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Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914.

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[Spaltenumbruch] zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, so ist nicht einzusehen,
warum diese Spione sich nur in einen der beiden Länder aufhalten
und die für sie doch sehr unsichere Briefpost benutzen sollten.

Die bayerische Postbehörde hat in diesen Tagen zum Beweise,
wie der Feldpost durch fehlerhafte und geradezu blödsinnige Adres-
sen die Arbeit erschwert wird, eine sehr heitere Blumenlese ver-
öffentlicht, die wirklich die beste Verteidigung für sie ist. Möge sie
nun aber auch mit dem sonstigen Briefverkehr innerhalb Deutsch-
lands und Oesterreichs Ernst machen. Noch immer brauchen Briefe
nach Oesterreich fast doppelt so lang, als die von dort an uns ge-
richteten, abgesehen davon, daß die letzteren wie gesagt, anstandslos
geschlossen und ohne Verletzung des Briefgeheimnisses bei uns an-
kommen.



Der Orient und der Weltkrieg.

Als Lord Kitchener, der heutige diplomatische wie militärische
Organisator des britischen Heereszuges gegen Deutschland, vor drei
Jahren sein Amt eines Generalkonsuls in Kairo antrat, erschien in
der englisch-offiziösen "Egyptian Gazette" ein Aufsehen erregender
Artikel, der sich ausführlich über die imperialistischen Ziele, die
Großbritannien vom Nilreich als Stütz- und Hebelpunkt aus zu ver-
folgen aufgegeben seien, verbreitete. Die eigentümliche Reklame für
den Sieger von Khartum als Schmied neuer Weltmachtgröße Al-
bions endete mit den Worten:

Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimischer
Untertanen Großbritanniens bedeuten würde, zu wissen, daß
dieses die Schutzherrschaft über ihre heiligen Anbetungsstätten
genießt, so müssen wir einfach daran denken, den gigantischen
Traum, der von vielen Aegyptern geteilt wird, zu verwirklichen.
Das ägyptische Reich der Vergangenheit könnte noch einmal
wieder aufgerichtet werden. Syrien und Palästina würden dem
Nilreich angegliedert und die Stämme des Jemen, die unauf-
hörlich gegen die Türkei revoltieren, wären bereit -- sie sind
es schon heute -- sich England zu unterwerfen. ... Das
ägyptische Problem ist eine Frage, die weite, unabsehbare Mög-
lichkeiten in sich birgt; es ist Großbritanniens ernste Pflicht, sich
energisch mit ihrer Lösung zu befassen."

Inwieweit solche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung
Kitcheners selbst übereinstimmten, kann dahingestellt bleiben; jeden-
falls bildet ihre Verlautbarung ein gerade jetzt überaus interessan-
tes Dokument zur Kennzeichnung der überspannten Herrentums-
gedanken, denen England sich im Reich des Islam hingegeben hat
und deren Saat die vom Weltkrieg erschütterte Gegenwart in merk-
würdiger Weise aufgehen läßt. Heute beten die 90 Millionen Be-
kenner des Propheten und mehr in ihren Moscheen öffentlich für
deutsche Siege, heute fühlt England bereits den ägyptischen Boden
unter seinen Füßen zittern, heute weiß London, daß alle seine Be-
mühungen, Konstantinopel, wo der Nachfolger des Propheten thront,
auf seine Seite herüberzuziehen, vergeblich sind, heute wird dem in
aller seiner gewissenlosen Geriebenheit und Schlauheit doch kurz-
sichtigen Sir E. Grey immer klarer, daß, wie so viele Maschen des
über die ganze Welt gebreiteten Netzes, in dem Deutschland gefangen
und erstickt werden sollte, auch die orientalische Rechnung seiner Kata-
strophenpolitik nicht stimmt.

