Allgemeine Zeitung, Nr. 46, 15. Februar 1871.[Spaltenumbruch]
der eben mit Getreide aus Rouen angekommen, zu sistiren und ebenso eine Von der Wahlbewegung in Paris, die mit heute abschließt, wird man Selbst über Belleville lag der Druck der Unsicherheit. Was die Fri- Vor Belfort schreibt man dem "Bund:" * Aus Fontenelle (vor Belfort) 9 Febr., erhalten wir von einem Deutsches Reich. * Augsburg, 13 Febr. Die "A. Postz." veröffentlicht an der "Die Einheit Deutschlands von der Nordsee bis zu [Spaltenumbruch]
der eben mit Getreide aus Rouen angekommen, zu ſiſtiren und ebenſo eine Von der Wahlbewegung in Paris, die mit heute abſchließt, wird man Selbſt über Belleville lag der Druck der Unſicherheit. Was die Fri- Vor Belfort ſchreibt man dem „Bund:“ * Aus Fontenelle (vor Belfort) 9 Febr., erhalten wir von einem Deutſches Reich. * Augsburg, 13 Febr. Die „A. Poſtz.“ veröffentlicht an der „Die Einheit Deutſchlands von der Nordſee bis zu <TEI> <text> <body> <div type="jPoliticalNews" n="1"> <div n="2"> <div type="jComment" n="3"> <p><pb facs="#f0003" n="763"/><cb/> der eben mit Getreide aus Rouen angekommen, zu ſiſtiren und ebenſo eine<lb/> Heerde von 220 Häuptern Rindvieh in S<hi rendition="#aq">è</hi>vres einſtweilen in Beſchlag zu<lb/> nehmen — als dieſe Folgen des Conventionsbruchs von franzöſiſcher Seite<lb/> dem Publicum vor Augen geführt wurden, war Hr. Gambetta verloren.<lb/> Allein die politiſche Seite der Ernährungsfrage iſt damit noch nicht abge-<lb/> ſchloſſen. Das Ravitaill ement gibt die erſte Gelegenheit zu einer Berüh-<lb/> rung zwiſchen den Pariſern und den deutſchen Truppen, und zwar nimmt<lb/> dieſer Contact gleich die außerordentlichſten Verhältniſſe an. Man geräth<lb/> in einige Verlegenheit wenn man das bunte Leben ſchildern ſoll das ſich<lb/> an den Hauptverkehrspunkten der großen, für die Zufuhr nach Paris er-<lb/> öffneten Straßen entfaltet. Eine der lebhafteſten Stellen iſt die Seine-<lb/> Brücke von Neuilly. Die Omnibusverbindung aus Paris, auf der Linie<lb/> Louvre-Courbevoie, unterſtützt die Frequenz dieſer Paſſage. Anfangs hat<lb/> man einige Schwierigkeit ſich klar zu machen was dieſe Tauſende von Men-<lb/> ſchen hier wollen. Kamen ſie nur aus Neugier um die preußiſchen Vorpoſten<lb/> zu ſehen? Wollen ſie ſich ſättigen am Anblick dieſer endloſen Karawanen<lb/> von über und über aufgebürdeten Marktwagen? Aber näher zugeſehen<lb/> iſt außer der Neugierde doch noch ein energiſcher ausgebildeter Inſtinct im<lb/> Spiele. Es wird hier „Selbſtverproviantirung“ getrieben. Leben wir<lb/> doch ohnehin in dem Jahrhundert der Selbſthülfe! Vor den preußiſchen<lb/> Vorpoſten, am linken Brückenkopf, hat ſich ein Markt eröffnet; Detail-<lb/> händler, die aus der Nähe herbeigekommen ſind, halten ihn ab, und preu-<lb/> ßiſche Soldaten üben Marktpolizei. Dieſe Marktpolizei nun gerade iſt es<lb/> was den Pariſern gefällt. Es ſind preußiſche Landwehrleute gegenüber<lb/> von Neuilly, verheirathete Männer, welche die Marktpreiſe ſo ungefähr<lb/> kennen. Dieſe legen ihr Veto ein wenn die franzöſiſchen Händler ihre<lb/> ausgehungerten Landsleute übertheuern wollen, und zwingen ſie billiger<lb/> zu verkaufen; eine national-ökonomiſche Wohlthat, die von unſern Män-<lb/> nern mit edlem Aufwand an ſittlicher Entrüſtung über die Geldgier der<lb/> franzöſiſchen