Allgemeine Zeitung, Nr. 337, 5. Dezember 1890.München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337. [Spaltenumbruch]
Folge dessen, der ständigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge- Die Arbeiterschutzcommission ist heute ziemlich langsam Deutsches Reich. * Berlin, 4. Dec. Tel. Der Reichstag verwies heute, auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hause getriebene "Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar Deutsches Reich. der Nichtigkeitsbeschwerde, Bedenken oder Wünsche äußerten. Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen. Aus dem "Reichs-Anzeiger". Die Conferenz zur Genehmigen Ew. kaiserliche und königliche Majestät, daß ich, Was nun diese Berathungen auszeichnen soll, ist die volle Ich schließe damit, daß ich es ausspreche: ich gehe in die Der Kaiser erwiderte hierauf Folgendes: "Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der Meine Herren! Ich habe Mir zuerst ausgebeten, ein paar Ich lege hier die Fragen auf den Tisch des Hauses; wer sie Dieser Cabinetsordre, die der Hr. Minister vorhin zu erwähnen München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337. [Spaltenumbruch]
Folge deſſen, der ſtändigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge- Die Arbeiterſchutzcommiſſion iſt heute ziemlich langſam Deutſches Reich. * Berlin, 4. Dec. Tel. Der Reichstag verwies heute, auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hauſe getriebene „Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar Deutſches Reich. der Nichtigkeitsbeſchwerde, Bedenken oder Wünſche äußerten. Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen. Aus dem „Reichs-Anzeiger“. Die Conferenz zur Genehmigen Ew. kaiſerliche und königliche Majeſtät, daß ich, Was nun dieſe Berathungen auszeichnen ſoll, iſt die volle Ich ſchließe damit, daß ich es ausſpreche: ich gehe in die Der Kaiſer erwiderte hierauf Folgendes: „Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der Meine Herren! Ich habe Mir zuerſt ausgebeten, ein paar Ich lege hier die Fragen auf den Tiſch des Hauſes; wer ſie Dieſer Cabinetsordre, die der Hr. Miniſter vorhin zu erwähnen <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0002" n="Seite 2.[2]"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337.</hi> </fw><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div xml:id="a01b" prev="#a01a" type="jComment" n="2"> <p>Folge deſſen, der ſtändigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge-<lb/> kommen, die Wahl v. Redens für gültig zu erklären, wegen<lb/> der in dem Proteſte aufgeſtellten Behauptungen aber um die An-<lb/> ſtellung von Erhebungen zu erſuchen. Alle Beredſamkeit des<lb/> Berichterſtatters hat indeß nicht vermocht, die HH. Rickert und<lb/> Auer von der Inſcenirung einer großen Entrüſtungsdebatte ab-<lb/> zuhalten. Von conſervativer Seite fühlte ſich der Sachſe<lb/> Mehnert zu einer ſcharfen Jungfernrede gegen die Social-<lb/> demokratie gedrungen, und ſo tobte denn glücklich ein Partei-<lb/> kampf, über welchem das Richteramt des Hauſes in Vergeſſen-<lb/> heit zu gerathen ſchien. Immerhin hätte man den Herren<lb/> dieſe Herzenserleichterung gönnen mögen, wenn man wenigſtens<lb/> ſchließlich bei der Entſcheidung über den vorliegenden Fall zu<lb/> der erforderlichen Unparteilichkeit zurückgekehrt wäre. Statt<lb/> deſſen ſtimmte das Centrum unter Führung des Hrn. Windt-<lb/> horſt und unter Schürung ſeiner welfiſchen Hoſpitanten mit<lb/> den Freiſinnigen und den Socialdemokraten, kurz, das ganze<lb/> Anticartell für die Beanſtandung der Wahl, obgleich Keiner,<lb/> der ſich überhaupt um die Lage der Sache gekümmert hat,<lb/> darüber in Zweifel ſein kann, daß die Gültigkeit der Wahl<lb/> ſchließlich doch erklärt werden muß. Das heutige Votum kann<lb/> alſo, wenn man ihm pſychologiſch auf den Grund geht, nur<lb/> als ein Ausdruck des Parteihaſſes gegen die Nationalliberalen<lb/> oder, wenn man will, gegen das Cartell aufgefaßt werden.<lb/> Schön iſt das nicht, aber es iſt leider auch nicht unerhört.<lb/> Den Vorzug vollſtändiger Neuheit dagegen hatte es, daß bei<lb/> der nun folgenden Verhandlung über die Wahl im achten<lb/> württembergiſchen Wahlkreiſe der Gewählte ſelbſt, und zwar<lb/> als einziger Redner, auftrat. Sonſt pflegen die Betheiligten<lb/> den Saal zu verlaſſen, Frhr. v. Münch aber entſchuldigte ſeine<lb/> Durchbrechung aller Tradition mit dem Umſtande, daß er<lb/> keinen einzigen Freund im Hauſe habe. Originell, das muß<lb/> man dieſem rothen ſchwäbiſchen Baron laſſen, iſt er immer!<lb/> In der Sache handelte es ſich um die berühmten maſſenhaften<lb/> Freibierſpenden. Aus dem vorliegenden Material iſt die Commiſſion<lb/> nicht zu einer beſtimmten Anſicht darüber gelangt, inwieweit dieſe<lb/> Spenden das Wahlergebniß hätten beeinfluſſen können; ſie<lb/> ſchlug deßhalb vor, die Beſchlußfaſſung über die Wahl bis<lb/> nach erfolgter Beweiserhebung auszuſetzen, und das Haus trat<lb/> dieſem Vorſchlage bei.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Arbeiterſchutzcommiſſion</hi> iſt heute ziemlich langſam<lb/> vorwärts gekommen. Die in den Paragraphen, welche von<lb/> den behördlichen Anordnungen betreffs der zum Schutze von<lb/> Leben, Geſundheit und Sittlichkeit der Arbeiter zu treffenden<lb/> Maßnahmen handeln, in der erſten Leſung beſchloſſene gutacht-<lb/> liche Mitwirkung der Berufsgenoſſenſchaften wurde ſeitens der<lb/> verbündeten Regierungen heute von neuem angefochten, jedoch<lb/> nach längerer Debatte, wenn auch in etwas modiſicirter Ge-<lb/> ſtalt, aufrechterhalten. Eine ſeltſame Ueberraſchung brachte<lb/> ein Antrag Gutfleiſch. Derſelbe wollte einen neuen Para-<lb/> graphen einfügen, nach welchem die in erſter Leſung nur in<lb/> dem Abſchnitt über die Betriebsbeamten beſchloſſene Beſtim-<lb/> mung, daß jeder der beiden Theile vor Ablauf der vertrags-<lb/> mäßigen Zeit ohne Innehaltung einer Kündigungsfriſt die Auf-<lb/> hebung des Arbeitsverhältniſſes verlangen kann, wenn ein<lb/> wichtiger, nach den Umſtänden des Falles die Aufhebung recht-<lb/> fertigender Grund vorliegt, auf ſämmtliche Arbeiter Anwendung<lb/> finden ſollte. Der Antrag würde, wie Jeder, der ihn ſich auf<lb/> das praktiſche Leben angewandt denkt, ſofort einſieht, dem<lb/> Contractbruch Thür und Thor öffnen. Er wurde gegen die<lb/> Stimmen der Freiſinnigen und Socialdemokraten, ſowie der<lb/> Centrumsmitglieder Graf Galen und Stötzel abgelehnt.