Kaum hatte sich die serbische Krise derartig zugespitzt, daß Wien
seinen Gesandten aus Belgrad abberief, als der Petersburger Bot-
schafter in Konstantinopel sofort von der Hohen Pforte die Durch-
fahrt durch die Dardanellen für die russische Schwarzmeer-Flotte
verlangte. Die Forderung wurde vom Großwesier Said Halim
Pascha, trotzdem sie der britische und französische Botschafter aufs
lebhafteste unter allen möglichen Versprechungen an die Türkei
unterstützten, bündig und bestimmt abgelehnt. Damit war der be-
ginnenden Uebertragung des europäischen Weltkriegsfiebers nach
dem Orient hin die charakteristische Note gegeben. Für Rußland
kam es bei seinem Verlangen natürlich zunächst sehr viel weniger
darauf an, die freie Fahrt ins Mittelmeer zu erlangen, wo es mit
seiner unmodernen und schwerfälligen Marinemacht doch wenig aus-
richten könnte, als Konstantinopel selbst in Schach zu setzen: der eitle
Traum, das griechische Kreuz auf der Hagia Sophia wiederaufzu-
richten und das alte Byzanz zum Bollwerk zwischen Weltallmacht zu
erheben, spukt ja noch immer als Endziel in der fantastischen Balkan-
politik des Allrussentums. Für England hat die Dardanellenfrage
vor allem eine wirtschaftliche, darum aber nicht minder gewichtige
Bedeutung. Seine jährliche Gesamteinfuhr an Lebensmitteln be-
trägt rund 182 Millionen Cwts. im Wert von 67 Millionen £,
wovon nicht weniger als ein Drittel, nämlich 64 Mill. Cwts. im
[Spaltenumbruch] Wert von 21.5 Millionen £ auf die Schwarzmeer-Aegäische Ver-
kehrsstraße entfallen; wird diese also für Getreidedampfer gesperrt
-- und nach der Shipping and Mercantile Gazette ist das bereits
der Fall -- so sieht sich das Vereinigte Königreich einer der wichtig-
sten unter seinen Nahrungsmittelquellen, die ohnehin infolge der
deutschen Minenlegung und der allgemeinen Lähmung des britischen
Handels sämtlich schwach und unregelmäßig fließen, vollständig be-
raubt. Als die Ententegenossen bei der Hohen Pforte nichts er-
reichen konnten, versuchten sie ihr Glück in Bukarest und Sofia:
auch hier mit sehr wenig oder doch zweifelhaftem Erfolg. Bulgarien
bleibt jedenfalls kühl ablehnend: es hat ja deutlich genug im Balkan-
krieg erfahren, was die russische Freundschaft wert ist. Rumänien
ist einstweilen noch das große Fragezeichen auf der Hämushalbinsel.
Zwei Parteien stehen sich gegenüber: die französelnde des Kron-
prinzen und des derzeitigen Ministeriums Porumbaru mit dessen
Schildhaltern, der "Kulturliga", die alte dreibundfreundliche des
Königs und des greisen Führers Titu Majorescu. In einer ent-
scheidenden Ministersitzung hat König Karol kraft seiner sachlichen
Darlegungen, daß Deutschland und Oesterreich-Ungarn allein fähig
wären, mit Frankreich und Rußland und deren Verbündeten fertig
zu werden, nochmals einen Sieg davongetragen, und es darf immer-
hin gehofft werden, daß er die Oberhand behält, zumal ihm die Tat-
sachen immer mehr recht geben und kein Einsichtiger darüber im
Zweifel sein kann, daß der Marsch zarischer Truppen nach Konstan-
tinopel oder über die transsilvanischen Alpen zur Entsetzung Ser-
biens über ein zum hülflosen Leichnam gewordenes Rumänien er-
folgen würde.

Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen-
tarer Gewalt an die Seite der deutschen Mächte drängt, liegt klar
genug zu Tage. Die Feindschaft zwischen dem osmanischen und
dem russischen Reich ist uralt und unauslöschlich. Dadurch aber, daß
England als Sekundant der "Kulturarmeen" des Zaren gegen das
"Deutsche Barbarentum" auftritt, stößt es geradezu einen Dolch in
die Brust der Türkei, dessen Spitze diese bisher nur drohend auf
sich gerichtet gesehen und gefühlt hat. Die Taktik Londons gegen
die Hohe Pforte hat von jeher zwischen Zuckerbrot und Peitsche,
zwischen Liebeswerben, Scheinfreundschaftsanträgen und offener und
heimlicher Befehdung geschwankt. Das Ergebnis der wechselnden
Behandlung war jedoch für das osmanische Reich stets dasselbe:
immer ein Verlust, bald an Gebiet, bald an politischer Bewegungs-
freiheit, bald an wirtschaftlicher Selbständigkeit. Aegypten wurde
unter schwerem Völker- und Vertragsrechtsbruch der Oberhoheit des
Sultans entrissen, vom persischen Golf und vom Roten Meer legte
der unersättliche britische Imperialismus Minen gegen Arabien und
das Kalifat in dem Sinn, wie ihn jener Propagandaartikel aus Kit-
cheners Umgebung kennzeichnet, und durch seine Verbrüderung mit
Frankreich lieferte es den ganzen afrikanischen müslimischen Norden,
den der Padischah gleichfalls als sein staatskirchliches Schutzgebiet
anzusehen gewohnt war, der Beutegier einer christlichen Macht aus.

