall zu
der erforderlichen Unparteilichkeit zurückgekehrt wäre. Statt
deſſen ſtimmte das Centrum unter Führung des Hrn. Windt-
horſt und unter Schürung ſeiner welfiſchen Hoſpitanten mit
den Freiſinnigen und den Socialdemokraten, kurz, das ganze
Anticartell für die Beanſtandung der Wahl, obgleich Keiner,
der ſich überhaupt um die Lage der Sache gekümmert hat,
darüber in Zweifel ſein kann, daß die Gültigkeit der Wahl
ſchließlich doch erklärt werden muß. Das heutige Votum kann
alſo, wenn man ihm pſychologiſch auf den Grund geht, nur
als ein Ausdruck des Parteihaſſes gegen die Nationalliberalen
oder, wenn man will, gegen das Cartell aufgefaßt werden.
Schön iſt das nicht, aber es iſt leider auch nicht unerhört.
Den Vorzug vollſtändiger Neuheit dagegen hatte es, daß bei
der nun folgenden Verhandlung über die Wahl im achten
württembergiſchen Wahlkreiſe der Gewählte ſelbſt, und zwar
als einziger Redner, auftrat. Sonſt pflegen die Betheiligten
den Saal zu verlaſſen, Frhr. v. Münch aber entſchuldigte ſeine
Durchbrechung aller Tradition mit dem Umſtande, daß er
keinen einzigen Freund im Hauſe habe. Originell, das muß
man dieſem rothen ſchwäbiſchen Baron laſſen, iſt er immer!
In der Sache handelte es ſich um die berühmten maſſenhaften
Freibierſpenden. Aus dem vorliegenden Material iſt die Commiſſion
nicht zu einer beſtimmten Anſicht darüber gelangt, inwieweit dieſe
Spenden das Wahlergebniß hätten beeinfluſſen können; ſie
ſchlug deßhalb vor, die Beſchlußfaſſung über die Wahl bis
nach erfolgter Beweiserhebung auszuſetzen, und das Haus trat
dieſem Vorſchlage bei.

Die Arbeiterſchutzcommiſſion iſt heute ziemlich langſam
vorwärts gekommen. Die in den Paragraphen, welche von
den behördlichen Anordnungen betreffs der zum Schutze von
Leben, Geſundheit und Sittlichkeit der Arbeiter zu treffenden
Maßnahmen handeln, in der erſten Leſung beſchloſſene gutacht-
liche Mitwirkung der Berufsgenoſſenſchaften wurde ſeitens der
verbündeten Regierungen heute von neuem angefochten, jedoch
nach längerer Debatte, wenn auch in etwas modiſicirter Ge-
ſtalt, aufrechterhalten. Eine ſeltſame Ueberraſchung brachte
ein Antrag Gutfleiſch. Derſelbe wollte einen neuen Para-
graphen einfügen, nach welchem die in erſter Leſung nur in
dem Abſchnitt über die Betriebsbeamten beſchloſſene Beſtim-
mung, daß jeder der beiden Theile vor Ablauf der vertrags-
mäßigen Zeit ohne Innehaltung einer Kündigungsfriſt die Auf-
hebung des Arbeitsverhältniſſes verlangen kann, wenn ein
wichtiger, nach den Umſtänden des Falles die Aufhebung recht-
fertigender Grund vorliegt, auf ſämmtliche Arbeiter Anwendung
finden ſollte. Der Antrag würde, wie Jeder, der ihn ſich auf
das praktiſche Leben angewandt denkt, ſofort einſieht, dem
Contractbruch Thür und Thor öffnen. Er wurde gegen die
Stimmen der Freiſinnigen und Socialdemokraten, ſowie der
Centrumsmitglieder Graf Galen und Stötzel abgelehnt.



Deutſches Reich.

Der Reichstag verwies heute,
nachdem er die Vorlage wegen Helgolands in zweiter Leſung
unverändert angenommen hatte, die Novelle zum Patent-
geſetz
an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern. Staats-
ſecretär v. Boetticher hatte die Vorlage begründet, an der
Debatte hatten ſich die Abgg. Goldſchmidt, v. Buol,
Hultzſch,
Dr. Hammacher und Münch betheiligt, die ins-
geſammt die Vorlage im allgemeinen freudig begrüßten, aber
betreffs einzelner Punkte, namentlich in der Gebührenfrage,
bezüglich des Anſchluſſes an die Union und wegen der Friſt



auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hauſe getriebene
Heerde, von welcher bei den Bauernhäuſern immer ein oder
mehrere Stücke abſchwenken, um den Heimſtall aufzuſuchen.
Das iſt der rechte Nachgenuß des bald ſuchenden, bald tändeln-
den Geiſtes, mit dem Sie die Ferien ausfüllen ſollen, die ich
Ihnen geſchenkt habe. Gönnen Sie ſich dieſe auch, wenn Ihre
Skizze erſt halb vollendet wäre, in welcher Sie den ‘Kampf
um das Weib’ zu ſchildern ſuchen oder den ‘Kampf mit dem
Erbfehler’ — natürlich höchſt ernſthaft und mit der ſtarken
Seelen geziemenden Selbſtverſpottung. Bilden Sie ſich meinet-
wegen ein, Sie hätten es mit Einfällen ihres müßigen Ge-
hirns zu thun, welches von der leidenſchaftlichen Erregung der
Liebe ausraſtet. Ich weiß freilich, daß Sie von verheerenden
Leidenſchaften unangetaſtet blieben. Man beſchreibt nicht den
Kampf, wenn man mitten darin ſteht, ſondern meiſt, wenn er
vorüber und die überfallene Seele wieder ihre Vorpoſten aus-
geſtellt hat. Häuſig auch nur, wenn man den Zuſchauer, den
Schlachtenbummler abgegeben hat. Die Arbeit des Schriftſtellers
iſt Nachdenken und Nachempfinden. Sie zweifeln an dem Hund,
der auf dem Grabe des Herrn verhungert iſt? Und an dem
Dichter, welchen die Eitelkeit der Welt nicht aus ſeinem
Phantaſiereiche zurücklockt? Das finde ich ganz erklärlich. Es
ſind gewöhnlich unterdrückte Triebe, welche zur Offenbarung
eines wirklichen Innenlebens zwingen. Wir Modernen ſind
aber gar nicht ſo triebkräftig.

„Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar
vor Ihre Füße hin. Ich weiß, daß Sie als kluger Menſch
dieſe Frucht nicht genießen werden wie ein dummer Junge.
Doch Sie heben das Fallobſt auf, betrachten es flüchtig und
werfen es wieder weg. Thut es der Schöpfer anders mit ſeiner
Welt? Wäre das geiſtige Schaffen ein unbewußtes Treiben
gleicher Art, ſo hätten Sie ſchon manches Ihrer Werke weg-
geworfen, in welches Sie die letzte Illuſion hineinbinden ließen,
die Sie erübrigt: ‘den Wahn der Unſterblichkeit Ihres Namens’.
Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen dieſen Wahn raube. Ihr
geſchwächtes Nervenſyſtem bedarf desſelben, um ſich erholen zu
können. Meine Curmethode beruht überhaupt darauf, Ihnen
wieder einige Illuſionen einzuflößen, ohne welche der Menſch
nie das prophetiſche Wort gewinnt, um die Herzen zu er-
ſchließen. So, jetzt legen Sie ſich zu Bette und genießen Sie
eine ausgiebige Nachtruhe ohne jeden Vererbungsalp, der
ſich auf die Bruſt legt. Mehr kann ich als Arzt nicht für Sie
thun. Das Beſte, die ſiegende Heilkraft, muß Ihr eigener
Organismus hergeben. Schelten Sie ruhig auf den Arzt, wenn
Ihre Geneſung nicht gelingt oder Sie ſich nach der überwundenen
Krankheit zurückſehnen ſollten, welche Sie mitkleidswürdig gemacht.“

[Spaltenumbruch]
Deutſches Reich.

der Nichtigkeitsbeſchwerde, Bedenken oder Wünſche äußerten.
Morgen um 2 Uhr ſoll der Reſt der heutigen Tagesordnung
erledigt und die erſte Berathung der Novelle zum Kranken-
verſicherungsgeſetz begonnen werden.



Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen.

Aus dem „Reichs-Anzeiger“.

Die Conferenz zur
Berathung von Fragen, das höhere Schulweſen be-
treffend,
wurde in Gegenwart des Kaiſers heute Vormittag
11 Uhr im großen Sitzungsſaale des Miniſteriums der geiſt-
lichen ꝛc. Angelegenheiten eröffnet. Der Cultusminiſter v. Goßler
leitete die Sitzung mit nachſtehender Anſprache ein:

Genehmigen Ew. kaiſerliche und königliche Majeſtät, daß ich,
ſicherlich aus dem Herzen und im Ramen aller Anweſenden, unſern
ehrfurchtsvollſten, tiefgefühlteſten Dank ausſpreche für die warme
Theilnahme, welche Sie der Erziehung unſrer Jugend zuwenden.
Ew. Majeſtät treten auch in dieſer Hinſicht in die Fußſtapſen
Ihrer erlauchten Vorfahren. Die Hohenzollern haben es allezeit
als ihr Recht, aber auch als ihre Pflicht erachtet, unmittelbar be-
ſtimmend in die Entwicklung und Erziehung der Jugend einzugreifen.
Schon Ihr erlauchter Vorfahr Johann Georg erließ im Jahre 1573 die
bekannte Viſitations- und Conſiſtorialordnung, welche auf Jahrhun-
derte hinaus die Geſchicke der brandenburgiſchen Schule beſtimmte. Am
Schluſſe ſeines thatenreichen Lebens erließ Kurfürſt Friedrich Wil-
helm der Große die berühmte Schulordnung von Brandenburg und
zwar auf lutheriſcher Grundlage. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I.
erließ bereits im erſten Jahre ſeiner ſegensreichen Regierung die
Cabinets- und Schulordnung, welche bis in dieſes Jahrhundert
hinein das Fundament des Unterrichtsweſens bildete. Unermüd-
lich hat er bis zum Schluß ſeines reichen Lebens über den Schulen
gewaltet und was er auf dem Gebiet der Volksſchule gethan,
iſt ja bekanntlich heute noch in den Provinzen Preußen
geltendes Recht. Friedrich der Große trat in ſeiner Inſtruction
für die lutheriſchen Oberconſiſtorien in die Fußſtapfen ſeines
Vaters. Er erließ im Jahre 1763 das berühmte General-
Schulreglement,
und was er für die höheren Schulen geplant
hatte, wurde ein Jahr nach ſeinem Tode Recht in der bekannten
Inſtruction für das Oberſchulcollegium. Damals vollzog ſich zum
erſten Male in Preußen, allen Ländern vorbildlich, eine ſorgfältige
Abgrenzung der Schul- und Kirchenbehörden auf dem Gebiete des
Unterrichtsweſens. Unſre ganze preußiſche Unterrichtsverwaltung
und Geſetzgebung berubt aber auf der berühmten Cabinetsordre
Ew. Majeſtät allerdurchlauchtigſten Urgroßvaters. Dieſe leider
wenig bekannte Cabinetsordre vom Jahre 1817 fordert in wirk-
lich ergreifender Weiſe die ganze Ration auf, bei der Erziehung
der Jugend mitzuwirken. Die großen Thaten, welche Preußen
unter Führung ſeines Königs vollbracht, ließen erkennen, daß die
Kräfte der Nation überwiegend auf der geiſtigen Seite, in den
Idealen, lägen und daß nur durch eine Erneuerung des ganzen
geiſtigen Inhalts des Volkes diejenige Kraft erreicht werden könnte,
welche Preußen ſeine hohe, aber auch geſährdete Stellung ſicherte.
Wenn damals Friedrich Wilhelm III. alle Claſſen des Volkes auf-
rief, mitzuwirken an der Erneuerung der Nation, ſo haben Ew.
Majeſtät in der denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres
uns aufgerufen, die Schule für befugt und berufen erklärt, mitzu-
wirken an der Erneuerung des Volkes auf den Gebieten, welche durch
die Mächte des Umſturzes in Frage geſtellt ſind. Ew. Majeſtät
haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar die machwollſte,
aber auch die langſamſte und mühſamſte iſt, und daß erſt vom
Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schulen
erreicht werden können. Ew. Majeſtät haben erneut auf die
Bedeutung aufmerkſam gemacht, welche in der richtigen Aneignung
der Religion, in der Hervorhebung der ſittlich religiös bildenden
Momente unſrer preußiſchen Geſchichte eingeſchloſſen liegen, und wir
ſind Ew. Majeſtät aufs tiefſte in Dankbarkeit verpflichtet, in dieſer
energiſchen und krafwollen Weiſe uns den Weg gewiefen zu haben.
Dieſe Allerhöchſte Kundgebung vom 1. Mai 1889 fiel mitten hinein
in eine bereits machwolle Bewegung, welche auf dem Gebiete des
Unterrichtsweſens ganz Deutſchland ergriffen hatte. Wo die An-
fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen
Ereigniſſen; aber im Allgemeinen darf man wohl ſagen, daß die
veränderte Weltſtellung Preußens und Deutſchlands unſeren Blick
erweitert und uns allen die Frage auf die Lippen geführt hatte,
ob unſere Erziehung noch genau in denſelben Bahnen ſich bewegen
könne, wie früher, wo Deutſchland mehr ein in ſich gekehrtes, ein
einſames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unſere
Augen erweitert ſind, wo unſere Blicke ſich richten auf alle
Nationen, wo wir Colonien vor unſeren Augen haben, überall
haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der
bisher unſer Unterrichtsweſen umſchloſſen hielt, in dieſer oder
jener Weiſe durchbrechen müſſen. Mehr noch war das Streben zu
erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes Fortſchritte
mache, daß die Methode der Lehrer gebeſſert werde, daß man Zeit
gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen
wurde dieſe Bewegung eine um ſo machtvollere und intenſivere,
als in Preußen — es iſt nicht zu läugnen — durch eine über-
mäßige Zahl von höheren Schulen und durch eine übermäßige
Production von akademiſch Gebildeten alle gelehrten Berufsfächer
überfüllt waren und nun in der Noth, im Kampfe um das Daſein
eine Menge Zweifel auſtraten, ob die Schule ſelbſt oder die Unter-
richtsmethode eine Verſchuldung treffe. So ſind wir in Preußen im Gegen-
ſatz zu den ſüddeutſchen Staaten in eine Bewegung hineingekommen, in
der das Berechtigungsweſen in dem Kampf der Concurrenz eine hervor-
ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im Stande in einem einleitenden
Vortrage auch nur zu ſkizziren, in welchen Richtungen die Haupt-
bewegung ſich geſtaltet. Man kann aber wohl ſagen, daß von
den radicalſten Auffaſſungen bis zu den conſervativſten hin jede
Nuance eines neuen Vorſchlags ſich vorhanden findet. Das
preußiſche Schulweſen hat aber — und das muß doch wohl in
der Einleitung hervorgehoben werden — doch inſofern eine eminent
politiſche Bedeutung. als es ein einigendes Band innerhalb der
deutſchen Staaten geworden iſt. Nach Preußen haben ſich die
übrigen deutſchen Staaten gerichtet, mit Preußen haben die
übrigen deutſchen Staaten Verträge geſchloſſen über Lehrer-
befähigung und Reifezengniſſe; für Theologen und für Lehrer;
kurzum auf allen Gebieten hat ſich ein Band geſchloſſen
zwiſchen Preußen und den übrigen deutſchen Staaten. Und wenn
wir hier am heutigen Tage eine durchaus preußiſche Verſammlung
ſind, ſo müſſen wir uns doch eingedenk halten, daß das ge-
ſammte Deutſchland mit Aufmerkſamkeit auf unſre Berathungen
ſeine Blicke richtet. Zwar beſinden ſich hier unter uns, mit Er-
laubniß ihrer hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht
Preußen angehören, aber ich habe es den Herren erklärt und
wiederhole es hier, daß ſie nicht als Vertreter ihrer Staaten, ſon-
dern als Schulmänner, welche auf gewiſſen Gebieten Hervorragen-
des geleiſtet haben, hier ſind, und ich danke den Regierungen
auch an dieſer Stelle, daß ſie dieſe ausgezeichneten Kräfte zur Ver-
fügung geſtellt haben.