</p> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Deutſches Reich.</hi> </hi> </head><lb/> <div xml:id="a03a" next="#a03b" type="jArticle" n="3"> <dateline>* <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 4. Dec. <hi rendition="#g">Tel.</hi></dateline> <p>Der <hi rendition="#g">Reichstag</hi> verwies heute,<lb/> nachdem er die Vorlage wegen <hi rendition="#g">Helgolands</hi> in zweiter Leſung<lb/> unverändert angenommen hatte, die <hi rendition="#g">Novelle</hi> zum <hi rendition="#g">Patent-<lb/> geſetz</hi> an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern. Staats-<lb/> ſecretär v. <hi rendition="#g">Boetticher</hi> hatte die Vorlage begründet, an der<lb/> Debatte hatten ſich die Abgg. <hi rendition="#g">Goldſchmidt, v. Buol,<lb/> Hultzſch,</hi> <hi rendition="#aq">Dr.</hi> <hi rendition="#g">Hammacher</hi> und <hi rendition="#g">Münch</hi> betheiligt, die ins-<lb/> geſammt die Vorlage im allgemeinen freudig begrüßten, aber<lb/> betreffs einzelner Punkte, namentlich in der Gebührenfrage,<lb/> bezüglich des Anſchluſſes an die Union und wegen der Friſt</p> </div> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jFeuilleton" n="1"> <div xml:id="a02b" prev="#a02a" type="jArticle" n="2"> <p>auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hauſe getriebene<lb/> Heerde, von welcher bei den Bauernhäuſern immer ein oder<lb/> mehrere Stücke abſchwenken, um den Heimſtall aufzuſuchen.<lb/> Das iſt der rechte Nachgenuß des bald ſuchenden, bald tändeln-<lb/> den Geiſtes, mit dem Sie die Ferien ausfüllen ſollen, die ich<lb/> Ihnen geſchenkt habe. Gönnen Sie ſich dieſe auch, wenn Ihre<lb/> Skizze erſt halb vollendet wäre, in welcher Sie den ‘Kampf<lb/> um das Weib’ zu ſchildern ſuchen oder den ‘Kampf mit dem<lb/> Erbfehler’ — natürlich höchſt ernſthaft und mit der ſtarken<lb/> Seelen geziemenden Selbſtverſpottung. Bilden Sie ſich meinet-<lb/> wegen ein, Sie hätten es mit Einfällen ihres müßigen Ge-<lb/> hirns zu thun, welches von der leidenſchaftlichen Erregung der<lb/> Liebe ausraſtet. Ich weiß freilich, daß Sie von verheerenden<lb/> Leidenſchaften unangetaſtet blieben. Man beſchreibt nicht den<lb/> Kampf, wenn man mitten darin ſteht, ſondern meiſt, wenn er<lb/> vorüber und die überfallene Seele wieder ihre Vorpoſten aus-<lb/> geſtellt hat. Häuſig auch nur, wenn man den Zuſchauer, den<lb/> Schlachtenbummler abgegeben hat. Die Arbeit des Schriftſtellers<lb/> iſt Nachdenken und Nachempfinden. Sie zweifeln an dem Hund,<lb/> der auf dem Grabe des Herrn verhungert iſt? Und an dem<lb/> Dichter, welchen die Eitelkeit der Welt <hi rendition="#g">nicht</hi> aus ſeinem<lb/> Phantaſiereiche zurücklockt? Das finde ich ganz erklärlich. Es<lb/> ſind gewöhnlich unterdrückte Triebe, welche zur Offenbarung<lb/> eines wirklichen Innenlebens zwingen. Wir Modernen ſind<lb/> aber gar nicht ſo triebkräftig.</p><lb/> <p>„Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar<lb/> vor Ihre Füße hin. Ich weiß, daß Sie als kluger Menſch<lb/> dieſe Frucht nicht genießen werden wie ein dummer Junge.<lb/> Doch Sie heben das Fallobſt auf, betrachten es flüchtig und<lb/> werfen es wieder weg. Thut es der Schöpfer anders mit ſeiner<lb/> Welt? Wäre das geiſtige Schaffen ein unbewußtes Treiben<lb/> gleicher Art, ſo hätten Sie ſchon manches Ihrer Werke weg-<lb/> geworfen, in welches Sie die letzte Illuſion hineinbinden ließen,<lb/> die Sie erübrigt: ‘den Wahn der Unſterblichkeit <hi rendition="#g">Ihres</hi> Namens’.<lb/> Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen dieſen Wahn raube. Ihr<lb/> geſchwächtes Nervenſyſtem bedarf desſelben, um ſich erholen zu<lb/> können. Meine Curmethode beruht überhaupt darauf, Ihnen<lb/> wieder einige Illuſionen einzuflößen, ohne welche der Menſch<lb/> nie das prophetiſche Wort gewinnt, um die Herzen zu er-<lb/> ſchließen. So, jetzt legen Sie ſich zu Bette und genießen Sie<lb/> eine ausgiebige Nachtruhe ohne jeden Vererbungsalp, der<lb/> ſich auf die Bruſt legt. Mehr kann ich als Arzt nicht für Sie<lb/> thun. Das Beſte, die ſiegende Heilkraft, muß Ihr eigener<lb/> Organismus hergeben. Schelten Sie ruhig auf den Arzt, wenn<lb/> Ihre Geneſung nicht gelingt oder Sie ſich nach der überwundenen<lb/> Krankheit zurückſehnen ſollten, welche Sie mitkleidswürdig gemacht.“</p> </div> </div><lb/> <cb/> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Deutſches Reich.</hi> </hi> </head> <div xml:id="a03b" prev="#a03a" type="jArticle" n="3"> <p>der Nichtigkeitsbeſchwerde, Bedenken oder Wünſche äußerten.<lb/> Morgen um 2 Uhr ſoll der Reſt der heutigen Tagesordnung<lb/> erledigt und die erſte Berathung der Novelle zum Kranken-<lb/> verſicherungsgeſetz begonnen werden.</p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jComment" n="2"> <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b">Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen.</hi> </hi> </head><lb/> <argument> <p> <hi rendition="#g">Aus dem „Reichs-Anzeiger“.</hi> </p> </argument><lb/> <dateline>* <hi rendition="#b">Berlin,</hi> 4. Dec. <hi rendition="#g">Telegramm.</hi></dateline> <p>Die <hi rendition="#g">Conferenz zur<lb/> Berathung von Fragen, das höhere Schulweſen be-<lb/> treffend,</hi> wurde in Gegenwart des Kaiſers heute Vormittag<lb/> 11 Uhr im großen Sitzungsſaale des Miniſteriums der geiſt-<lb/> lichen ꝛc. Angelegenheiten eröffnet. Der Cultusminiſter <hi rendition="#b">v. Goßler</hi><lb/> leitete die Sitzung mit nachſtehender Anſprache ein:</p><lb/> <p>Genehmigen Ew. kaiſerliche und königliche Majeſtät, daß ich,<lb/> ſicherlich aus dem Herzen und im Ramen aller Anweſenden, unſern<lb/> ehrfurchtsvollſten, tiefgefühlteſten Dank ausſpreche für die warme<lb/> Theilnahme, welche Sie der Erziehung unſrer Jugend zuwenden.<lb/> Ew. Majeſtät treten auch in dieſer Hinſicht in die Fußſtapſen<lb/> Ihrer erlauchten Vorfahren. Die Hohenzollern haben es allezeit<lb/> als ihr Recht, aber auch als ihre Pflicht erachtet, unmittelbar be-<lb/> ſtimmend in die Entwicklung und Erziehung der Jugend einzugreifen.<lb/> Schon Ihr erlauchter Vorfahr Johann Georg erließ im Jahre 1573 die<lb/> bekannte Viſitations- und Conſiſtorialordnung, welche auf Jahrhun-<lb/> derte hinaus die Geſchicke der brandenburgiſchen Schule beſtimmte. Am<lb/> Schluſſe ſeines thatenreichen Lebens erließ Kurfürſt Friedrich Wil-<lb/> helm der Große die berühmte Schulordnung von Brandenburg und<lb/> zwar auf lutheriſcher Grundlage. Sein Enkel Friedrich Wilhelm <hi rendition="#aq">I.