Speculanten geübt, von den Pariſern aber mit aufrichtig<lb/> loyalem Danke begrüßt wird. Die Pariſer Blätter, ſelbſt ſolche wie der<lb/> „Gaulois,“ ſagen jetzt ſchon daß die Preußen bei der Angelegenheit des<lb/> Ravitaillement weit coulanter ſeien als die franzöſiſche Regierung. In<lb/> der Privatunterhaltung urtheilt das franzöſiſche Publicum: es ſei leider<lb/> wahr daß man von der Verwaltung in Frankreich ſpottwenig verſtehe. Fünf<lb/> Monate lang, und in Zeiten wo nichts da war, habe die Regierung mit<lb/> Zwangspreiſen gewirthſchaftet. Jetzt läge es nahe, um unrechtmäßigen<lb/> Speculationen zu wehren, ein Maximum für die wichtigſten Lebensmittel<lb/> einzuſetzen; wenn man aber darum bitte, antworte die Regierung: das<lb/> gehe nicht; die Zufuhr würde nachlaſſen wenn die Ausſicht auf Ver-<lb/> dienſt nicht unbegränzt bliebe.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <p>Von der Wahlbewegung in Paris, die mit heute abſchließt, wird man<lb/> im ganzen ſagen müſſen daß ſie lahm und planlos war. Gewiß iſt es nach<lb/> einer Seite hin zu weit gegangen wenn man mit dem kirchlich finſtern<lb/> „Univers“ ſagen wollte: „Dieſer Carneval der Wahlen von 1871 wird<lb/> Paris noch lange zur Schande gereichen,“ und gewiß wär’ es übertrieben,<lb/> nach einer andern Richtung, wenn man ohne weiteres dem ewig ſpottenden<lb/> „Figaro“ beipflichten wollte, welcher verzweifelt ausruft: „Die Wahlver-<lb/> ſammlungen ſind zum größten Theil lächerlich; die Anpreiſungen welche<lb/> ſie von ſich ſelber machen waren nie ſchwächer; die Namen der Deputirten<lb/> welche ſich anbieten niemals nichtiger.“ Wenn die Parteien nicht nur,<lb/> auch ihre geringeren Nebenſchattirungen wieder wild auseinander giengen,<lb/> etliche 40 Candidatenliſten zum mindeſten nebeneinander aus der Erde<lb/> wuchſen, ſo liegt ein Hauptgrund dafür darin daß die Auffindung der<lb/> Candidaten große Schwierigkeiten machte. Die Perſonenfrage war ein<lb/> vollſtändiges Dilemma. Man wollte Republicaner wählen. Aber woher<lb/> die Kriterien nehmen? Wollte man auf die Oppoſitionsmänner des Kaiſer-<lb/> reiches zurückgehen — die Auswahl mußte gering ausfallen. Man dachte —<lb/> was ſehr naturgemäß war — an die Republicaner von 1848; aber viele<lb/> von ihnen ſind ſtumpf geworden, viele haben ſich „verbraucht,“ weil ſie<lb/> nach 1851 die kaiſerliche Farbe angenommen. Jedermann will die Repu-<lb/> blik — aber es gibt keine Republicaner, wenigſtens keine denen jeder zu-<lb/> traut daß ſie nur und für immer Republicaner ſein werden. Unverkennbar<lb/> haben die meiſten Redner in den Wahldebatten nur ihrem Aerger über die<lb/> Ereigniſſe der letzten Monate Luft gemacht. Paris lag ihnen näher als<lb/> Bordeaux. Trotzdem aber kann man nicht läugnen daß einige Comit<hi rendition="#aq">é</hi>s<lb/> das ernſte Beſtreben gehabt haben die Candidatenfrage gründlich zu prüfen.<lb/> Wenigſtens im „Comit<hi rendition="#aq">é</hi> central“ und bei den liberalen Republicanern war<lb/> dieß der Fall. Aber die Unklarheit der Perſonenfrage zeigte ſich auch hier.<lb/> Sie trat ſofort in ihrer ganzen Schärfe auf als es ſich darum handelte die<lb/> Mitglieder der Regierung entweder auf die Liſte zu ſetzen oder auszu-<lb/> ſchließen. „Wer von den September Männern iſt republicaniſch genug?