Was nun dieſe Berathungen auszeichnen ſoll, iſt die volle
Freiheit in der Discuſſion. Es iſt der dringende Wunſch der
Unterrichtsverwaltung, von den Herren, die hier verſammelt ſind,
[Spaltenumbruch] Stoff und Formen als ſichere und zuverläſſige Grundlage für die
weiteren Entſchlüſſe zu erhalten, welche Ew. Majeſtät demnächſt
zur allerhöchſten Kritik unterbreitet werden. Die Geſchäftsordnung
ſoll volle Freiheit geben. Eine Abſtimmung wird ſich nicht ver-
meiden laſſen; ſie wird aber nicht nach Zahlen erfolgen, ſondern
ſie wird erfolgen nach einzelnen Perſonen, ſo daß die Quellen der
Abſtimmung immer klar vor Augen liegen. Es iſt möglich, daß
eine zweite Leſung in einzelnen Fällen eintreten muß, wo ein
Ausgleich bei der erſten Leſung nicht erreicht wird. Darüber be-
halte ich mir weitere Entſchließungen vor.

Ich ſchließe damit, daß ich es ausſpreche: ich gehe in die
Berathung mit der ſichern Hoffnung auf Gelingen; ich bin über-
zeugt, daß alle verſammelten Herren mit voller Begeiſterung und
mit voller Hingebung den großen Aufgaben ſich widmen, welche
den Kern in dieſer Berathung bilden. Und wenn uns dabei die
Kraft erlahmen ſollte, ſo werden wir auf Ew. Majeſtät blicken und
in Dankbarkeit und Ehrfurcht uns des Eifers, der Liebe und Hin-
gebung erinnern, die Ew. Majeſtät unſerm geſammten Schulweſen
ſtets geſchenkt haben.“

Der Kaiſer erwiderte hierauf Folgendes:

Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen
hier und Ich danke dem Hrn. Miniſter perſönlich,
daß er trotz des Ueberladenſeins mit Arbeiten
aller Art es übernommen hat, den Vorſitz in dieſer
Verſammlung zu führen. Ich bin der feſten Ueber-
zeugung, daß kein Menſch mehr dazu ange than iſt
und geſchickter dazu angelegt iſt, eine ſolche Frage
richtig zu leiten und zu ihrer Löſung beizutragen,
wie unſer Hr. Cultusminiſter, von dem Ich
ganz beſtimmt und ohne Ueberhebung ſagen
kann, daß der deutſche Staat und das Königreich
Preußen ſeit langen Jahren keinen ſo tapferen, hin-
gebenden und hervorragenden Cultusminiſter ge-
habt haben, wie ihn. Ich hoffe, daß es gelingen
wird, das Werk mit Ihrer Hülfe nicht nur zu fördern,
ſondern auch zum Abſchluß zu bringen.“

Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der
Kaiſer nochmals das Wort zu einer längeren Rede, welche
etwa folgenden Wortlaut hatte:

Meine Herren! Ich habe Mir zuerſt ausgebeten, ein paar
Worte zu Ihnen zu reden, weil Mir daran liegt, daß die Herren
von vornherein wiſſen, wie Ich über die Sache denke. Es wird
entſchieden ſehr vieles zur Discuſſion kommen, ohne entſchieden
werden zu können, und Ich glaube, daß auch manche Punkte nebel-
haſt im Dunkeln bleiben werden; deßhalb habe Ich es für gut
gehalten, die Herren nicht im Zweifel zu laſſen, welches Meine
Anſichten darüber ſind. Zunächſt möchte Ich bemerken, daß es ſich
hier vor allen Dingen nicht um eine politiſche Schulfrage handelt,
ſondern lediglich um techniſche und pädagogiſche Maß-
nahmen,
die wir zu ergreifen haben, um unſre heranwachſende
Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltſtellung unſres Vater-
landes und auch unſres Lebens entſprechend heranzubilden. Und da
möchte Ich gleich Eins bemerken. Ich würde Mich ſehr gefreut haben,
wenn wir dieſe Prüfungen, dieſe Verhandlungen nicht mit einem
franzöſiſchen Wort „Schulenquête“, ſondern mit dem deutſchen
Wort „Schulfrage“ benannt hätten. „Frage“ iſt das alte deutſche
Wort für Vorunterſuchung, und Ich muß ſagen, das iſt auch
mehr oder weniger eine Vorunterſuchung. Rennen wir die Sache
doch kurzweg „Schulfrage“. Ich habe die 14 Punkte durchgeleſen
und ſinde, daß dieſelben leicht dazu verführen könnten, die Sache
zu ſchematiſiren. Das würde Ich im höchſten Grade bedauern. Die
Hauptſache iſt, daß der Geiſt der Sache erfaßt wird und nicht die
bloße Form. Und da habe Ich Meinerſeits einige Fragen aufgeſtellt
— Ich werde ſie eirculiren laſſen — von denen Ich hoffe, daß
ſie auch Berückſichtigung finden werden. Zunächſt „Schul-
hygiene außer Turnen
“, eine Sache, die ſehr genau erwogen
werden muß; ſodann „Verminderung des Lehrſtoffs“ (Er-
wägung des Auszuſcheidenden); ferner die „Lehrpläne für die
einzelnen Fächer
“, ſodann die „Lehrmethode für die
Organiſation
“ — es ſind bereits die Hauptpunkte vorgeſchla-
gen worden — ſechstens: „Iſt der Hauptballaſt aus den
Examina beſeitigt?
“ und ſiebentens: „Die Ueberbürdung
in Zukunft vermindern?
“ Achtens: „Wie denkt man ſich
die Controle, wenn das Werk zu Stande gekommen
iſt?
“ Reuntens: „Regelmäßige und außerordentliche
Reviſionen durch verſchiedene Oberbehörden?

Ich lege hier die Fragen auf den Tiſch des Hauſes; wer ſie
ſich anſehen will, kann ſich darüber weiter informiren. Die ganze
Frage, Meine Herren, hat ſich allmählich vollkommen von ſelber
entwickelt; Sie ſtehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich feſt
überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben
werden, durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieſelbe
wie eine reife Frucht der Nation überreichen werden.

Dieſer Cabinetsordre, die der Hr. Miniſter vorhin zu erwähnen
die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule
auf dem Standpunkt geſtanden hätte, auf welchem ſie hätte ſtehen
müſſen. Ich möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas ſcharf werden
ſollte, ſo bezieht ſich das auf keinen Menſchen perſönlich, ſondern auf das
Syſtem, auf die ganze Lage. Wenn die Schule gethan hätte, was von ihr
zu verlangen iſt — und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter ſpre-
chen, denn Ich habe auch auf dem Gymnaſium geſeſſen und weiß,
wie es da zugeht — ſo hätte ſie von vornherein von ſelber das Gefecht
gegen die Socialdemokratie übernehmen müſſen. Die Lehrercollegien
hätten alle mit einander die Sache feſt ergreifen und die heran-
wachſende Generation ſo inſtruiren müſſen, daß diejenigen jungen
Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig ſind, alſo von etwa 30 Jahren,
von ſelbſt bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im
Staate arbeiten könnte, um der Bewegung ſchneller Herr zu wer-
den. Das iſt aber nicht der Fall geweſen. Der letzte Moment,
wo unſre Schule noch für unſer ganzes vaterländiſches
Leben und für unſre Entwicklung maßgebend geweſen iſt,
iſt in den Jahren 1864, 1866 bis 1870 geweſen. Da waren
die preußiſchen Schulen, die preußiſchen Lehrercollegien Träger
des Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abi-
turient, der aus der Schule herauskam und als Einjähriger ein-
trat oder ins Leben hinausging, Alles war einig in dem einen
Punkte: das Deutſche Reich wird wieder aufgerichtet und Elſaß-
Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 hat die Sache
aufgehört. Das Reich iſt geeint; wir haben, was wir erreichen
wollten, und dabei iſt die Sache ſtehen geblieben. Jetzt mußte
die Schule, von der neu gewonnenen Baſis ausgehend, die Jugend
anführen und ihr klar machen, daß das neue Staatsweſen dazu
da wäre, um erhalten zu werden. Davon iſt nichts zu merken
geweſen; und jetzt ſchon entwickeln ſich in der kurzen
Zeit, ſeit der das Reich beſteht, centrifugale Tenden-
zen.
Ich kann das gewiß genau beurtheilen, weil Ich oben ſtehe und an
Mich alle ſolche Fragen heratreten. Der Grund iſt in der Erziehung
der Jugend zu ſuchen; wo fehlt es da? Da fehlt es allerdings
an manchen Stellen. Der Hauptgrund iſt, daß ſeit dem Jahr
1870 die Philologen als beati possidentes im Gymnafium ge-
ſeſſen haben und hauptſächlich auf den Lernſtoff, auf das Lernen
und Wiſſen den Nachdruck gelegt haben, aber nicht auf die
Bildung des Charakters und die Bedürffniſſe des