</hi><lb/> erließ bereits im erſten Jahre ſeiner ſegensreichen Regierung die<lb/> Cabinets- und Schulordnung, welche bis in dieſes Jahrhundert<lb/> hinein das Fundament des Unterrichtsweſens bildete. Unermüd-<lb/> lich hat er bis zum Schluß ſeines reichen Lebens über den Schulen<lb/> gewaltet und was er auf dem Gebiet der Volksſchule gethan,<lb/> iſt ja bekanntlich heute noch in den Provinzen Preußen<lb/> geltendes Recht. Friedrich der Große trat in ſeiner Inſtruction<lb/> für die lutheriſchen Oberconſiſtorien in die Fußſtapfen ſeines<lb/> Vaters. Er erließ im Jahre 1763 das berühmte <hi rendition="#g">General-<lb/> Schulreglement,</hi> und was er für die höheren Schulen geplant<lb/> hatte, wurde ein Jahr nach ſeinem Tode Recht in der bekannten<lb/> Inſtruction für das Oberſchulcollegium. Damals vollzog ſich zum<lb/> erſten Male in Preußen, allen Ländern vorbildlich, eine ſorgfältige<lb/> Abgrenzung der Schul- und Kirchenbehörden auf dem Gebiete des<lb/> Unterrichtsweſens. Unſre ganze preußiſche Unterrichtsverwaltung<lb/> und Geſetzgebung berubt aber auf der berühmten Cabinetsordre<lb/> Ew. Majeſtät allerdurchlauchtigſten Urgroßvaters. Dieſe leider<lb/> wenig bekannte Cabinetsordre vom Jahre 1817 fordert in wirk-<lb/> lich ergreifender Weiſe die ganze Ration auf, bei der Erziehung<lb/> der Jugend mitzuwirken. Die großen Thaten, welche Preußen<lb/> unter Führung ſeines Königs vollbracht, ließen erkennen, daß die<lb/> Kräfte der Nation überwiegend auf der geiſtigen Seite, in den<lb/> Idealen, lägen und daß nur durch eine Erneuerung des ganzen<lb/> geiſtigen Inhalts des Volkes diejenige Kraft erreicht werden könnte,<lb/> welche Preußen ſeine hohe, aber auch geſährdete Stellung ſicherte.<lb/> Wenn damals Friedrich Wilhelm <hi rendition="#aq">III.</hi> alle Claſſen des Volkes auf-<lb/> rief, mitzuwirken an der Erneuerung der Nation, ſo haben Ew.<lb/> Majeſtät in der denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres<lb/> uns aufgerufen, die Schule für befugt und berufen erklärt, mitzu-<lb/> wirken an der Erneuerung des Volkes auf den Gebieten, welche durch<lb/> die Mächte des Umſturzes in Frage geſtellt ſind. Ew. Majeſtät<lb/> haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar die machwollſte,<lb/> aber auch die langſamſte und mühſamſte iſt, und daß erſt vom<lb/> Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schulen<lb/> erreicht werden können. Ew. Majeſtät haben erneut auf die<lb/> Bedeutung aufmerkſam gemacht, welche in der richtigen Aneignung<lb/> der Religion, in der Hervorhebung der ſittlich religiös bildenden<lb/> Momente unſrer preußiſchen Geſchichte eingeſchloſſen liegen, und wir<lb/> ſind Ew. Majeſtät aufs tiefſte in Dankbarkeit verpflichtet, in dieſer<lb/> energiſchen und krafwollen Weiſe uns den Weg gewiefen zu haben.<lb/> Dieſe Allerhöchſte Kundgebung vom 1. Mai 1889 fiel mitten hinein<lb/> in eine bereits machwolle Bewegung, welche auf dem Gebiete des<lb/> Unterrichtsweſens ganz Deutſchland ergriffen hatte. Wo die An-<lb/> fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen<lb/> Ereigniſſen; aber im Allgemeinen darf man wohl ſagen, daß die<lb/> veränderte Weltſtellung Preußens und Deutſchlands unſeren Blick<lb/> erweitert und uns allen die Frage auf die Lippen geführt hatte,<lb/> ob unſere Erziehung noch genau in denſelben Bahnen ſich bewegen<lb/> könne, wie früher, wo Deutſchland mehr ein in ſich gekehrtes, ein<lb/> einſames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unſere<lb/> Augen erweitert ſind, wo unſere Blicke ſich richten auf alle<lb/> Nationen, wo wir Colonien vor unſeren Augen haben, überall<lb/> haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der<lb/> bisher unſer Unterrichtsweſen umſchloſſen hielt, in dieſer oder<lb/> jener Weiſe durchbrechen müſſen. Mehr noch war das Streben zu<lb/> erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes Fortſchritte<lb/> mache, daß die Methode der Lehrer gebeſſert werde, daß man Zeit<lb/> gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen<lb/> wurde dieſe Bewegung eine um ſo machtvollere und intenſivere,<lb/> als in Preußen — es iſt nicht zu läugnen — durch eine über-<lb/> mäßige Zahl von höheren Schulen und durch eine übermäßige<lb/> Production von akademiſch Gebildeten alle gelehrten Berufsfächer<lb/> überfüllt waren und nun in der Noth, im Kampfe um das Daſein<lb/> eine Menge Zweifel auſtraten, ob die Schule ſelbſt oder die Unter-<lb/> richtsmethode eine Verſchuldung treffe. So ſind wir in Preußen im Gegen-<lb/> ſatz zu den ſüddeutſchen Staaten in eine Bewegung hineingekommen, in<lb/> der das Berechtigungsweſen in dem Kampf der Concurrenz eine hervor-<lb/> ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im Stande in einem einleitenden<lb/> Vortrage auch nur zu ſkizziren, in welchen Richtungen die Haupt-<lb/> bewegung ſich geſtaltet. Man kann aber wohl ſagen, daß von<lb/> den radicalſten Auffaſſungen bis zu den conſervativſten hin jede<lb/> Nuance eines neuen Vorſchlags ſich vorhanden findet. Das<lb/> preußiſche Schulweſen hat aber — und das muß doch wohl in<lb/> der Einleitung hervorgehoben werden — doch inſofern eine eminent<lb/> politiſche Bedeutung. als es ein einigendes Band innerhalb der<lb/> deutſchen Staaten geworden iſt. Nach Preußen haben ſich die<lb/> übrigen deutſchen Staaten gerichtet, mit Preußen haben die<lb/> übrigen deutſchen Staaten Verträge geſchloſſen über Lehrer-<lb/> befähigung und Reifezengniſſe; für Theologen und für Lehrer;<lb/> kurzum auf allen Gebieten hat ſich ein Band geſchloſſen<lb/> zwiſchen Preußen und den übrigen deutſchen Staaten. Und wenn<lb/> wir hier am heutigen Tage eine durchaus preußiſche Verſammlung<lb/> ſind, ſo müſſen wir uns doch eingedenk halten, daß das ge-<lb/> ſammte Deutſchland mit Aufmerkſamkeit auf unſre Berathungen<lb/> ſeine Blicke richtet. Zwar beſinden ſich hier unter uns, mit Er-<lb/> laubniß ihrer hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht<lb/> Preußen angehören, aber ich habe es den Herren erklärt und<lb/> wiederhole es hier, daß ſie nicht als Vertreter ihrer Staaten, ſon-<lb/> dern als Schulmänner, welche auf gewiſſen Gebieten Hervorragen-<lb/> des geleiſtet haben, hier ſind, und ich danke den Regierungen<lb/> auch an dieſer Stelle, daß ſie dieſe ausgezeichneten Kräfte zur Ver-<lb/> fügung geſtellt haben.