Kitchener, der sich all solcher Gefahren, der Erhebung der
Türkei und des ganzen Muselmanentums gegen England bei der
ersten günstigen Gelegenheit, wenn die britische Weltmacht in ihren
europäischen Stützpunkten bedroht würde, sehr wohl bewußt war,
hat alles getan, um diesen Drohungen von Aegypten aus, der zen-
tralen Zitadelle des englischen Imperiums im Orient, ein unerschüt-
terliches Bollwerk entgegenzusetzen. Er hat -- alles natürlich ohne
Rücksicht auf die mit der Hohen Pforte eingegangenen Vertrags-
verpflichtungen -- die schwache Besatzungstruppe im Nilreich verstärkt,
hat aus den regulären Verbänden in Südafrika, Malta und Aegyp-
ten selbst eine 17. stets kriegsbereite Division der "expeditionary
forces
" mit dem besonderen Zweck der Verteidigung Aegyptens
und seiner Grenzgebiete gebildet, hat den ganzen Sudan, soweit er
durch das Abkommen von 1889 zu einem zwitterhaften britisch-khedi-
vischen Kondominium gemacht wurde, zu einem fest eingedämmten
Staubecken und wohlgefüllten Arsenal der militärischen und wirt-
schaftlichen Kräfte Englands derart ausgebaut, daß, wenn einmal
am unteren Nil eine innere Revolution die Regierung des fremden
Herrn ins Wanken brächte, das Land scheinbar dennoch hülflos zu
Füßen Albions läge, hat am ganzen Küstensaum, vor allem in So-
lum, Alexandrien, Port Sudan, Suakin neue Befestigungen ange-
legt, oder die vorhandenen verstärkt, und hat schließlich dafür ge-
sorgt, daß gemäß den bekannten Besprechungen zwischen ihm, Sir
John Hamilton und Churchill in La Valetta der Bestand der Mittel-
meerflotte verdoppelt, das Schlachtschiffgeschwader bei Gibraltar um
vier Einheiten, das Kreuzergeschwader bei Malta um acht Einheiten

26. September 1914. Allgemeine Zeitung
[Spaltenumbruch] zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, ſo iſt nicht einzuſehen,
warum dieſe Spione ſich nur in einen der beiden Länder aufhalten
und die für ſie doch ſehr unſichere Briefpoſt benutzen ſollten.

Die bayeriſche Poſtbehörde hat in dieſen Tagen zum Beweiſe,
wie der Feldpoſt durch fehlerhafte und geradezu blödſinnige Adreſ-
ſen die Arbeit erſchwert wird, eine ſehr heitere Blumenleſe ver-
öffentlicht, die wirklich die beſte Verteidigung für ſie iſt. Möge ſie
nun aber auch mit dem ſonſtigen Briefverkehr innerhalb Deutſch-
lands und Oeſterreichs Ernſt machen. Noch immer brauchen Briefe
nach Oeſterreich faſt doppelt ſo lang, als die von dort an uns ge-
richteten, abgeſehen davon, daß die letzteren wie geſagt, anſtandslos
geſchloſſen und ohne Verletzung des Briefgeheimniſſes bei uns an-
kommen.



Der Orient und der Weltkrieg.

Als Lord Kitchener, der heutige diplomatiſche wie militäriſche
Organiſator des britiſchen Heereszuges gegen Deutſchland, vor drei
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der engliſch-offiziöſen „Egyptian Gazette“ ein Aufſehen erregender
Artikel, der ſich ausführlich über die imperialiſtiſchen Ziele, die
Großbritannien vom Nilreich als Stütz- und Hebelpunkt aus zu ver-
folgen aufgegeben ſeien, verbreitete. Die eigentümliche Reklame für
den Sieger von Khartum als Schmied neuer Weltmachtgröße Al-
bions endete mit den Worten:

Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimiſcher
Untertanen Großbritanniens bedeuten würde, zu wiſſen, daß
dieſes die Schutzherrſchaft über ihre heiligen Anbetungsſtätten
genießt, ſo müſſen wir einfach daran denken, den gigantiſchen
Traum, der von vielen Aegyptern geteilt wird, zu verwirklichen.
Das ägyptiſche Reich der Vergangenheit könnte noch einmal
wieder aufgerichtet werden. Syrien und Paläſtina würden dem
Nilreich angegliedert und die Stämme des Jemen, die unauf-
hörlich gegen die Türkei revoltieren, wären bereit — ſie ſind
es ſchon heute — ſich England zu unterwerfen. ... Das
ägyptiſche Problem iſt eine Frage, die weite, unabſehbare Mög-
lichkeiten in ſich birgt; es iſt Großbritanniens ernſte Pflicht, ſich
energiſch mit ihrer Löſung zu befaſſen.“

Inwieweit ſolche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung
Kitcheners ſelbſt übereinſtimmten, kann dahingeſtellt bleiben; jeden-
falls bildet ihre Verlautbarung ein gerade jetzt überaus intereſſan-
tes Dokument zur Kennzeichnung der überſpannten Herrentums-
gedanken, denen England ſich im Reich des Islam hingegeben hat
und deren Saat die vom Weltkrieg erſchütterte Gegenwart in merk-
würdiger Weiſe aufgehen läßt. Heute beten die 90 Millionen Be-
kenner des Propheten und mehr in ihren Moſcheen öffentlich für
deutſche Siege, heute fühlt England bereits den ägyptiſchen Boden
unter ſeinen Füßen zittern, heute weiß London, daß alle ſeine Be-
mühungen, Konſtantinopel, wo der Nachfolger des Propheten thront,
auf ſeine Seite herüberzuziehen, vergeblich ſind, heute wird dem in
aller ſeiner gewiſſenloſen Geriebenheit und Schlauheit doch kurz-
ſichtigen Sir E. Grey immer klarer, daß, wie ſo viele Maſchen des
über die ganze Welt gebreiteten Netzes, in dem Deutſchland gefangen
und erſtickt werden ſollte, auch die orientaliſche Rechnung ſeiner Kata-
ſtrophenpolitik nicht ſtimmt.

Kaum hatte ſich die ſerbiſche Kriſe derartig zugeſpitzt, daß Wien
ſeinen Geſandten aus Belgrad abberief, als der Petersburger Bot-
ſchafter in Konſtantinopel ſofort von der Hohen Pforte die Durch-
fahrt durch die Dardanellen für die ruſſiſche Schwarzmeer-Flotte
verlangte. Die Forderung wurde vom Großweſier Said Halim
Paſcha, trotzdem ſie der britiſche und franzöſiſche Botſchafter aufs
lebhafteſte unter allen möglichen Verſprechungen an die Türkei
unterſtützten, bündig und beſtimmt abgelehnt. Damit war der be-
ginnenden Uebertragung des europäiſchen Weltkriegsfiebers nach
dem Orient hin die charakteriſtiſche Note gegeben. Für Rußland
kam es bei ſeinem Verlangen natürlich zunächſt ſehr viel weniger
darauf an, die freie Fahrt ins Mittelmeer zu erlangen, wo es mit
ſeiner unmodernen und ſchwerfälligen Marinemacht doch wenig aus-
richten könnte, als Konſtantinopel ſelbſt in Schach zu ſetzen: der eitle
Traum, das griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia wiederaufzu-
richten und das alte Byzanz zum Bollwerk zwiſchen Weltallmacht zu
erheben, ſpukt ja noch immer als Endziel in der fantaſtiſchen Balkan-
politik des Allruſſentums. Für England hat die Dardanellenfrage
vor allem eine wirtſchaftliche, darum aber nicht minder gewichtige
Bedeutung. Seine jährliche Geſamteinfuhr an Lebensmitteln be-
trägt rund 182 Millionen Cwts. im Wert von 67 Millionen £,
wovon nicht weniger als ein Drittel, nämlich 64 Mill. Cwts. im
[Spaltenumbruch] Wert von 21.5 Millionen £ auf die Schwarzmeer-Aegäiſche Ver-
kehrsſtraße entfallen; wird dieſe alſo für Getreidedampfer geſperrt
— und nach der Shipping and Mercantile Gazette iſt das bereits
der Fall — ſo ſieht ſich das Vereinigte Königreich einer der wichtig-
ſten unter ſeinen Nahrungsmittelquellen, die ohnehin infolge der
deutſchen Minenlegung und der allgemeinen Lähmung des britiſchen
Handels ſämtlich ſchwach und unregelmäßig fließen, vollſtändig be-
raubt. Als die Ententegenoſſen bei der Hohen Pforte nichts er-
reichen konnten, verſuchten ſie ihr Glück in Bukareſt und Sofia:
auch hier mit ſehr wenig oder doch zweifelhaftem Erfolg. Bulgarien
bleibt jedenfalls kühl ablehnend: es hat ja deutlich genug im Balkan-
krieg erfahren, was die ruſſiſche Freundſchaft wert iſt. Rumänien
iſt einſtweilen noch das große Fragezeichen auf der Hämushalbinſel.
Zwei Parteien ſtehen ſich gegenüber: die franzöſelnde des Kron-
prinzen und des derzeitigen Miniſteriums Porumbaru mit deſſen
Schildhaltern, der „Kulturliga“, die alte dreibundfreundliche des
Königs und des greiſen Führers Titu Majorescu. In einer ent-
ſcheidenden Miniſterſitzung hat König Karol kraft ſeiner ſachlichen
Darlegungen, daß Deutſchland und Oeſterreich-Ungarn allein fähig
wären, mit Frankreich und Rußland und deren Verbündeten fertig
zu werden, nochmals einen Sieg davongetragen, und es darf immer-
hin gehofft werden, daß er die Oberhand behält, zumal ihm die Tat-
ſachen immer mehr recht geben und kein Einſichtiger darüber im
Zweifel ſein kann, daß der Marſch zariſcher Truppen nach Konſtan-
tinopel oder über die transſilvaniſchen Alpen zur Entſetzung Ser-
biens über ein zum hülfloſen Leichnam gewordenes Rumänien er-
folgen würde.

Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen-
tarer Gewalt an die Seite der deutſchen Mächte drängt, liegt klar
genug zu Tage. Die Feindſchaft zwiſchen dem osmaniſchen und
dem ruſſiſchen Reich iſt uralt und unauslöſchlich. Dadurch aber, daß
England als Sekundant der „Kulturarmeen“ des Zaren gegen das
„Deutſche Barbarentum“ auftritt, ſtößt es geradezu einen Dolch in
die Bruſt der Türkei, deſſen Spitze dieſe bisher nur drohend auf
ſich gerichtet geſehen und gefühlt hat. Die Taktik Londons gegen
die Hohe Pforte hat von jeher zwiſchen Zuckerbrot und Peitſche,
zwiſchen Liebeswerben, Scheinfreundſchaftsanträgen und offener und
heimlicher Befehdung geſchwankt. Das Ergebnis der wechſelnden
Behandlung war jedoch für das osmaniſche Reich ſtets dasſelbe:
immer ein Verluſt, bald an Gebiet, bald an politiſcher Bewegungs-
freiheit, bald an wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit. Aegypten wurde
unter ſchwerem Völker- und Vertragsrechtsbruch der Oberhoheit des
Sultans entriſſen, vom perſiſchen Golf und vom Roten Meer legte
der unerſättliche britiſche Imperialismus Minen gegen Arabien und
das Kalifat in dem Sinn, wie ihn jener Propagandaartikel aus Kit-
cheners Umgebung kennzeichnet, und durch ſeine Verbrüderung mit
Frankreich lieferte es den ganzen afrikaniſchen müslimiſchen Norden,
den der Padiſchah gleichfalls als ſein ſtaatskirchliches Schutzgebiet
anzuſehen gewohnt war, der Beutegier einer chriſtlichen Macht aus.