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Ew. Maje&#x017F;tät treten auch in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht in die Fuß&#x017F;tap&#x017F;en<lb/>
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&#x017F;oll volle Freiheit geben. Eine Ab&#x017F;timmung wird &#x017F;ich nicht ver-<lb/>
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[Seite 2.[2]/0002] München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337. Folge deſſen, der ſtändigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge- kommen, die Wahl v. Redens für gültig zu erklären, wegen der in dem Proteſte aufgeſtellten Behauptungen aber um die An- ſtellung von Erhebungen zu erſuchen. Alle Beredſamkeit des Berichterſtatters hat indeß nicht vermocht, die HH. Rickert und Auer von der Inſcenirung einer großen Entrüſtungsdebatte ab- zuhalten. Von conſervativer Seite fühlte ſich der Sachſe Mehnert zu einer ſcharfen Jungfernrede gegen die Social- demokratie gedrungen, und ſo tobte denn glücklich ein Partei- kampf, über welchem das Richteramt des Hauſes in Vergeſſen- heit zu gerathen ſchien. Immerhin hätte man den Herren dieſe Herzenserleichterung gönnen mögen, wenn man wenigſtens ſchließlich bei der Entſcheidung über den vorliegenden Fall zu der erforderlichen Unparteilichkeit zurückgekehrt wäre. Statt deſſen ſtimmte das Centrum unter Führung des Hrn. Windt- horſt und unter Schürung ſeiner welfiſchen Hoſpitanten mit den Freiſinnigen und den Socialdemokraten, kurz, das ganze Anticartell für die Beanſtandung der Wahl, obgleich Keiner, der ſich überhaupt um die Lage der Sache gekümmert hat, darüber in Zweifel ſein kann, daß die Gültigkeit der Wahl ſchließlich doch erklärt werden muß. Das heutige Votum kann alſo, wenn man ihm pſychologiſch auf den Grund geht, nur als ein Ausdruck des Parteihaſſes gegen die Nationalliberalen oder, wenn man will, gegen das Cartell aufgefaßt werden. Schön iſt das nicht, aber es iſt leider auch nicht unerhört. Den Vorzug vollſtändiger Neuheit dagegen hatte es, daß bei der nun folgenden Verhandlung über die Wahl im achten württembergiſchen Wahlkreiſe der Gewählte ſelbſt, und zwar als einziger Redner, auftrat. Sonſt pflegen die Betheiligten den Saal zu verlaſſen, Frhr. v. Münch aber entſchuldigte ſeine Durchbrechung aller Tradition mit dem Umſtande, daß er keinen einzigen Freund im Hauſe habe. Originell, das muß man dieſem rothen ſchwäbiſchen Baron laſſen, iſt er immer! In der Sache handelte es ſich um die berühmten maſſenhaften Freibierſpenden. Aus dem vorliegenden Material iſt die Commiſſion nicht zu einer beſtimmten Anſicht darüber gelangt, inwieweit dieſe Spenden das Wahlergebniß hätten beeinfluſſen können; ſie ſchlug deßhalb vor, die Beſchlußfaſſung über die Wahl bis nach erfolgter Beweiserhebung auszuſetzen, und das Haus trat dieſem Vorſchlage bei. Die Arbeiterſchutzcommiſſion iſt heute ziemlich langſam vorwärts gekommen. Die in den Paragraphen, welche von den behördlichen Anordnungen betreffs der zum Schutze von Leben, Geſundheit und Sittlichkeit der Arbeiter zu treffenden Maßnahmen handeln, in der erſten Leſung beſchloſſene gutacht- liche Mitwirkung der Berufsgenoſſenſchaften wurde ſeitens der verbündeten Regierungen heute von neuem angefochten, jedoch nach längerer Debatte, wenn auch in etwas modiſicirter Ge- ſtalt, aufrechterhalten. Eine ſeltſame Ueberraſchung brachte ein Antrag Gutfleiſch. Derſelbe wollte einen neuen Para- graphen einfügen, nach welchem die in erſter Leſung nur in dem Abſchnitt über die Betriebsbeamten beſchloſſene Beſtim- mung, daß jeder der beiden Theile vor Ablauf der vertrags- mäßigen Zeit ohne Innehaltung einer Kündigungsfriſt die Auf- hebung des Arbeitsverhältniſſes verlangen kann, wenn ein wichtiger, nach den Umſtänden des Falles die Aufhebung recht- fertigender Grund vorliegt, auf ſämmtliche Arbeiter Anwendung finden ſollte. Der Antrag würde, wie Jeder, der ihn ſich auf das praktiſche Leben angewandt denkt, ſofort einſieht, dem Contractbruch Thür und Thor öffnen. Er wurde gegen die Stimmen der Freiſinnigen und Socialdemokraten, ſowie der Centrumsmitglieder Graf Galen und Stötzel abgelehnt. Deutſches Reich. * Berlin, 4. Dec. Tel.Der Reichstag verwies heute, nachdem er die Vorlage wegen Helgolands in zweiter Leſung unverändert angenommen hatte, die Novelle zum Patent- geſetz an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern. Staats- ſecretär v. Boetticher hatte die Vorlage begründet, an der Debatte hatten ſich die Abgg. Goldſchmidt, v. Buol, Hultzſch, Dr. Hammacher und Münch betheiligt, die ins- geſammt die Vorlage im allgemeinen freudig begrüßten, aber betreffs einzelner Punkte, namentlich in der Gebührenfrage, bezüglich des Anſchluſſes an die Union und wegen der Friſt auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hauſe getriebene Heerde, von welcher bei den Bauernhäuſern immer ein oder mehrere Stücke abſchwenken, um den Heimſtall aufzuſuchen. Das iſt der rechte Nachgenuß des bald ſuchenden, bald tändeln- den Geiſtes, mit dem Sie die Ferien ausfüllen ſollen, die ich Ihnen geſchenkt habe. Gönnen Sie ſich dieſe auch, wenn Ihre Skizze erſt halb vollendet wäre, in welcher Sie den ‘Kampf um das Weib’ zu ſchildern ſuchen oder den ‘Kampf mit dem Erbfehler’ — natürlich höchſt ernſthaft und mit der ſtarken Seelen geziemenden Selbſtverſpottung. Bilden Sie ſich meinet- wegen ein, Sie hätten es mit Einfällen ihres müßigen Ge- hirns zu thun, welches von der leidenſchaftlichen Erregung der Liebe ausraſtet. Ich weiß freilich, daß Sie von verheerenden Leidenſchaften unangetaſtet blieben. Man beſchreibt nicht den Kampf, wenn man mitten darin ſteht, ſondern meiſt, wenn