</p><lb/> <p>Was nun dieſe Berathungen auszeichnen ſoll, iſt die volle<lb/> Freiheit in der Discuſſion. Es iſt der dringende Wunſch der<lb/> Unterrichtsverwaltung, von den Herren, die hier verſammelt ſind,<lb/><cb/> Stoff und Formen als ſichere und zuverläſſige Grundlage für die<lb/> weiteren Entſchlüſſe zu erhalten, welche Ew. Majeſtät demnächſt<lb/> zur allerhöchſten Kritik unterbreitet werden. Die Geſchäftsordnung<lb/> ſoll volle Freiheit geben. Eine Abſtimmung wird ſich nicht ver-<lb/> meiden laſſen; ſie wird aber nicht nach Zahlen erfolgen, ſondern<lb/> ſie wird erfolgen nach einzelnen Perſonen, ſo daß die Quellen der<lb/> Abſtimmung immer klar vor Augen liegen. Es iſt möglich, daß<lb/> eine zweite Leſung in einzelnen Fällen eintreten muß, wo ein<lb/> Ausgleich bei der erſten Leſung nicht erreicht wird. Darüber be-<lb/> halte ich mir weitere Entſchließungen vor.</p><lb/> <p>Ich ſchließe damit, daß ich es ausſpreche: ich gehe in die<lb/> Berathung mit der ſichern Hoffnung auf Gelingen; ich bin über-<lb/> zeugt, daß alle verſammelten Herren mit voller Begeiſterung und<lb/> mit voller Hingebung den großen Aufgaben ſich widmen, welche<lb/> den Kern in dieſer Berathung bilden. Und wenn uns dabei die<lb/> Kraft erlahmen ſollte, ſo werden wir auf Ew. Majeſtät blicken und<lb/> in Dankbarkeit und Ehrfurcht uns des Eifers, der Liebe und Hin-<lb/> gebung erinnern, die Ew. Majeſtät unſerm geſammten Schulweſen<lb/> ſtets geſchenkt haben.“</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#g">Kaiſer</hi> erwiderte hierauf Folgendes:</p><lb/> <cit> <quote>„<hi rendition="#g">Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen<lb/> hier und Ich danke dem Hrn. Miniſter perſönlich,<lb/> daß er trotz des Ueberladenſeins mit Arbeiten<lb/> aller Art es übernommen hat, den Vorſitz in dieſer<lb/> Verſammlung zu führen. Ich bin der feſten Ueber-<lb/> zeugung, daß kein Menſch mehr dazu ange than iſt<lb/> und geſchickter dazu angelegt iſt, eine ſolche Frage<lb/> richtig zu leiten und zu ihrer Löſung beizutragen,<lb/> wie unſer Hr. Cultusminiſter, von dem Ich<lb/> ganz beſtimmt und ohne Ueberhebung ſagen<lb/> kann, daß der deutſche Staat und das Königreich<lb/> Preußen ſeit langen Jahren keinen ſo tapferen, hin-<lb/> gebenden und hervorragenden Cultusminiſter ge-<lb/> habt haben, wie ihn. Ich hoffe, daß es gelingen<lb/> wird, das Werk mit Ihrer Hülfe nicht nur zu fördern,<lb/> ſondern auch zum Abſchluß zu bringen.“</hi></quote> </cit><lb/> <p>Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der<lb/> Kaiſer nochmals das Wort zu einer längeren Rede, welche<lb/> etwa folgenden Wortlaut hatte:</p><lb/> <p>Meine Herren! Ich habe Mir zuerſt ausgebeten, ein paar<lb/> Worte zu Ihnen zu reden, weil Mir daran liegt, daß die Herren<lb/> von vornherein wiſſen, wie Ich über die Sache denke. Es wird<lb/> entſchieden ſehr vieles zur Discuſſion kommen, ohne entſchieden<lb/> werden zu können, und Ich glaube, daß auch manche Punkte nebel-<lb/> haſt im Dunkeln bleiben werden; deßhalb habe Ich es für gut<lb/> gehalten, die Herren nicht im Zweifel zu laſſen, welches Meine<lb/> Anſichten darüber ſind. Zunächſt möchte Ich bemerken, daß es ſich<lb/> hier vor allen Dingen nicht um eine politiſche Schulfrage handelt,<lb/> ſondern <hi rendition="#g">lediglich um techniſche und pädagogiſche Maß-<lb/> nahmen,</hi> die wir zu ergreifen haben, um unſre heranwachſende<lb/> Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltſtellung unſres Vater-<lb/> landes und auch unſres Lebens entſprechend heranzubilden. Und da<lb/> möchte Ich gleich Eins bemerken. Ich würde Mich ſehr gefreut haben,<lb/> wenn wir dieſe Prüfungen, dieſe Verhandlungen nicht mit einem<lb/> franzöſiſchen Wort „Schulenqu<hi rendition="#aq">ê</hi>te“, ſondern mit dem deutſchen<lb/> Wort „<hi rendition="#g">Schulfrage</hi>“ benannt hätten. „Frage“ iſt das alte deutſche<lb/> Wort für Vorunterſuchung, und Ich muß ſagen, das iſt auch<lb/> mehr oder weniger eine Vorunterſuchung. Rennen wir die Sache<lb/> doch kurzweg „Schulfrage“. Ich habe die 14 Punkte durchgeleſen<lb/> und ſinde, daß dieſelben leicht dazu verführen könnten, die Sache<lb/> zu ſchematiſiren. Das würde Ich im höchſten Grade bedauern. Die<lb/> Hauptſache iſt, daß der Geiſt der Sache erfaßt wird und nicht die<lb/> bloße Form. Und da habe Ich Meinerſeits einige Fragen aufgeſtellt<lb/> — Ich werde ſie eirculiren laſſen — von denen Ich hoffe, daß<lb/> ſie auch Berückſichtigung finden werden. Zunächſt „<hi rendition="#g">Schul-<lb/> hygiene außer Turnen</hi>“, eine Sache, die ſehr genau erwogen<lb/> werden muß; ſodann „<hi rendition="#g">Verminderung des Lehrſtoffs</hi>“ (Er-<lb/> wägung des Auszuſcheidenden); ferner die „<hi rendition="#g">Lehrpläne für die<lb/> einzelnen Fächer</hi>“, ſodann die „<hi rendition="#g">Lehrmethode für die<lb/> Organiſation</hi>“ — es ſind bereits die Hauptpunkte vorgeſchla-<lb/> gen worden — ſechstens: „<hi rendition="#g">Iſt der Hauptballaſt aus den<lb/> Examina beſeitigt?</hi>“ und ſiebentens: „<hi rendition="#g">Die Ueberbürdung<lb/> in Zukunft vermindern?</hi>“ Achtens: „<hi rendition="#g">Wie denkt man ſich<lb/> die Controle, wenn das Werk zu Stande gekommen<lb/> iſt?</hi>“ Reuntens: „<hi rendition="#g">Regelmäßige und außerordentliche<lb/> Reviſionen durch verſchiedene Oberbehörden?</hi>“</p><lb/> <p>Ich lege hier die Fragen auf den Tiſch des Hauſes; wer ſie<lb/> ſich anſehen will, kann ſich darüber weiter informiren. Die ganze<lb/> Frage, Meine Herren, hat ſich allmählich vollkommen von ſelber<lb/> entwickelt; Sie ſtehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich feſt<lb/> überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben<lb/> werden, durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieſelbe<lb/> wie eine reife Frucht der Nation überreichen werden.