Kitchener, der ſich all ſolcher Gefahren, der Erhebung der
Türkei und des ganzen Muſelmanentums gegen England bei der
erſten günſtigen Gelegenheit, wenn die britiſche Weltmacht in ihren
europäiſchen Stützpunkten bedroht würde, ſehr wohl bewußt war,
hat alles getan, um dieſen Drohungen von Aegypten aus, der zen-
tralen Zitadelle des engliſchen Imperiums im Orient, ein unerſchüt-
terliches Bollwerk entgegenzuſetzen. Er hat — alles natürlich ohne
Rückſicht auf die mit der Hohen Pforte eingegangenen Vertrags-
verpflichtungen — die ſchwache Beſatzungstruppe im Nilreich verſtärkt,
hat aus den regulären Verbänden in Südafrika, Malta und Aegyp-
ten ſelbſt eine 17. ſtets kriegsbereite Diviſion der „expeditionary
forces
“ mit dem beſonderen Zweck der Verteidigung Aegyptens
und ſeiner Grenzgebiete gebildet, hat den ganzen Sudan, ſoweit er
durch das Abkommen von 1889 zu einem zwitterhaften britiſch-khedi-
viſchen Kondominium gemacht wurde, zu einem feſt eingedämmten
Staubecken und wohlgefüllten Arſenal der militäriſchen und wirt-
ſchaftlichen Kräfte Englands derart ausgebaut, daß, wenn einmal
am unteren Nil eine innere Revolution die Regierung des fremden
Herrn ins Wanken brächte, das Land ſcheinbar dennoch hülflos zu
Füßen Albions läge, hat am ganzen Küſtenſaum, vor allem in So-
lum, Alexandrien, Port Sudan, Suakin neue Befeſtigungen ange-
legt, oder die vorhandenen verſtärkt, und hat ſchließlich dafür ge-
ſorgt, daß gemäß den bekannten Beſprechungen zwiſchen ihm, Sir
John Hamilton und Churchill in La Valetta der Beſtand der Mittel-
meerflotte verdoppelt, das Schlachtſchiffgeſchwader bei Gibraltar um
vier Einheiten, das Kreuzergeſchwader bei Malta um acht Einheiten