“<lb/> fragte man ſelbſt hier im Kreiſe der Gemäßigten. Man entſchied ſich zuletzt<lb/> nur für J. Favre. Bei vielen andern Candidaturen dieſelben Bedenken.<lb/> Man hielt es endlich für das beſte eine Liſte von Notabilitäten, hauptſäch-<lb/><cb/> lich der Pariſer Geſellſchaft, aufzuſtellen — Namen die ebenſowohl unter<lb/> Louis Philipp als unter dem Kaiſer geglänzt haben, und von denen man<lb/> nur überzeugt zu ſein glaubte daß ſie auch unter der Republik glänzen<lb/> würden. Wenigſtens war das ehrlich gehandelt.</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <p>Selbſt über Belleville lag der Druck der Unſicherheit. Was die Fri-<lb/> volität der Worte und das ſchroffe Spiel mit den religiöſen Dingen anbe-<lb/> trifft, mögen ſich die Anhänger von Flourens und Blanqui mit den<lb/> Männern der Commune von 1793 oder den „Vagabonds,“ wie Lamartine<lb/> die Vertreter des ſocialen Aufruhrs in den Februar-Tagen nannte, meſſen.<lb/> Ihre Entſchloſſenheit iſt, Gott ſei Dank, von ſchwächerer Ader. Es haben<lb/> noch einige Redner für Krieg bis aufs äußerſte geſprochen, aber die Be-<lb/> richte ſagen daß die Verſammlung dieſe Redner ſchweigend angehört habe.<lb/> Nehmen wir ja Notiz von dem erſchütternden Ereigniß daß Victor Hugo<lb/> und — Rochefort von den Bellevilliſten abgelehnt worden ſind. Zwar<lb/> Victor Hugo ſaß zwanzig Jahre lang auf einſamem Felſen — ein lebendi-<lb/> ger Proteſt gegen das Kaiſerthum. Aber — ſagt ein Redner — er iſt<lb/> keiner der Unſrigen; er iſt ein Ariſtokrat, denn — er gehört zum Bürger-<lb/> thum. Ueberdieß, die ſociale Partei bedarf junger thatkräftiger Talente;<lb/> ſie bedarf der Zukunfts- und nicht der Vergangenheitsmenſchen. Noch ver-<lb/> nichtender das Veto gegen Rochefort. Er war Mitglied der Regierung des<lb/> nationalen Verraths — <hi rendition="#aq">„gouvernement de la trahison nationale,“</hi> lautet<lb/> die Bezeichnung in Belleville. Wo war Rochefort als am 8 Oct. die fünf<lb/> Bataillone vor das Stadthaus zogen? Man bemerkte ihn nur einige<lb/> Augenblicke an einem Fenſter, verborgen hinter dem Vorhang. Später,<lb/> am 31 Oct. allerdings, wo er einſehen mochte daß über kurz oder lang die<lb/> letzte Stunde der Regierung ſchlagen müſſe, ſagte er ſich los — aber er<lb/> ſchwieg, und ließ den „Verrath“ ſich erfüllen. Rochefort iſt feig und un-<lb/> zuverläſſig — alſo auch er kein Republicaner. Was bleibt den Männern<lb/> von Belleville?</p> </div><lb/> <div type="jComment" n="3"> <p>Vor <hi rendition="#b">Belfort</hi> ſchreibt man dem „Bund:“ <cit><quote>„Die Belagerung von<lb/> Belfort iſt um einen Schritt vorwärts gerückt; am 8 Februar wurden die<lb/> Perches, eine Hügelreihe zwiſchen Belfort und Danjoutin, von den Deut-<lb/> ſchen beſetzt. Schon ſeit einigen Tagen waren die Laufgräben vollendet,<lb/> und man erwartete ſtündlich einen Sturm. Die Franzoſen waren durch<lb/> das Geſchützfeuer theilweiſe aus den Schanzen vertrieben worden, und ſo<lb/> koſtete das Wegnehmen wenig Opfer. Vor ungefähr zehn Tagen hatte<lb/> man verſucht die Perches in der Nacht zu überrumpeln, doch wurden, wie<lb/> bekannt, die Angreifenden zurückgeſchlagen mit Verluſt von 100 Todten<lb/> und Verwundeten, ſowie 300 bis 400 Gefangenen. Ohne die Perches iſt<lb/> Belfort noch ſehr ſtark, denn hinter dieſen, durch ein viertelſtundenbreites<lb/> Thal getrennt, liegt das Fort Juſtice und wieder hinter dieſem, ebenfalls<lb/> durch ein Thal getrennt, das Fort Myotte. Dieſe feuern nun unabläſſig<lb/> um das Errichten deutſcher Batterien zu verhindern, und es können Wochen<lb/> verſtreichen ehe es gelingt dieſe Forts mit Waffengewalt zu nehmen.