</p><lb/> <p>Dieſer Cabinetsordre, die der Hr. Miniſter vorhin zu erwähnen<lb/> die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule<lb/> auf dem Standpunkt geſtanden hätte, auf welchem ſie hätte ſtehen<lb/> müſſen. Ich möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas ſcharf werden<lb/> ſollte, ſo bezieht ſich das auf keinen Menſchen perſönlich, ſondern auf das<lb/> Syſtem, auf die ganze Lage. Wenn die Schule gethan hätte, was von ihr<lb/> zu verlangen iſt — und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter ſpre-<lb/> chen, denn Ich habe auch auf dem Gymnaſium geſeſſen und weiß,<lb/> wie es da zugeht — ſo hätte ſie von vornherein von ſelber das Gefecht<lb/> gegen die Socialdemokratie übernehmen müſſen. Die Lehrercollegien<lb/> hätten alle mit einander die Sache feſt ergreifen und die heran-<lb/> wachſende Generation ſo inſtruiren müſſen, daß diejenigen jungen<lb/> Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig ſind, alſo von etwa 30 Jahren,<lb/> von ſelbſt bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im<lb/> Staate arbeiten könnte, um der Bewegung ſchneller Herr zu wer-<lb/> den. Das iſt aber nicht der Fall geweſen. Der letzte Moment,<lb/> wo unſre Schule noch für unſer ganzes vaterländiſches<lb/> Leben und für unſre Entwicklung maßgebend geweſen iſt,<lb/> iſt in den Jahren 1864, 1866 bis 1870 geweſen. Da waren<lb/> die preußiſchen Schulen, die preußiſchen Lehrercollegien Träger<lb/> des Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abi-<lb/> turient, der aus der Schule herauskam und als Einjähriger ein-<lb/> trat oder ins Leben hinausging, Alles war einig in dem einen<lb/> Punkte: das Deutſche Reich wird wieder aufgerichtet und Elſaß-<lb/> Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 hat die Sache<lb/> aufgehört. Das Reich iſt geeint; wir haben, was wir erreichen<lb/> wollten, und dabei iſt die Sache ſtehen geblieben. Jetzt mußte<lb/> die Schule, von der neu gewonnenen Baſis ausgehend, die Jugend<lb/> anführen und ihr klar machen, daß das neue Staatsweſen dazu<lb/> da wäre, um erhalten zu werden. <hi rendition="#g">Davon iſt nichts zu merken<lb/> geweſen; und jetzt ſchon entwickeln ſich in der kurzen<lb/> Zeit, ſeit der das Reich beſteht, centrifugale Tenden-<lb/> zen.</hi> Ich kann das gewiß genau beurtheilen, weil Ich oben ſtehe und an<lb/> Mich alle ſolche Fragen heratreten. Der Grund iſt in der Erziehung<lb/> der Jugend zu ſuchen; wo fehlt es da? Da fehlt es allerdings<lb/> an manchen Stellen. Der Hauptgrund iſt, daß ſeit dem Jahr<lb/> 1870 die Philologen als <hi rendition="#aq">beati possidentes</hi> im Gymnafium ge-<lb/> ſeſſen haben und hauptſächlich auf den Lernſtoff, auf das Lernen<lb/> und Wiſſen den Nachdruck gelegt haben, <hi rendition="#g">aber nicht auf die<lb/> Bildung des Charakters und die Bedürffniſſe des</hi><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [Seite 2.[2]/0002]
München, Freitag Allgemeine Zeitung 5. December 1890. Morgenblatt Nr. 337.
Folge deſſen, der ſtändigen Praxis gemäß, zu dem Antrage ge-
kommen, die Wahl v. Redens für gültig zu erklären, wegen
der in dem Proteſte aufgeſtellten Behauptungen aber um die An-
ſtellung von Erhebungen zu erſuchen. Alle Beredſamkeit des
Berichterſtatters hat indeß nicht vermocht, die HH. Rickert und
Auer von der Inſcenirung einer großen Entrüſtungsdebatte ab-
zuhalten. Von conſervativer Seite fühlte ſich der Sachſe
Mehnert zu einer ſcharfen Jungfernrede gegen die Social-
demokratie gedrungen, und ſo tobte denn glücklich ein Partei-
kampf, über welchem das Richteramt des Hauſes in Vergeſſen-
heit zu gerathen ſchien. Immerhin hätte man den Herren
dieſe Herzenserleichterung gönnen mögen, wenn man wenigſtens
ſchließlich bei der Entſcheidung über den vorliegenden Fall zu
der erforderlichen Unparteilichkeit zurückgekehrt wäre. Statt
deſſen ſtimmte das Centrum unter Führung des Hrn. Windt-
horſt und unter Schürung ſeiner welfiſchen Hoſpitanten mit
den Freiſinnigen und den Socialdemokraten, kurz, das ganze
Anticartell für die Beanſtandung der Wahl, obgleich Keiner,
der ſich überhaupt um die Lage der Sache gekümmert hat,
darüber in Zweifel ſein kann, daß die Gültigkeit der Wahl
ſchließlich doch erklärt werden muß. Das heutige Votum kann
alſo, wenn man ihm pſychologiſch auf den Grund geht, nur
als ein Ausdruck des Parteihaſſes gegen die Nationalliberalen
oder, wenn man will, gegen das Cartell aufgefaßt werden.
Schön iſt das nicht, aber es iſt leider auch nicht unerhört.
Den Vorzug vollſtändiger Neuheit dagegen hatte es, daß bei
der nun folgenden Verhandlung über die Wahl im achten
württembergiſchen Wahlkreiſe der Gewählte ſelbſt, und zwar
als einziger Redner, auftrat. Sonſt pflegen die Betheiligten
den Saal zu verlaſſen, Frhr. v. Münch aber entſchuldigte ſeine
Durchbrechung aller Tradition mit dem Umſtande, daß er
keinen einzigen Freund im Hauſe habe. Originell, das muß
man dieſem rothen ſchwäbiſchen Baron laſſen, iſt er immer!
In der Sache handelte es ſich um die berühmten maſſenhaften
Freibierſpenden. Aus dem vorliegenden Material iſt die Commiſſion
nicht zu einer beſtimmten Anſicht darüber gelangt, inwieweit dieſe
Spenden das Wahlergebniß hätten beeinfluſſen können; ſie
ſchlug deßhalb vor, die Beſchlußfaſſung über die Wahl bis
nach erfolgter Beweiserhebung auszuſetzen, und das Haus trat
dieſem Vorſchlage bei.
Die Arbeiterſchutzcommiſſion iſt heute ziemlich langſam
vorwärts gekommen. Die in den Paragraphen, welche von
den behördlichen Anordnungen betreffs der zum Schutze von
Leben, Geſundheit und Sittlichkeit der Arbeiter zu treffenden
Maßnahmen handeln, in der erſten Leſung beſchloſſene gutacht-
liche Mitwirkung der Berufsgenoſſenſchaften wurde ſeitens der
verbündeten Regierungen heute von neuem angefochten, jedoch
nach längerer Debatte, wenn auch in etwas modiſicirter Ge-
ſtalt, aufrechterhalten. Eine ſeltſame Ueberraſchung brachte
ein Antrag Gutfleiſch. Derſelbe wollte einen neuen Para-
graphen einfügen, nach welchem die in erſter Leſung nur in
dem Abſchnitt über die Betriebsbeamten beſchloſſene Beſtim-
mung, daß jeder der beiden Theile vor Ablauf der vertrags-
mäßigen Zeit ohne Innehaltung einer Kündigungsfriſt die Auf-
hebung des Arbeitsverhältniſſes verlangen kann, wenn ein
wichtiger, nach den Umſtänden des Falles die Aufhebung recht-
fertigender Grund vorliegt, auf ſämmtliche Arbeiter Anwendung
finden ſollte. Der Antrag würde, wie Jeder, der ihn ſich auf
das praktiſche Leben angewandt denkt, ſofort einſieht, dem
Contractbruch Thür und Thor öffnen. Er wurde gegen die
Stimmen der Freiſinnigen und Socialdemokraten, ſowie der
Centrumsmitglieder Graf Galen und Stötzel abgelehnt.