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[581/0007] 26. September 1914. Allgemeine Zeitung zen aufhalten. Wäre es aber der Fall, ſo iſt nicht einzuſehen, warum dieſe Spione ſich nur in einen der beiden Länder aufhalten und die für ſie doch ſehr unſichere Briefpoſt benutzen ſollten. Die bayeriſche Poſtbehörde hat in dieſen Tagen zum Beweiſe, wie der Feldpoſt durch fehlerhafte und geradezu blödſinnige Adreſ- ſen die Arbeit erſchwert wird, eine ſehr heitere Blumenleſe ver- öffentlicht, die wirklich die beſte Verteidigung für ſie iſt. Möge ſie nun aber auch mit dem ſonſtigen Briefverkehr innerhalb Deutſch- lands und Oeſterreichs Ernſt machen. Noch immer brauchen Briefe nach Oeſterreich faſt doppelt ſo lang, als die von dort an uns ge- richteten, abgeſehen davon, daß die letzteren wie geſagt, anſtandslos geſchloſſen und ohne Verletzung des Briefgeheimniſſes bei uns an- kommen. Der Orient und der Weltkrieg. Als Lord Kitchener, der heutige diplomatiſche wie militäriſche Organiſator des britiſchen Heereszuges gegen Deutſchland, vor drei Jahren ſein Amt eines Generalkonſuls in Kairo antrat, erſchien in der engliſch-offiziöſen „Egyptian Gazette“ ein Aufſehen erregender Artikel, der ſich ausführlich über die imperialiſtiſchen Ziele, die Großbritannien vom Nilreich als Stütz- und Hebelpunkt aus zu ver- folgen aufgegeben ſeien, verbreitete. Die eigentümliche Reklame für den Sieger von Khartum als Schmied neuer Weltmachtgröße Al- bions endete mit den Worten: Wenn wir erwägen, was es für 90 Millionen müslimiſcher Untertanen Großbritanniens bedeuten würde, zu wiſſen, daß dieſes die Schutzherrſchaft über ihre heiligen Anbetungsſtätten genießt, ſo müſſen wir einfach daran denken, den gigantiſchen Traum, der von vielen Aegyptern geteilt wird, zu verwirklichen. Das ägyptiſche Reich der Vergangenheit könnte noch einmal wieder aufgerichtet werden. Syrien und Paläſtina würden dem Nilreich angegliedert und die Stämme des Jemen, die unauf- hörlich gegen die Türkei revoltieren, wären bereit — ſie ſind es ſchon heute — ſich England zu unterwerfen. ... Das ägyptiſche Problem iſt eine Frage, die weite, unabſehbare Mög- lichkeiten in ſich birgt; es iſt Großbritanniens ernſte Pflicht, ſich energiſch mit ihrer Löſung zu befaſſen.“ Inwieweit ſolche Ideen mit den Richtlinien der Amtsführung Kitcheners ſelbſt übereinſtimmten, kann dahingeſtellt bleiben; jeden- falls bildet ihre Verlautbarung ein gerade jetzt überaus intereſſan- tes Dokument zur Kennzeichnung der überſpannten Herrentums- gedanken, denen England ſich im Reich des Islam hingegeben hat und deren Saat die vom Weltkrieg erſchütterte Gegenwart in merk- würdiger Weiſe aufgehen läßt. Heute beten die 90 Millionen Be- kenner des Propheten und mehr in ihren Moſcheen öffentlich für deutſche Siege, heute fühlt England bereits den ägyptiſchen Boden unter ſeinen Füßen zittern, heute weiß London, daß alle ſeine Be- mühungen, Konſtantinopel, wo der Nachfolger des Propheten thront, auf ſeine Seite herüberzuziehen, vergeblich ſind, heute wird dem in aller ſeiner gewiſſenloſen Geriebenheit und Schlauheit doch kurz- ſichtigen Sir E. Grey immer klarer, daß, wie ſo viele Maſchen des über die ganze Welt gebreiteten Netzes, in dem Deutſchland gefangen und erſtickt werden ſollte, auch die orientaliſche Rechnung ſeiner Kata- ſtrophenpolitik nicht ſtimmt. Kaum hatte ſich die ſerbiſche Kriſe derartig zugeſpitzt, daß Wien ſeinen Geſandten aus Belgrad abberief, als der Petersburger Bot- ſchafter in Konſtantinopel ſofort von der Hohen Pforte die Durch- fahrt durch die Dardanellen für die ruſſiſche Schwarzmeer-Flotte verlangte. Die Forderung wurde vom Großweſier Said Halim Paſcha, trotzdem ſie der britiſche und franzöſiſche Botſchafter aufs lebhafteſte unter allen möglichen Verſprechungen an die Türkei unterſtützten, bündig und beſtimmt abgelehnt. Damit war der be- ginnenden Uebertragung des europäiſchen Weltkriegsfiebers nach dem Orient hin die charakteriſtiſche Note gegeben. Für Rußland kam es bei ſeinem Verlangen natürlich zunächſt ſehr viel weniger darauf an, die freie Fahrt ins Mittelmeer zu erlangen, wo es mit ſeiner unmodernen und ſchwerfälligen Marinemacht doch wenig aus- richten könnte, als Konſtantinopel ſelbſt in Schach zu ſetzen: der eitle Traum, das griechiſche Kreuz auf der Hagia Sophia wiederaufzu- richten und das alte Byzanz zum Bollwerk zwiſchen Weltallmacht zu erheben, ſpukt ja noch immer als Endziel in der fantaſtiſchen Balkan- politik des Allruſſentums. Für England hat die Dardanellenfrage vor allem eine wirtſchaftliche, darum aber nicht minder gewichtige Bedeutung. Seine jährliche Geſamteinfuhr an Lebensmitteln be- trägt rund 182 Millionen Cwts. im Wert von 67 Millionen £, wovon nicht weniger als ein Drittel, nämlich 64 Mill. Cwts. im Wert von 21.5 Millionen £ auf die Schwarzmeer-Aegäiſche Ver- kehrsſtraße entfallen; wird dieſe alſo für Getreidedampfer geſperrt — und