“</quote></cit></p> </div><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>* Aus <hi rendition="#b">Fontenelle</hi> (vor Belfort) 9 Febr.,</dateline> <p>erhalten wir von einem<lb/> bayer. Kanonier einen Feldpoſtbrief, dem wir folgendes entnehmen: <cit><quote>„Nach-<lb/> dem in allen Blättern von Waffenſtillſtand und Frieden die Rede iſt, wird<lb/> von den wichtigſten Punkten der Feſtung Belfort eigentlich ſo wenig ge-<lb/> ſagt. Es gelang den deutſchen Truppen das Dorf P<hi rendition="#aq">é</hi>rouſe und den daran<lb/> ſtoßenden Wald nebſt Schanze zu nehmen. Vier bayeriſche Batterien er-<lb/> hielten den Befehl nächſt dem Dorfe vier gez. 24-Pfünder Batterien zu<lb/> bauen. Der Befehl wurde mit ganz geringen Verluſten ausgeführt; es<lb/> handelte ſich, nachdem die Batterien gebaut waren, um das Armiren der-<lb/> ſelben. Hiebei zeichnete ſich die zweite Batterie des dritten kgl. bayer.<lb/> Artillerie-Regiments beſonders aus. Die ſchweren Geſchütze konnten wegen<lb/> des großen Geräuſches nicht durch Pferdekraft den ſteilen Berg hinauf in<lb/> die Batterien gebracht werden, da man doch nur die kurze Diſtanz von<lb/> 1400 Schritten von der Feſtung entfernt war, wo man bei Nachtzeit das<lb/> geringſte Geräuſch hört. Der Hauptmann, auf die Feſtigkeit ſeiner Kano-<lb/> niere bauend, befahl die Geſchütze durch die Leute in die Batterien ver-<lb/> bringen zu laſſen; es ſpannten ſich 50 Mann an ein mit Protze ſammt<lb/> Laffette nahezu 80 Centner ſchweres Geſchütz, und in fünf Viertelſtunden<lb/> ſchauten vier der fürchterlichen Feuerſchlünde gegen Fort Juſtice et La Miot,<lb/> und das ſchwerſte Stück Arbeit welches die Belagerung der Feſtungen uns<lb/> bisher auferlegt hatte war geſchehen. Wenn man bedenkt daß jeder Ein-<lb/> zelne ohne Laſt buchſtäblich bis über die Kniee in den Koth ſank, kann man<lb/> ſich eine Vorſtellung machen was die Leute zu leiſten hatten; aber von<lb/> dem Geiſte beſeelt Mitgründer des deutſchen Reiches zu ſein, ließ keiner<lb/> den Muth ſinken. Und wenn auch jetzt wenig von den Leiſtungen der<lb/> bayeriſchen Truppen vor dem ſo wichtigen ſtrategiſchen Punkte verlautet,<lb/> wir tröſten uns mit dem Bewußtſein unſere volle Pflicht erfüllt zu haben.“</quote></cit></p> </div> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Deutſches Reich.</hi> </head><lb/> <div type="jArticle" n="3"> <dateline>* <hi rendition="#b">Augsburg,</hi> 13 Febr.</dateline> <p>Die „A. Poſtz.“ veröffentlicht an der<lb/> Spitze ihrer heutigen Nummer folgendes Wahlprogramm der patriotiſchen<lb/> Partei in Schwaben:</p> <floatingText> <body> <div n="1"> <p>„Die Einheit Deutſchlands von der Nordſee bis zu<lb/></p> </div> </body> </floatingText> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [763/0003]
der eben mit Getreide aus Rouen angekommen, zu ſiſtiren und ebenſo eine
Heerde von 220 Häuptern Rindvieh in Sèvres einſtweilen in Beſchlag zu
nehmen — als dieſe Folgen des Conventionsbruchs von franzöſiſcher Seite
dem Publicum vor Augen geführt wurden, war Hr. Gambetta verloren.