Deutſches Reich.
* Berlin, 4. Dec. Tel.Der Reichstag verwies heute,
nachdem er die Vorlage wegen Helgolands in zweiter Leſung
unverändert angenommen hatte, die Novelle zum Patent-
geſetz an eine Commiſſion von 21 Mitgliedern. Staats-
ſecretär v. Boetticher hatte die Vorlage begründet, an der
Debatte hatten ſich die Abgg. Goldſchmidt, v. Buol,
Hultzſch, Dr. Hammacher und Münch betheiligt, die ins-
geſammt die Vorlage im allgemeinen freudig begrüßten, aber
betreffs einzelner Punkte, namentlich in der Gebührenfrage,
bezüglich des Anſchluſſes an die Union und wegen der Friſt
auf den Zaun und beobachten Sie die nach Hauſe getriebene
Heerde, von welcher bei den Bauernhäuſern immer ein oder
mehrere Stücke abſchwenken, um den Heimſtall aufzuſuchen.
Das iſt der rechte Nachgenuß des bald ſuchenden, bald tändeln-
den Geiſtes, mit dem Sie die Ferien ausfüllen ſollen, die ich
Ihnen geſchenkt habe. Gönnen Sie ſich dieſe auch, wenn Ihre
Skizze erſt halb vollendet wäre, in welcher Sie den ‘Kampf
um das Weib’ zu ſchildern ſuchen oder den ‘Kampf mit dem
Erbfehler’ — natürlich höchſt ernſthaft und mit der ſtarken
Seelen geziemenden Selbſtverſpottung. Bilden Sie ſich meinet-
wegen ein, Sie hätten es mit Einfällen ihres müßigen Ge-
hirns zu thun, welches von der leidenſchaftlichen Erregung der
Liebe ausraſtet. Ich weiß freilich, daß Sie von verheerenden
Leidenſchaften unangetaſtet blieben. Man beſchreibt nicht den
Kampf, wenn man mitten darin ſteht, ſondern meiſt, wenn er
vorüber und die überfallene Seele wieder ihre Vorpoſten aus-
geſtellt hat. Häuſig auch nur, wenn man den Zuſchauer, den
Schlachtenbummler abgegeben hat. Die Arbeit des Schriftſtellers
iſt Nachdenken und Nachempfinden. Sie zweifeln an dem Hund,
der auf dem Grabe des Herrn verhungert iſt? Und an dem
Dichter, welchen die Eitelkeit der Welt nicht aus ſeinem
Phantaſiereiche zurücklockt? Das finde ich ganz erklärlich. Es
ſind gewöhnlich unterdrückte Triebe, welche zur Offenbarung
eines wirklichen Innenlebens zwingen. Wir Modernen ſind
aber gar nicht ſo triebkräftig.
„Da fällt eine halbreife Frucht vom Baume, unmittelbar
vor Ihre Füße hin. Ich weiß, daß Sie als kluger Menſch
dieſe Frucht nicht genießen werden wie ein dummer Junge.
Doch Sie heben das Fallobſt auf, betrachten es flüchtig und
werfen es wieder weg. Thut es der Schöpfer anders mit ſeiner
Welt? Wäre das geiſtige Schaffen ein unbewußtes Treiben
gleicher Art, ſo hätten Sie ſchon manches Ihrer Werke weg-
geworfen, in welches Sie die letzte Illuſion hineinbinden ließen,
die Sie erübrigt: ‘den Wahn der Unſterblichkeit Ihres Namens’.
Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen dieſen Wahn raube. Ihr
geſchwächtes Nervenſyſtem bedarf desſelben, um ſich erholen zu
können. Meine Curmethode beruht überhaupt darauf, Ihnen
wieder einige Illuſionen einzuflößen, ohne welche der Menſch
nie das prophetiſche Wort gewinnt, um die Herzen zu er-
ſchließen. So, jetzt legen Sie ſich zu Bette und genießen Sie
eine ausgiebige Nachtruhe ohne jeden Vererbungsalp, der
ſich auf die Bruſt legt. Mehr kann ich als Arzt nicht für Sie
thun. Das Beſte, die ſiegende Heilkraft, muß Ihr eigener
Organismus hergeben. Schelten Sie ruhig auf den Arzt, wenn
Ihre Geneſung nicht gelingt oder Sie ſich nach der überwundenen
Krankheit zurückſehnen ſollten, welche Sie mitkleidswürdig gemacht.“
Deutſches Reich.der Nichtigkeitsbeſchwerde, Bedenken oder Wünſche äußerten.
Morgen um 2 Uhr ſoll der Reſt der heutigen Tagesordnung
erledigt und die erſte Berathung der Novelle zum Kranken-
verſicherungsgeſetz begonnen werden.
Verhandlungen über die Schulfrage in Preußen.
Aus dem „Reichs-Anzeiger“.
* Berlin, 4. Dec. Telegramm.Die Conferenz zur
Berathung von Fragen, das höhere Schulweſen be-
treffend, wurde in Gegenwart des Kaiſers heute Vormittag
11 Uhr im großen Sitzungsſaale des Miniſteriums der geiſt-
lichen ꝛc. Angelegenheiten eröffnet. Der Cultusminiſter v. Goßler
leitete die Sitzung mit nachſtehender Anſprache ein:
Genehmigen Ew. kaiſerliche und königliche Majeſtät, daß ich,
ſicherlich aus dem Herzen und im Ramen aller Anweſenden, unſern
ehrfurchtsvollſten, tiefgefühlteſten Dank ausſpreche für die warme
Theilnahme, welche Sie der Erziehung unſrer Jugend zuwenden.
Ew. Majeſtät treten auch in dieſer Hinſicht in die Fußſtapſen
Ihrer erlauchten Vorfahren. Die Hohenzollern haben es allezeit
als ihr Recht, aber auch als ihre Pflicht erachtet, unmittelbar be-
ſtimmend in die Entwicklung und Erziehung der Jugend einzugreifen.
Schon Ihr erlauchter Vorfahr Johann Georg erließ im Jahre 1573 die
bekannte Viſitations- und Conſiſtorialordnung, welche auf Jahrhun-
derte hinaus die Geſchicke der brandenburgiſchen Schule beſtimmte. Am
Schluſſe ſeines thatenreichen Lebens erließ Kurfürſt Friedrich Wil-
helm der Große die berühmte Schulordnung von Brandenburg und
zwar auf lutheriſcher Grundlage. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I.
erließ bereits im erſten Jahre ſeiner ſegensreichen Regierung die
Cabinets- und Schulordnung, welche bis in dieſes Jahrhundert
hinein das Fundament des Unterrichtsweſens bildete. Unermüd-
lich hat er bis zum Schluß ſeines reichen Lebens über den Schulen
gewaltet und was er auf dem Gebiet der Volksſchule gethan,
iſt ja bekanntlich heute noch in den Provinzen Preußen
geltendes Recht. Friedrich der Große trat in ſeiner Inſtruction
für die lutheriſchen Oberconſiſtorien in die Fußſtapfen ſeines
Vaters. Er erließ im Jahre 1763 das berühmte General-
Schulreglement, und was er für die höheren Schulen geplant
hatte, wurde ein Jahr nach ſeinem Tode Recht in der bekannten
Inſtruction für das Oberſchulcollegium. Damals vollzog ſich zum
erſten Male in Preußen, allen Ländern vorbildlich, eine ſorgfältige
Abgrenzung der Schul- und Kirchenbehörden auf dem Gebiete des
Unterrichtsweſens. Unſre ganze preußiſche Unterrichtsverwaltung
und Geſetzgebung berubt aber auf der berühmten Cabinetsordre
Ew. Majeſtät allerdurchlauchtigſten Urgroßvaters. Dieſe leider
wenig bekannte Cabinetsordre vom Jahre 1817 fordert in wirk-
lich ergreifender Weiſe die ganze Ration auf, bei der Erziehung
der Jugend mitzuwirken. Die großen Thaten, welche Preußen
unter Führung ſeines Königs vollbracht, ließen erkennen, daß die
Kräfte der Nation überwiegend auf der geiſtigen Seite, in den
Idealen, lägen und daß nur durch eine Erneuerung des ganzen
geiſtigen Inhalts des Volkes diejenige Kraft erreicht werden könnte,
welche Preußen ſeine hohe, aber auch geſährdete Stellung ſicherte.