er vorüber und die überfallene Seele wieder ihre Vorpoſten aus- geſtellt hat. Häuſig auch nur, wenn man den Zuſchauer, den Schlachtenbummler abgegeben hat. Die Arbeit des Schriftſtellers iſt Nachdenken und Nachempfinden. Sie zweifeln an dem Hund, der auf dem Grabe des Herrn verhungert iſt? Und an dem Dichter, welchen die Eitelkeit der Welt nicht aus ſeinem Phantaſiereiche zurücklockt? Das finde ich ganz erklärlich. Es ſind gewöhnlich unterdrückte Triebe, welche zur Offenbarung eines wirklichen Innenlebens zwingen. Wir Modernen ſind aber gar nicht ſo triebkräftig. „Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar vor Ihre Füße hin. Ich weiß, daß Sie als kluger Menſch dieſe Frucht nicht genießen werden wie ein dummer Junge. Doch Sie heben das Fallobſt auf, betrachten es flüchtig und werfen es wieder weg. Thut es der Schöpfer anders mit ſeiner Welt? Wäre das geiſtige Schaffen ein unbewußtes Treiben gleicher Art, ſo hätten Sie ſchon manches Ihrer Werke weg- geworfen, in welches Sie die letzte Illuſion hineinbinden ließen, die Sie erübrigt: ‘den Wahn der Unſterblichkeit Ihres Namens’. Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen dieſen Wahn raube. Ihr geſchwächtes Nervenſyſtem bedarf desſelben, um ſich erholen zu können. Meine Curmethode beruht überhaupt darauf, Ihnen wieder einige Illuſionen einzuflößen, ohne welche der Menſch nie das prophetiſche Wort gewinnt, um die Herzen zu er- ſchließen. So, jetzt legen Sie ſich zu Bette und genießen Sie eine ausgiebige Nachtruhe ohne jeden Vererbungsalp, der ſich auf die Bruſt legt. Mehr kann ich als Arzt nicht für Sie thun. Das Beſte, die ſiegende Heilkraft, muß Ihr eigener Organismus hergeben. Schelten Sie ruhig auf den Arzt, wenn Ihre Geneſung nicht gelingt oder Sie ſich nach der überwundenen Krankheit zurückſehnen ſollten, welche Sie mitkleidswürdig gemacht.“ Deutſches Reich.der Nichtigkeitsbeſchwerde, Bedenken oder Wünſche äußerten. Morgen um 2 Uhr ſoll der Reſt der heutigen Tagesordnung erledigt und die erſte Berathung der Novelle zum Kranken- verſicherungsgeſetz begonnen werden. Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen. Aus dem „Reichs-Anzeiger“. * Berlin, 4. Dec. Telegramm.Die Conferenz zur Berathung von Fragen, das höhere Schulweſen be- treffend, wurde in Gegenwart des Kaiſers heute Vormittag 11 Uhr im großen Sitzungsſaale des Miniſteriums der geiſt- lichen ꝛc. Angelegenheiten eröffnet. Der Cultusminiſter v. Goßler leitete die Sitzung mit nachſtehender Anſprache ein: Genehmigen Ew. kaiſerliche und königliche Majeſtät, daß ich, ſicherlich aus dem Herzen und im Ramen aller Anweſenden, unſern ehrfurchtsvollſten, tiefgefühlteſten Dank ausſpreche für die warme Theilnahme, welche Sie der Erziehung unſrer Jugend zuwenden. Ew. Majeſtät treten auch in dieſer Hinſicht in die Fußſtapſen Ihrer erlauchten Vorfahren. Die Hohenzollern haben es allezeit als ihr Recht, aber auch als ihre Pflicht erachtet, unmittelbar be- ſtimmend in die Entwicklung und Erziehung der Jugend einzugreifen. Schon Ihr erlauchter Vorfahr Johann Georg erließ im Jahre 1573 die bekannte Viſitations- und Conſiſtorialordnung, welche auf Jahrhun- derte hinaus die Geſchicke der brandenburgiſchen Schule beſtimmte. Am Schluſſe ſeines thatenreichen Lebens erließ Kurfürſt Friedrich Wil- helm der Große die berühmte Schulordnung von Brandenburg und zwar auf lutheriſcher Grundlage. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I. erließ bereits im erſten Jahre ſeiner ſegensreichen Regierung die Cabinets- und Schulordnung, welche bis in dieſes Jahrhundert hinein das Fundament des Unterrichtsweſens bildete. Unermüd- lich hat er bis zum Schluß ſeines reichen Lebens über den Schulen gewaltet und was er auf dem Gebiet der Volksſchule gethan, iſt ja bekanntlich heute noch in den Provinzen Preußen geltendes Recht. Friedrich der Große trat in ſeiner Inſtruction für die lutheriſchen Oberconſiſtorien in die Fußſtapfen ſeines Vaters. Er erließ im Jahre 1763 das berühmte General- Schulreglement, und was er für die höheren Schulen geplant hatte, wurde ein Jahr nach ſeinem Tode Recht in der bekannten Inſtruction für das Oberſchulcollegium. Damals vollzog ſich zum erſten Male in Preußen, allen Ländern vorbildlich, eine ſorgfältige Abgrenzung der Schul- und Kirchenbehörden auf dem Gebiete des Unterrichtsweſens. Unſre ganze preußiſche Unterrichtsverwaltung und Geſetzgebung berubt aber auf der berühmten Cabinetsordre Ew. Majeſtät allerdurchlauchtigſten Urgroßvaters. Dieſe leider wenig bekannte Cabinetsordre vom Jahre 1817 fordert in wirk- lich ergreifender Weiſe die ganze Ration auf, bei der Erziehung der Jugend mitzuwirken. Die großen Thaten, welche Preußen unter Führung ſeines Königs vollbracht, ließen erkennen, daß die Kräfte der Nation überwiegend auf der geiſtigen Seite, in den Idealen, lägen und daß nur durch eine Erneuerung des ganzen geiſtigen Inhalts des Volkes diejenige Kraft erreicht werden könnte, welche Preußen ſeine hohe, aber auch geſährdete Stellung ſicherte. Wenn damals Friedrich Wilhelm III. alle Claſſen des Volkes auf- rief, mitzuwirken an der Erneuerung der Nation, ſo haben Ew. Majeſtät in der denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres uns aufgerufen, die Schule für befugt und berufen erklärt, mitzu- wirken an der Erneuerung des Volkes auf den Gebieten, welche durch die Mächte des Umſturzes in Frage geſtellt ſind. Ew. Majeſtät haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar die machwollſte, aber auch die langſamſte und mühſamſte iſt, und daß erſt vom Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schulen erreicht werden können. Ew. Majeſtät haben erneut