Allein die politiſche Seite der Ernährungsfrage iſt damit noch nicht abge-
ſchloſſen. Das Ravitaill ement gibt die erſte Gelegenheit zu einer Berüh-
rung zwiſchen den Pariſern und den deutſchen Truppen, und zwar nimmt
dieſer Contact gleich die außerordentlichſten Verhältniſſe an. Man geräth
in einige Verlegenheit wenn man das bunte Leben ſchildern ſoll das ſich
an den Hauptverkehrspunkten der großen, für die Zufuhr nach Paris er-
öffneten Straßen entfaltet. Eine der lebhafteſten Stellen iſt die Seine-
Brücke von Neuilly. Die Omnibusverbindung aus Paris, auf der Linie
Louvre-Courbevoie, unterſtützt die Frequenz dieſer Paſſage. Anfangs hat
man einige Schwierigkeit ſich klar zu machen was dieſe Tauſende von Men-
ſchen hier wollen. Kamen ſie nur aus Neugier um die preußiſchen Vorpoſten
zu ſehen? Wollen ſie ſich ſättigen am Anblick dieſer endloſen Karawanen
von über und über aufgebürdeten Marktwagen? Aber näher zugeſehen
iſt außer der Neugierde doch noch ein energiſcher ausgebildeter Inſtinct im
Spiele. Es wird hier „Selbſtverproviantirung“ getrieben. Leben wir
doch ohnehin in dem Jahrhundert der Selbſthülfe! Vor den preußiſchen
Vorpoſten, am linken Brückenkopf, hat ſich ein Markt eröffnet; Detail-
händler, die aus der Nähe herbeigekommen ſind, halten ihn ab, und preu-
ßiſche Soldaten üben Marktpolizei. Dieſe Marktpolizei nun gerade iſt es
was den Pariſern gefällt. Es ſind preußiſche Landwehrleute gegenüber
von Neuilly, verheirathete Männer, welche die Marktpreiſe ſo ungefähr
kennen. Dieſe legen ihr Veto ein wenn die franzöſiſchen Händler ihre
ausgehungerten Landsleute übertheuern wollen, und zwingen ſie billiger
zu verkaufen; eine national-ökonomiſche Wohlthat, die von unſern Män-
nern mit edlem Aufwand an ſittlicher Entrüſtung über die Geldgier der
franzöſiſchen Speculanten geübt, von den Pariſern aber mit aufrichtig
loyalem Danke begrüßt wird. Die Pariſer Blätter, ſelbſt ſolche wie der
„Gaulois,“ ſagen jetzt ſchon daß die Preußen bei der Angelegenheit des
Ravitaillement weit coulanter ſeien als die franzöſiſche Regierung. In
der Privatunterhaltung urtheilt das franzöſiſche Publicum: es ſei leider
wahr daß man von der Verwaltung in Frankreich ſpottwenig verſtehe. Fünf
Monate lang, und in Zeiten wo nichts da war, habe die Regierung mit
Zwangspreiſen gewirthſchaftet. Jetzt läge es nahe, um unrechtmäßigen
Speculationen zu wehren, ein Maximum für die wichtigſten Lebensmittel
einzuſetzen; wenn man aber darum bitte, antworte die Regierung: das
gehe nicht; die Zufuhr würde nachlaſſen wenn die Ausſicht auf Ver-
dienſt nicht unbegränzt bliebe.