Wenn damals Friedrich Wilhelm III. alle Claſſen des Volkes auf-
rief, mitzuwirken an der Erneuerung der Nation, ſo haben Ew.
Majeſtät in der denkwürdigen Ordre vom 1. Mai vorigen Jahres
uns aufgerufen, die Schule für befugt und berufen erklärt, mitzu-
wirken an der Erneuerung des Volkes auf den Gebieten, welche durch
die Mächte des Umſturzes in Frage geſtellt ſind. Ew. Majeſtät
haben nicht verkannt, daß die Arbeit der Schule zwar die machwollſte,
aber auch die langſamſte und mühſamſte iſt, und daß erſt vom
Lehrer angefangen werden muß, ehe die Ziele innerhalb der Schulen
erreicht werden können. Ew. Majeſtät haben erneut auf die
Bedeutung aufmerkſam gemacht, welche in der richtigen Aneignung
der Religion, in der Hervorhebung der ſittlich religiös bildenden
Momente unſrer preußiſchen Geſchichte eingeſchloſſen liegen, und wir
ſind Ew. Majeſtät aufs tiefſte in Dankbarkeit verpflichtet, in dieſer
energiſchen und krafwollen Weiſe uns den Weg gewiefen zu haben.
Dieſe Allerhöchſte Kundgebung vom 1. Mai 1889 fiel mitten hinein
in eine bereits machwolle Bewegung, welche auf dem Gebiete des
Unterrichtsweſens ganz Deutſchland ergriffen hatte. Wo die An-
fänge der Bewegung liegen, weiß man überhaupt nicht bei großen
Ereigniſſen; aber im Allgemeinen darf man wohl ſagen, daß die
veränderte Weltſtellung Preußens und Deutſchlands unſeren Blick
erweitert und uns allen die Frage auf die Lippen geführt hatte,
ob unſere Erziehung noch genau in denſelben Bahnen ſich bewegen
könne, wie früher, wo Deutſchland mehr ein in ſich gekehrtes, ein
einſames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unſere
Augen erweitert ſind, wo unſere Blicke ſich richten auf alle
Nationen, wo wir Colonien vor unſeren Augen haben, überall
haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der
bisher unſer Unterrichtsweſen umſchloſſen hielt, in dieſer oder
jener Weiſe durchbrechen müſſen. Mehr noch war das Streben zu
erkennen, daß die innerliche Aneignung des Stoffes Fortſchritte
mache, daß die Methode der Lehrer gebeſſert werde, daß man Zeit
gewinnen möchte für die Kräftigung der Jugend, und für Preußen
wurde dieſe Bewegung eine um ſo machtvollere und intenſivere,
als in Preußen — es iſt nicht zu läugnen — durch eine über-
mäßige Zahl von höheren Schulen und durch eine übermäßige
Production von akademiſch Gebildeten alle gelehrten Berufsfächer
überfüllt waren und nun in der Noth, im Kampfe um das Daſein
eine Menge Zweifel auſtraten, ob die Schule ſelbſt oder die Unter-
richtsmethode eine Verſchuldung treffe. So ſind wir in Preußen im Gegen-
ſatz zu den ſüddeutſchen Staaten in eine Bewegung hineingekommen, in
der das Berechtigungsweſen in dem Kampf der Concurrenz eine hervor-
ragende Bedeutung gewinnt. Ich bin nicht im Stande in einem einleitenden
Vortrage auch nur zu ſkizziren, in welchen Richtungen die Haupt-
bewegung ſich geſtaltet. Man kann aber wohl ſagen, daß von
den radicalſten Auffaſſungen bis zu den conſervativſten hin jede
Nuance eines neuen Vorſchlags ſich vorhanden findet. Das
preußiſche Schulweſen hat aber — und das muß doch wohl in
der Einleitung hervorgehoben werden — doch inſofern eine eminent
politiſche Bedeutung. als es ein einigendes Band innerhalb der
deutſchen Staaten geworden iſt. Nach Preußen haben ſich die
übrigen deutſchen Staaten gerichtet, mit Preußen haben die
übrigen deutſchen Staaten Verträge geſchloſſen über Lehrer-
befähigung und Reifezengniſſe; für Theologen und für Lehrer;
kurzum auf allen Gebieten hat ſich ein Band geſchloſſen
zwiſchen Preußen und den übrigen deutſchen Staaten. Und wenn
wir hier am heutigen Tage eine durchaus preußiſche Verſammlung
ſind, ſo müſſen wir uns doch eingedenk halten, daß das ge-
ſammte Deutſchland mit Aufmerkſamkeit auf unſre Berathungen
ſeine Blicke richtet. Zwar beſinden ſich hier unter uns, mit Er-
laubniß ihrer hohen Regierungen, drei Herren, welche nicht
Preußen angehören, aber ich habe es den Herren erklärt und
wiederhole es hier, daß ſie nicht als Vertreter ihrer Staaten, ſon-
dern als Schulmänner, welche auf gewiſſen Gebieten Hervorragen-
des geleiſtet haben, hier ſind, und ich danke den Regierungen
auch an dieſer Stelle, daß ſie dieſe ausgezeichneten Kräfte zur Ver-
fügung geſtellt haben.
Was nun dieſe Berathungen auszeichnen ſoll, iſt die volle
Freiheit in der Discuſſion. Es iſt der dringende Wunſch der
Unterrichtsverwaltung, von den Herren, die hier verſammelt ſind,
Stoff und Formen als ſichere und zuverläſſige Grundlage für die
weiteren Entſchlüſſe zu erhalten, welche Ew. Majeſtät demnächſt
zur allerhöchſten Kritik unterbreitet werden. Die Geſchäftsordnung
ſoll volle Freiheit geben. Eine Abſtimmung wird ſich nicht ver-
meiden laſſen; ſie wird aber nicht nach Zahlen erfolgen, ſondern
ſie wird erfolgen nach einzelnen Perſonen, ſo daß die Quellen der
Abſtimmung immer klar vor Augen liegen. Es iſt möglich, daß
eine zweite Leſung in einzelnen Fällen eintreten muß, wo ein
Ausgleich bei der erſten Leſung nicht erreicht wird. Darüber be-
halte ich mir weitere Entſchließungen vor.