auf die Bedeutung aufmerkſam gemacht, welche in der richtigen Aneignung der Religion, in der Hervorhebung der ſittlich religiös bildenden Momente unſrer preußiſchen Geſchichte eingeſchloſſen liegen, und wir ſind Ew. Majeſtät aufs tiefſte in Dankbarkeit verpflichtet, in dieſer energiſchen und krafwollen Weiſe uns den Weg gewiefen zu haben. Dieſe Allerhöchſte Kundgebung vom 1. Mai 1889 fiel mitten hinein in eine bereits machwolle Bewegung, welche auf dem Gebiete des Unterrichtsweſens ganz Deutſchland ergriffen hatte. Wo die An- fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen Ereigniſſen; aber im Allgemeinen darf man wohl ſagen, daß die veränderte Weltſtellung Preußens und Deutſchlands unſeren Blick erweitert und uns allen die Frage auf die Lippen geführt hatte, ob unſere Erziehung noch genau in denſelben Bahnen ſich bewegen könne, wie früher, wo Deutſchland mehr ein in ſich gekehrtes, ein einſames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unſere Augen erweitert ſind, wo unſere Blicke ſich richten auf alle Nationen, wo wir Colonien vor unſeren Augen haben, überall haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der bisher unſer Unterrichtsweſen umſchloſſen hielt, in dieſer oder jener Weiſe durchbrechen müſſen. Mehr noch war das Streben zu erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes Fortſchritte mache, daß die Methode der Lehrer gebeſſert werde, daß man Zeit gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen wurde dieſe Bewegung eine um ſo machtvollere und intenſivere, als in Preußen — es iſt nicht zu läugnen — durch eine über- mäßige Zahl von höheren Schulen und durch eine übermäßige Production von akademiſch Gebildeten alle gelehrten Berufsfächer überfüllt waren und nun in der Noth, im Kampfe um das Daſein eine Menge Zweifel auſtraten, ob die Schule ſelbſt oder die Unter- richtsmethode eine Verſchuldung treffe. So ſind wir in Preußen im Gegen- ſatz zu den ſüddeutſchen Staaten in eine Bewegung hineingekommen, in der das Berechtigungsweſen in dem Kampf der Concurrenz eine hervor- ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im Stande in einem einleitenden Vortrage auch nur zu ſkizziren, in welchen Richtungen die Haupt- bewegung ſich geſtaltet. Man kann aber wohl ſagen, daß von den radicalſten Auffaſſungen bis zu den conſervativſten hin jede Nuance eines neuen Vorſchlags ſich vorhanden findet. Das preußiſche Schulweſen hat aber — und das muß doch wohl in der Einleitung hervorgehoben werden — doch inſofern eine eminent politiſche Bedeutung. als es ein einigendes Band innerhalb der deutſchen Staaten geworden iſt. Nach Preußen haben ſich die übrigen deutſchen Staaten gerichtet, mit Preußen haben die übrigen deutſchen Staaten Verträge geſchloſſen über Lehrer- befähigung und Reifezengniſſe; für Theologen und für Lehrer; kurzum auf allen Gebieten hat ſich ein Band geſchloſſen zwiſchen Preußen und den übrigen deutſchen Staaten. Und wenn wir hier am heutigen Tage eine durchaus preußiſche Verſammlung ſind, ſo müſſen wir uns doch eingedenk halten, daß das ge- ſammte Deutſchland mit Aufmerkſamkeit auf unſre Berathungen ſeine Blicke richtet. Zwar beſinden ſich hier unter uns, mit Er- laubniß ihrer hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht Preußen angehören, aber ich habe es den Herren erklärt und wiederhole es hier, daß ſie nicht als Vertreter ihrer Staaten, ſon- dern als Schulmänner, welche auf gewiſſen Gebieten Hervorragen- des geleiſtet haben, hier ſind, und ich danke den Regierungen auch an dieſer Stelle, daß ſie dieſe ausgezeichneten Kräfte zur Ver- fügung geſtellt haben. Was nun dieſe Berathungen auszeichnen ſoll, iſt die volle Freiheit in der Discuſſion. Es iſt der dringende Wunſch der Unterrichtsverwaltung, von den Herren, die hier verſammelt ſind, Stoff und Formen als ſichere und zuverläſſige Grundlage für die weiteren Entſchlüſſe zu erhalten, welche Ew. Majeſtät demnächſt zur allerhöchſten Kritik unterbreitet werden. Die Geſchäftsordnung ſoll volle Freiheit geben. Eine Abſtimmung wird ſich nicht ver- meiden laſſen; ſie wird aber nicht nach Zahlen erfolgen, ſondern ſie wird erfolgen nach einzelnen Perſonen, ſo daß die Quellen der Abſtimmung immer klar vor Augen liegen. Es iſt möglich, daß eine zweite Leſung in einzelnen Fällen eintreten muß, wo ein Ausgleich bei der erſten Leſung nicht erreicht wird. Darüber be- halte ich mir weitere Entſchließungen vor. Ich ſchließe damit, daß ich es ausſpreche: ich gehe in die Berathung mit der ſichern Hoffnung auf Gelingen; ich bin über- zeugt, daß alle verſammelten Herren mit voller Begeiſterung und mit voller Hingebung den großen Aufgaben ſich widmen, welche den Kern in dieſer Berathung bilden. Und wenn uns dabei die Kraft erlahmen ſollte, ſo werden wir auf Ew. Majeſtät blicken und in Dankbarkeit und Ehrfurcht uns des Eifers, der Liebe und Hin- gebung erinnern, die Ew. Majeſtät unſerm geſammten Schulweſen ſtets geſchenkt haben.“ Der Kaiſer erwiderte hierauf Folgendes: „Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen hier und Ich danke dem Hrn. Miniſter perſönlich, daß er trotz des Ueberladenſeins mit Arbeiten aller Art es übernommen hat, den Vorſitz in dieſer Verſammlung zu führen. Ich bin der feſten Ueber- zeugung, daß kein Menſch mehr dazu ange than iſt und geſchickter dazu angelegt iſt, eine ſolche Frage richtig zu leiten und zu ihrer Löſung beizutragen, wie unſer Hr. Cultusminiſter, von dem Ich ganz beſtimmt und ohne Ueberhebung ſagen kann, daß der deutſche Staat und das Königreich Preußen ſeit langen Jahren keinen ſo tapferen, hin- gebenden und hervorragenden Cultusminiſter ge- habt haben, wie ihn. Ich hoffe, daß es gelingen wird, das Werk mit Ihrer Hülfe nicht nur zu fördern, ſondern auch zum Abſchluß zu bringen.“ Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der Kaiſer nochmals das Wort zu einer längeren Rede, welche etwa folgenden Wortlaut hatte: Meine Herren! Ich habe Mir zuerſt ausgebeten, ein paar Worte zu Ihnen zu reden, weil Mir daran liegt, daß die Herren von vornherein wiſſen, wie Ich über die Sache denke. Es wird entſchieden ſehr vieles zur Discuſſion kommen, ohne entſchieden werden zu können, und Ich glaube, daß auch manche Punkte nebel- haſt im Dunkeln bleiben werden; deßhalb habe Ich es für gut gehalten, die Herren nicht im Zweifel zu laſſen, welches Meine Anſichten darüber ſind. Zunächſt möchte Ich bemerken, daß es ſich hier vor allen Dingen nicht um eine politiſche Schulfrage handelt, ſondern lediglich um techniſche und pädagogiſche Maß- nahmen, die wir zu ergreifen haben, um unſre heranwachſende Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltſtellung unſres Vater- landes und auch unſres Lebens entſprechend heranzubilden. Und da möchte Ich gleich Eins bemerken. Ich würde Mich ſehr gefreut haben, wenn wir dieſe Prüfungen, dieſe Verhandlungen nicht mit einem franzöſiſchen Wort „Schulenquête“, ſondern mit dem deutſchen Wort „Schulfrage“ benannt hätten. „Frage“ iſt das alte deutſche Wort für Vorunterſuchung, und Ich muß ſagen, das iſt auch mehr oder weniger eine Vorunterſuchung. Rennen wir die Sache doch kurzweg „Schulfrage“. Ich habe die 14 Punkte durchgeleſen und ſinde, daß dieſelben leicht dazu verführen könnten, die Sache zu ſchematiſiren. Das würde Ich im höchſten Grade bedauern. Die Hauptſache iſt, daß der Geiſt der Sache erfaßt wird und nicht die bloße Form. Und da habe Ich Meinerſeits einige Fragen aufgeſtellt — Ich werde ſie eirculiren laſſen — von denen Ich hoffe, daß ſie auch Berückſichtigung finden werden. Zunächſt „Schul- hygiene außer Turnen“, eine Sache, die ſehr genau erwogen werden muß; ſodann „Verminderung des Lehrſtoffs“ (Er- wägung des Auszuſcheidenden); ferner die „Lehrpläne für die einzelnen Fächer“, ſodann die „Lehrmethode für die Organiſation“ — es ſind bereits die Hauptpunkte vorgeſchla- gen worden — ſechstens: „Iſt der Hauptballaſt aus den Examina beſeitigt?“ und ſiebentens: „Die Ueberbürdung in Zukunft vermindern?“ Achtens: „Wie denkt man ſich die Controle, wenn das Werk zu Stande gekommen iſt?“ Reuntens: „Regelmäßige und außerordentliche Reviſionen durch verſchiedene Oberbehörden?“ Ich lege hier die Fragen auf den Tiſch des Hauſes; wer ſie ſich anſehen will, kann ſich darüber weiter informiren. Die ganze Frage, Meine Herren, hat ſich allmählich vollkommen von ſelber entwickelt; Sie ſtehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich feſt überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben werden, durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieſelbe wie eine reife Frucht der Nation überreichen werden. Dieſer Cabinetsordre, die der Hr. Miniſter vorhin zu erwähnen die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule auf dem Standpunkt geſtanden hätte, auf welchem ſie hätte ſtehen müſſen. Ich möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas ſcharf werden ſollte, ſo bezieht ſich das auf keinen Menſchen perſönlich, ſondern auf das Syſtem, auf die ganze Lage. Wenn die Schule gethan hätte, was von ihr zu verlangen iſt — und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter ſpre- chen, denn Ich habe auch auf dem Gymnaſium geſeſſen und weiß, wie es da zugeht — ſo hätte ſie von vornherein von ſelber das Gefecht gegen die Socialdemokratie übernehmen müſſen. Die Lehrercollegien hätten alle mit einander die Sache feſt ergreifen und die heran- wachſende Generation ſo inſtruiren müſſen, daß diejenigen jungen Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig ſind, alſo von etwa 30 Jahren, von ſelbſt bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung ſchneller Herr zu wer- den. Das iſt aber nicht der Fall geweſen. Der letzte Moment, wo unſre Schule noch für unſer ganzes vaterländiſches Leben und für unſre Entwicklung maßgebend geweſen iſt, iſt in den Jahren 1864, 1866 bis 1870 geweſen. Da waren die preußiſchen Schulen, die preußiſchen Lehrercollegien Träger des Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abi- turient, der aus der Schule herauskam und als Einjähriger ein- trat oder ins Leben hinausging, Alles war einig in dem einen Punkte: das Deutſche Reich wird wieder aufgerichtet und Elſaß- Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 hat die Sache aufgehört. Das Reich iſt geeint; wir haben, was wir erreichen wollten, und dabei iſt die Sache ſtehen geblieben. Jetzt mußte die Schule, von der neu gewonnenen Baſis ausgehend, die Jugend anführen und ihr klar machen, daß das neue Staatsweſen dazu da wäre, um erhalten zu werden. Davon iſt nichts zu merken geweſen; und jetzt ſchon entwickeln ſich in der kurzen Zeit, ſeit der das Reich beſteht, centrifugale Tenden- zen. Ich kann das gewiß genau beurtheilen, weil Ich oben ſtehe und an Mich alle ſolche Fragen heratreten. Der Grund iſt in der Erziehung der Jugend zu ſuchen; wo fehlt es da? Da fehlt es allerdings an manchen Stellen. Der Hauptgrund iſt, daß ſeit dem Jahr 1870 die Philologen als beati possidentes im Gymnafium ge- ſeſſen haben und hauptſächlich auf den Lernſtoff, auf das Lernen und Wiſſen den Nachdruck gelegt haben, aber nicht auf die Bildung des Charakters und die Bedürffniſſe des

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 337, 5. Dezember 1890, S. Seite 2.[2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine337_1890/2>, abgerufen am 21.11.2024.