Von der Wahlbewegung in Paris, die mit heute abſchließt, wird man
im ganzen ſagen müſſen daß ſie lahm und planlos war. Gewiß iſt es nach
einer Seite hin zu weit gegangen wenn man mit dem kirchlich finſtern
„Univers“ ſagen wollte: „Dieſer Carneval der Wahlen von 1871 wird
Paris noch lange zur Schande gereichen,“ und gewiß wär’ es übertrieben,
nach einer andern Richtung, wenn man ohne weiteres dem ewig ſpottenden
„Figaro“ beipflichten wollte, welcher verzweifelt ausruft: „Die Wahlver-
ſammlungen ſind zum größten Theil lächerlich; die Anpreiſungen welche
ſie von ſich ſelber machen waren nie ſchwächer; die Namen der Deputirten
welche ſich anbieten niemals nichtiger.“ Wenn die Parteien nicht nur,
auch ihre geringeren Nebenſchattirungen wieder wild auseinander giengen,
etliche 40 Candidatenliſten zum mindeſten nebeneinander aus der Erde
wuchſen, ſo liegt ein Hauptgrund dafür darin daß die Auffindung der
Candidaten große Schwierigkeiten machte. Die Perſonenfrage war ein
vollſtändiges Dilemma. Man wollte Republicaner wählen. Aber woher
die Kriterien nehmen? Wollte man auf die Oppoſitionsmänner des Kaiſer-
reiches zurückgehen — die Auswahl mußte gering ausfallen. Man dachte —
was ſehr naturgemäß war — an die Republicaner von 1848; aber viele
von ihnen ſind ſtumpf geworden, viele haben ſich „verbraucht,“ weil ſie
nach 1851 die kaiſerliche Farbe angenommen. Jedermann will die Repu-
blik — aber es gibt keine Republicaner, wenigſtens keine denen jeder zu-
traut daß ſie nur und für immer Republicaner ſein werden. Unverkennbar
haben die meiſten Redner in den Wahldebatten nur ihrem Aerger über die
Ereigniſſe der letzten Monate Luft gemacht. Paris lag ihnen näher als
Bordeaux. Trotzdem aber kann man nicht läugnen daß einige Comités
das ernſte Beſtreben gehabt haben die Candidatenfrage gründlich zu prüfen.
Wenigſtens im „Comité central“ und bei den liberalen Republicanern war
dieß der Fall. Aber die Unklarheit der Perſonenfrage zeigte ſich auch hier.
Sie trat ſofort in ihrer ganzen Schärfe auf als es ſich darum handelte die
Mitglieder der Regierung entweder auf die Liſte zu ſetzen oder auszu-
ſchließen. „Wer von den September Männern iſt republicaniſch genug?“
fragte man ſelbſt hier im Kreiſe der Gemäßigten. Man entſchied ſich zuletzt
nur für J. Favre. Bei vielen andern Candidaturen dieſelben Bedenken.
Man hielt es endlich für das beſte eine Liſte von Notabilitäten, hauptſäch-
lich der Pariſer Geſellſchaft, aufzuſtellen — Namen die ebenſowohl unter
Louis Philipp als unter dem Kaiſer geglänzt haben, und von denen man
nur überzeugt zu ſein glaubte daß ſie auch unter der Republik glänzen
würden. Wenigſtens war das ehrlich gehandelt.
Selbſt über Belleville lag der Druck der Unſicherheit. Was die Fri-
volität der Worte und das ſchroffe Spiel mit den religiöſen Dingen anbe-
trifft, mögen ſich die Anhänger von Flourens und Blanqui mit den
Männern der Commune von 1793 oder den „Vagabonds,“ wie Lamartine
die Vertreter des ſocialen Aufruhrs in den Februar-Tagen nannte, meſſen.
Ihre Entſchloſſenheit iſt, Gott ſei Dank, von ſchwächerer Ader. Es haben
noch einige Redner für Krieg bis aufs äußerſte geſprochen, aber die Be-
richte ſagen daß die Verſammlung dieſe Redner ſchweigend angehört habe.
Nehmen wir ja Notiz von dem erſchütternden Ereigniß daß Victor Hugo
und — Rochefort von den Bellevilliſten abgelehnt worden ſind. Zwar
Victor Hugo ſaß zwanzig Jahre lang auf einſamem Felſen — ein lebendi-
ger Proteſt gegen das Kaiſerthum. Aber — ſagt ein Redner — er iſt
keiner der Unſrigen; er iſt ein Ariſtokrat, denn — er gehört zum Bürger-
thum. Ueberdieß, die ſociale Partei bedarf junger thatkräftiger Talente;
ſie bedarf der Zukunfts- und nicht der Vergangenheitsmenſchen. Noch ver-
nichtender das Veto gegen Rochefort. Er war Mitglied der Regierung des
nationalen Verraths — „gouvernement de la trahison nationale,“ lautet
die Bezeichnung in Belleville. Wo war Rochefort als am 8 Oct. die fünf
Bataillone vor das Stadthaus zogen? Man bemerkte ihn nur einige
Augenblicke an einem Fenſter, verborgen hinter dem Vorhang. Später,
am 31 Oct. allerdings, wo er einſehen mochte daß über kurz oder lang die
letzte Stunde der Regierung ſchlagen müſſe, ſagte er ſich los — aber er
ſchwieg, und ließ den „Verrath“ ſich erfüllen. Rochefort iſt feig und un-
zuverläſſig — alſo auch er kein Republicaner. Was bleibt den Männern
von Belleville?