Ich ſchließe damit, daß ich es ausſpreche: ich gehe in die
Berathung mit der ſichern Hoffnung auf Gelingen; ich bin über-
zeugt, daß alle verſammelten Herren mit voller Begeiſterung und
mit voller Hingebung den großen Aufgaben ſich widmen, welche
den Kern in dieſer Berathung bilden. Und wenn uns dabei die
Kraft erlahmen ſollte, ſo werden wir auf Ew. Majeſtät blicken und
in Dankbarkeit und Ehrfurcht uns des Eifers, der Liebe und Hin-
gebung erinnern, die Ew. Majeſtät unſerm geſammten Schulweſen
ſtets geſchenkt haben.“
Der Kaiſer erwiderte hierauf Folgendes:
„Meine Herren! Ich begrüße Sievonganzem Herzen
hier und Ich danke dem Hrn. Miniſter perſönlich,
daß er trotz des Ueberladenſeins mit Arbeiten
aller Art es übernommen hat, den Vorſitz in dieſer
Verſammlung zu führen. Ich bin der feſten Ueber-
zeugung, daß kein Menſch mehr dazu ange than iſt
und geſchickter dazu angelegt iſt, eine ſolche Frage
richtig zu leiten und zu ihrer Löſung beizutragen,
wie unſer Hr. Cultusminiſter, von dem Ich
ganz beſtimmt und ohne Ueberhebung ſagen
kann, daß der deutſche Staat und das Königreich
Preußen ſeit langen Jahren keinen ſo tapferen, hin-
gebenden und hervorragenden Cultusminiſter ge-
habt haben, wie ihn. Ich hoffe, daß es gelingen
wird, das Werk mit Ihrer Hülfe nicht nur zu fördern,
ſondern auch zum Abſchluß zu bringen.“
Nach dem Eintritt in die Verhandlungen ergriff der
Kaiſer nochmals das Wort zu einer längeren Rede, welche
etwa folgenden Wortlaut hatte:
Meine Herren! Ich habe Mir zuerſt ausgebeten, ein paar
Worte zu Ihnen zu reden, weil Mir daran liegt, daß die Herren
von vornherein wiſſen, wie Ich über die Sache denke. Es wird
entſchieden ſehr vieles zur Discuſſion kommen, ohne entſchieden
werden zu können, und Ich glaube, daß auch manche Punkte nebel-
haſt im Dunkeln bleiben werden; deßhalb habe Ich es für gut
gehalten, die Herren nicht im Zweifel zu laſſen, welches Meine
Anſichten darüber ſind. Zunächſt möchte Ich bemerken, daß es ſich
hier vor allen Dingen nicht um eine politiſche Schulfrage handelt,
ſondern lediglich um techniſche und pädagogiſche Maß-
nahmen, die wir zu ergreifen haben, um unſre heranwachſende
Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltſtellung unſres Vater-
landes und auch unſres Lebens entſprechend heranzubilden. Und da
möchte Ich gleich Eins bemerken. Ich würde Mich ſehr gefreut haben,
wenn wir dieſe Prüfungen, dieſe Verhandlungen nicht mit einem
franzöſiſchen Wort „Schulenquête“, ſondern mit dem deutſchen
Wort „Schulfrage“ benannt hätten. „Frage“ iſt das alte deutſche
Wort für Vorunterſuchung, und Ich muß ſagen, das iſt auch
mehr oder weniger eine Vorunterſuchung. Rennen wir die Sache
doch kurzweg „Schulfrage“. Ich habe die 14 Punkte durchgeleſen
und ſinde, daß dieſelben leicht dazu verführen könnten, die Sache
zu ſchematiſiren. Das würde Ich im höchſten Grade bedauern. Die
Hauptſache iſt, daß der Geiſt der Sache erfaßt wird und nicht die
bloße Form. Und da habe Ich Meinerſeits einige Fragen aufgeſtellt
— Ich werde ſie eirculiren laſſen — von denen Ich hoffe, daß
ſie auch Berückſichtigung finden werden. Zunächſt „Schul-
hygiene außer Turnen“, eine Sache, die ſehr genau erwogen
werden muß; ſodann „Verminderung des Lehrſtoffs“ (Er-
wägung des Auszuſcheidenden); ferner die „Lehrpläne für die
einzelnen Fächer“, ſodann die „Lehrmethode für die
Organiſation“ — es ſind bereits die Hauptpunkte vorgeſchla-
gen worden — ſechstens: „Iſt der Hauptballaſt aus den
Examina beſeitigt?“ und ſiebentens: „Die Ueberbürdung
in Zukunft vermindern?“ Achtens: „Wie denkt man ſich
die Controle, wenn das Werk zu Stande gekommen
iſt?“ Reuntens: „Regelmäßige und außerordentliche
Reviſionen durch verſchiedene Oberbehörden?“
Ich lege hier die Fragen auf den Tiſch des Hauſes; wer ſie
ſich anſehen will, kann ſich darüber weiter informiren. Die ganze
Frage, Meine Herren, hat ſich allmählich vollkommen von ſelber
entwickelt; Sie ſtehen hier einer Sache gegenüber, von der Ich feſt
überzeugt bin, daß Sie durch die Vollendung, die Sie ihr geben
werden, durch die Form, die Sie ihr aufprägen werden, dieſelbe
wie eine reife Frucht der Nation überreichen werden.
Dieſer Cabinetsordre, die der Hr. Miniſter vorhin zu erwähnen
die Güte hatte, hätte es vielleicht nicht bedurft, wenn die Schule
auf dem Standpunkt geſtanden hätte, auf welchem ſie hätte ſtehen
müſſen. Ich möchte im voraus bemerken, wenn Ich etwas ſcharf werden
ſollte, ſo bezieht ſich das auf keinen Menſchen perſönlich, ſondern auf das
Syſtem, auf die ganze Lage. Wenn die Schule gethan hätte, was von ihr
zu verlangen iſt — und Ich kann zu Ihnen als Eingeweihter ſpre-
chen, denn Ich habe auch auf dem Gymnaſium geſeſſen und weiß,
wie es da zugeht — ſo hätte ſie von vornherein von ſelber das Gefecht
gegen die Socialdemokratie übernehmen müſſen. Die Lehrercollegien
hätten alle mit einander die Sache feſt ergreifen und die heran-
wachſende Generation ſo inſtruiren müſſen, daß diejenigen jungen
Leute, die mit Mir etwa gleichaltrig ſind, alſo von etwa 30 Jahren,
von ſelbſt bereits das Material bilden würden, mit dem Ich im
Staate arbeiten könnte, um der Bewegung ſchneller Herr zu wer-
den. Das iſt aber nicht der Fall geweſen. Der letzte Moment,
wo unſre Schule noch für unſer ganzes vaterländiſches
Leben und für unſre Entwicklung maßgebend geweſen iſt,
iſt in den Jahren 1864, 1866 bis 1870 geweſen. Da waren
die preußiſchen Schulen, die preußiſchen Lehrercollegien Träger
des Einheitsgedankens, der überall gepredigt wurde. Jeder Abi-
turient, der aus der Schule herauskam und als Einjähriger ein-
trat oder ins Leben hinausging, Alles war einig in dem einen
Punkte: das Deutſche Reich wird wieder aufgerichtet und Elſaß-
Lothringen wiedergewonnen. Mit dem Jahre 1871 hat die Sache
aufgehört. Das Reich iſt geeint; wir haben, was wir erreichen
wollten, und dabei iſt die Sache ſtehen geblieben. Jetzt mußte
die Schule, von der neu gewonnenen Baſis ausgehend, die Jugend
anführen und ihr klar machen, daß das neue Staatsweſen dazu
da wäre, um erhalten zu werden. Davon iſt nichts zu merken
geweſen; und jetzt ſchon entwickeln ſich in der kurzen
Zeit, ſeit der das Reich beſteht, centrifugale Tenden-
zen. Ich kann das gewiß genau beurtheilen, weil Ich oben ſtehe und an
Mich alle ſolche Fragen heratreten. Der Grund iſt in der Erziehung
der Jugend zu ſuchen; wo fehlt es da? Da fehlt es allerdings
an manchen Stellen. Der Hauptgrund iſt, daß ſeit dem Jahr
1870 die Philologen als beati possidentes im Gymnafium ge-
ſeſſen haben und hauptſächlich auf den Lernſtoff, auf das Lernen
und Wiſſen den Nachdruck gelegt haben, aber nicht auf die
Bildung des Charakters und die Bedürffniſſe des
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(2022-03-29T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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