nach der Shipping and Mercantile Gazette iſt das bereits der Fall — ſo ſieht ſich das Vereinigte Königreich einer der wichtig- ſten unter ſeinen Nahrungsmittelquellen, die ohnehin infolge der deutſchen Minenlegung und der allgemeinen Lähmung des britiſchen Handels ſämtlich ſchwach und unregelmäßig fließen, vollſtändig be- raubt. Als die Ententegenoſſen bei der Hohen Pforte nichts er- reichen konnten, verſuchten ſie ihr Glück in Bukareſt und Sofia: auch hier mit ſehr wenig oder doch zweifelhaftem Erfolg. Bulgarien bleibt jedenfalls kühl ablehnend: es hat ja deutlich genug im Balkan- krieg erfahren, was die ruſſiſche Freundſchaft wert iſt. Rumänien iſt einſtweilen noch das große Fragezeichen auf der Hämushalbinſel. Zwei Parteien ſtehen ſich gegenüber: die franzöſelnde des Kron- prinzen und des derzeitigen Miniſteriums Porumbaru mit deſſen Schildhaltern, der „Kulturliga“, die alte dreibundfreundliche des Königs und des greiſen Führers Titu Majorescu. In einer ent- ſcheidenden Miniſterſitzung hat König Karol kraft ſeiner ſachlichen Darlegungen, daß Deutſchland und Oeſterreich-Ungarn allein fähig wären, mit Frankreich und Rußland und deren Verbündeten fertig zu werden, nochmals einen Sieg davongetragen, und es darf immer- hin gehofft werden, daß er die Oberhand behält, zumal ihm die Tat- ſachen immer mehr recht geben und kein Einſichtiger darüber im Zweifel ſein kann, daß der Marſch zariſcher Truppen nach Konſtan- tinopel oder über die transſilvaniſchen Alpen zur Entſetzung Ser- biens über ein zum hülfloſen Leichnam gewordenes Rumänien er- folgen würde. Was die Türkei in dem gewaltigen Völkerringen mit elemen- tarer Gewalt an die Seite der deutſchen Mächte drängt, liegt klar genug zu Tage. Die Feindſchaft zwiſchen dem osmaniſchen und dem ruſſiſchen Reich iſt uralt und unauslöſchlich. Dadurch aber, daß England als Sekundant der „Kulturarmeen“ des Zaren gegen das „Deutſche Barbarentum“ auftritt, ſtößt es geradezu einen Dolch in die Bruſt der Türkei, deſſen Spitze dieſe bisher nur drohend auf ſich gerichtet geſehen und gefühlt hat. Die Taktik Londons gegen die Hohe Pforte hat von jeher zwiſchen Zuckerbrot und Peitſche, zwiſchen Liebeswerben, Scheinfreundſchaftsanträgen und offener und heimlicher Befehdung geſchwankt. Das Ergebnis der wechſelnden Behandlung war jedoch für das osmaniſche Reich ſtets dasſelbe: immer ein Verluſt, bald an Gebiet, bald an politiſcher Bewegungs- freiheit, bald an wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit. Aegypten wurde unter ſchwerem Völker- und Vertragsrechtsbruch der Oberhoheit des Sultans entriſſen, vom perſiſchen Golf und vom Roten Meer legte der unerſättliche britiſche Imperialismus Minen gegen Arabien und das Kalifat in dem Sinn, wie ihn jener Propagandaartikel aus Kit- cheners Umgebung kennzeichnet, und durch ſeine Verbrüderung mit Frankreich lieferte es den ganzen afrikaniſchen müslimiſchen Norden, den der Padiſchah gleichfalls als ſein ſtaatskirchliches Schutzgebiet anzuſehen gewohnt war, der Beutegier einer chriſtlichen Macht aus. Kitchener, der ſich all ſolcher Gefahren, der Erhebung der Türkei und des ganzen Muſelmanentums gegen England bei der erſten günſtigen Gelegenheit, wenn die britiſche Weltmacht in ihren europäiſchen Stützpunkten bedroht würde, ſehr wohl bewußt war, hat alles getan, um dieſen Drohungen von Aegypten aus, der zen- tralen Zitadelle des engliſchen Imperiums im Orient, ein unerſchüt- terliches Bollwerk entgegenzuſetzen. Er hat — alles natürlich ohne Rückſicht auf die mit der Hohen Pforte eingegangenen Vertrags- verpflichtungen — die ſchwache Beſatzungstruppe im Nilreich verſtärkt, hat aus den regulären Verbänden in Südafrika, Malta und Aegyp- ten ſelbſt eine 17. ſtets kriegsbereite Diviſion der „expeditionary forces“ mit dem beſonderen Zweck der Verteidigung Aegyptens und ſeiner Grenzgebiete gebildet, hat den ganzen Sudan, ſoweit er durch das Abkommen von 1889 zu einem zwitterhaften britiſch-khedi- viſchen Kondominium gemacht wurde, zu einem feſt eingedämmten Staubecken und wohlgefüllten Arſenal der militäriſchen und wirt- ſchaftlichen Kräfte Englands derart ausgebaut, daß, wenn einmal am unteren Nil eine innere Revolution die Regierung des fremden Herrn ins Wanken brächte, das Land ſcheinbar dennoch hülflos zu Füßen Albions läge, hat am ganzen Küſtenſaum, vor allem in So- lum, Alexandrien, Port Sudan, Suakin neue Befeſtigungen ange- legt, oder die vorhandenen verſtärkt, und hat ſchließlich dafür ge- ſorgt, daß gemäß den bekannten Beſprechungen zwiſchen ihm, Sir John Hamilton und Churchill in La Valetta der Beſtand der Mittel- meerflotte verdoppelt, das Schlachtſchiffgeſchwader bei Gibraltar um vier Einheiten, das Kreuzergeſchwader bei Malta um acht Einheiten

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 39, 26. September 1914, S. 581. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine39_1914/7>, abgerufen am 21.11.2024.