Vor Belfort ſchreibt man dem „Bund:“ „Die Belagerung von
Belfort iſt um einen Schritt vorwärts gerückt; am 8 Februar wurden die
Perches, eine Hügelreihe zwiſchen Belfort und Danjoutin, von den Deut-
ſchen beſetzt. Schon ſeit einigen Tagen waren die Laufgräben vollendet,
und man erwartete ſtündlich einen Sturm. Die Franzoſen waren durch
das Geſchützfeuer theilweiſe aus den Schanzen vertrieben worden, und ſo
koſtete das Wegnehmen wenig Opfer. Vor ungefähr zehn Tagen hatte
man verſucht die Perches in der Nacht zu überrumpeln, doch wurden, wie
bekannt, die Angreifenden zurückgeſchlagen mit Verluſt von 100 Todten
und Verwundeten, ſowie 300 bis 400 Gefangenen. Ohne die Perches iſt
Belfort noch ſehr ſtark, denn hinter dieſen, durch ein viertelſtundenbreites
Thal getrennt, liegt das Fort Juſtice und wieder hinter dieſem, ebenfalls
durch ein Thal getrennt, das Fort Myotte. Dieſe feuern nun unabläſſig
um das Errichten deutſcher Batterien zu verhindern, und es können Wochen
verſtreichen ehe es gelingt dieſe Forts mit Waffengewalt zu nehmen.“
* Aus Fontenelle (vor Belfort) 9 Febr., erhalten wir von einem
bayer. Kanonier einen Feldpoſtbrief, dem wir folgendes entnehmen: „Nach-
dem in allen Blättern von Waffenſtillſtand und Frieden die Rede iſt, wird
von den wichtigſten Punkten der Feſtung Belfort eigentlich ſo wenig ge-
ſagt. Es gelang den deutſchen Truppen das Dorf Pérouſe und den daran
ſtoßenden Wald nebſt Schanze zu nehmen. Vier bayeriſche Batterien er-
hielten den Befehl nächſt dem Dorfe vier gez. 24-Pfünder Batterien zu
bauen. Der Befehl wurde mit ganz geringen Verluſten ausgeführt; es
handelte ſich, nachdem die Batterien gebaut waren, um das Armiren der-
ſelben. Hiebei zeichnete ſich die zweite Batterie des dritten kgl. bayer.
Artillerie-Regiments beſonders aus. Die ſchweren Geſchütze konnten wegen
des großen Geräuſches nicht durch Pferdekraft den ſteilen Berg hinauf in
die Batterien gebracht werden, da man doch nur die kurze Diſtanz von
1400 Schritten von der Feſtung entfernt war, wo man bei Nachtzeit das
geringſte Geräuſch hört. Der Hauptmann, auf die Feſtigkeit ſeiner Kano-
niere bauend, befahl die Geſchütze durch die Leute in die Batterien ver-
bringen zu laſſen; es ſpannten ſich 50 Mann an ein mit Protze ſammt
Laffette nahezu 80 Centner ſchweres Geſchütz, und in fünf Viertelſtunden
ſchauten vier der fürchterlichen Feuerſchlünde gegen Fort Juſtice et La Miot,
und das ſchwerſte Stück Arbeit welches die Belagerung der Feſtungen uns
bisher auferlegt hatte war geſchehen. Wenn man bedenkt daß jeder Ein-
zelne ohne Laſt buchſtäblich bis über die Kniee in den Koth ſank, kann man
ſich eine Vorſtellung machen was die Leute zu leiſten hatten; aber von
dem Geiſte beſeelt Mitgründer des deutſchen Reiches zu ſein, ließ keiner
den Muth ſinken. Und wenn auch jetzt wenig von den Leiſtungen der
bayeriſchen Truppen vor dem ſo wichtigen ſtrategiſchen Punkte verlautet,
wir tröſten uns mit dem Bewußtſein unſere volle Pflicht erfüllt zu haben.“
Deutſches Reich.
* Augsburg, 13 Febr. Die „A. Poſtz.“ veröffentlicht an der
Spitze ihrer heutigen Nummer folgendes Wahlprogramm der patriotiſchen
Partei in Schwaben:
„Die Einheit Deutſchlands von der Nordſee bis zu
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(2022-04-08T12:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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