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Allgemeine Zeitung, Nr. 77, 20. März 1900.

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Nr. 77. Morgenblatt. 103. Jahrgang.
München, Dienstag, 20. März 1900.


Allgemeine Zeitung.
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kaufsanzeig. 20 Pf.;
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dition befinden sich
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Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenstraße 26) und S. Kornik (Kochstraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.
Verantwortlich für den politischen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menst, für den Handelstheil Ernst Barth, sämmtlich in München.
Druck und Verlag der Gesellschaft mit beschränkter Haftung "Verlag der Allgemeinen Zeitung" in München.


[Spaltenumbruch]
Neue parlamentarische Sitten -- aber nicht
bessere.

Die Obstruktion, d. h. die excessive, mißbräuchliche An-
wendung der zum Schutze der Minderheit festgesetzten Ge-
schäftsordnungsbestimmungen, gehört von nun an auch im
Deutschen Reichstage zu den durch die Praxis sanktionirten,
also nicht mehr schlechthin verpönten Kampfmitteln. Bour-
geois- und Sozialdemokratie haben am Samstag -- infolge
eines Zufalls gerade am zehnten Jahrestage des letzten
vom Fürsten Bismarck geleiteten Ministerrathes -- bei
der Verhandlung über die noch restirenden Paragraphen
der lex Heinze Obstruktion geübt, und zwar sofort mit
zweifellosem Erfolg. Die klerikal-konservative Majorität
hat, trotz ihrer sehr erheblichen numerischen Ueberlegen-
heit, weniger Widerstandsfähigkeit bekundet, als wir vor-
aussehen zu müssen glaubten, denn der Präsident Graf
Ballestrem hat -- offenbar im Einvernehmen mit den
Vertrauensmännern der Mehrheitsparteien -- die heiß
umstrittene lex Heinze einstweilen von der Tagesordnung
abgesetzt, allerdings mit der Motivirung, daß es nur ge-
schehe, um die rechtzeitige Erledigung des Etats, der bis
zum 1. April Gesetzeskraft erlangen muß, nicht in Frage
zu stellen. Aber gleichviel, welche Motive für diesen Ent-
schluß maßgebend gewesen sind, und gleichviel, ob der einst-
weiligen Zurückstellung des Entwurfs die definitive Preis-
gebung nachfolgt -- für den Augenblick darf die demo-
kratische Opposition sich eines Sieges rühmen und ihre
Preßorgane sowie die ihr nahe stehenden linksliberalen
Blätter lassen es an Jubelhymnen auch nicht fehlen.

Was uns betrifft, so haben wir seinerzeit den Gesetz-
entwurf mit dem ominösen Namen in derjenigen Fassung,
welche der Reichstag ihm auf Betreiben der vom Cen-
trum beeinflußten Kommission gelegentlich der zweiten
Lesung gegeben hatte, als vollkommen verfehlt bezeichnet
und die Erklärung der Regierung, daß auch sie ihn in
dieser Form für unannehmbar halte, mit aufrichtiger
Genugthuung begrüßt. Gleichzeitig haben wir freilich
sein Hehl daraus gemacht daß die in Berlin, in München
und an anderen Orten beschlossenen Proteste gegen die
Vorlage wenn nicht in der Sache, so doch in der Form,
namentlich aber in der Art ihrer Begründung, unsres
Erachtens über das Ziel vielfach hinausschössen und in-
folgedessen die grundsätzlichen Vertheidiger der lex eher
reizen und verstimmen als überzeugen und gewinnen
könnten. Durch die inzwischen von Vertretern der Mehr-
heitsparteien in gemeinsamen Berathungen vereinbarten
und im bisherigen Verlauf der dritten Lesung auch vom
Plenum durchweg gutgeheißenen Kompromißvorschläge, die
den verbündeten Regierungen das Placet ermöglichen
sollten, ist die Vorlage zwar nicht unwesentlich modifizirt
worden -- man hat ihr damit, wie wir letzthin be-
merkten, die schlimmsten Giftzähne ausgebrochen --, allein
wir würden ihr, sollte sie im letzten Berathungsstadium
wirklich noch scheitern, selbst jetzt keine Thräne nach-
weinen. Als ein besonders erfreuliches Produkt deut-
[Spaltenumbruch] scher legislatorischer Arbeit, als ein den alten Savigny
desavouirender Beweis für den Beruf unsrer Zeit zur
Gesetzgebung würde sie keinesfalls zu gelten haben. Für
eine Aktion, die lediglich gegen das Zuhälterthum und
die aus ihm sich ergebenden oder mit ihm zusammen-
hängenden Mißstände sich richtete, würden, so meinen wir,
alle Parteien des Reichstags auch fernerhin stets zu
haben sein; zu einer Verkoppelung der dahinzielenden
Gesetzesbestimmungen mit neuen, verschärften strafgesetz-
lichen Vorschriften gegen einen Mißbrauch oder gegen
etwaige Abirrungen der Kunst, lag aber und liegt, wie
wir schon betonten, ein irgendwie zwingender Anlaß
nicht vor. Sollte es wirklich wahr sein, daß in München,
der Kunststadt par excellence, die Polizei eine Nach-
bildung der Venus von Milo aus der Auslage einer
Kunsthandlung als "anstößig" zu entfernen vermochte, ohne
daß von höherer Stelle alsbald Remedur geschaffen wurde,
so wäre damit doch der unanfechtbare Nachweis geliefert,
daß polizeilichen Eingriffen in Sachen der Kunst und
der Aesthetik schon in statu quo, also ohne daß wir eine
lex Heinze haben, eher zu viel als zu wenig Spielraum
gewährt ist. Eine Erweiterung der Polizeibesugnisse nach
dieser Seite hin könnte daher nur unheilvoll wirken.

So wenig wir uns mithin durch den Gedanken be-
schwert fühlen, daß die vielgescholtene Vorlage, die von
ihren Freunden und Vertheidigern bereits bis hart an
den Eingang des rettenden Ports gelootst worden war,
im letzten Augenblick doch noch Havarie erleiden und auf
den Strand gesetzt werden könnte, so lebhaft bedauern wir
die zur Herbeiführung dieses Resultats von der intran-
sigenten Opposition in Anwendung gebrachten Mittel
Die Obstruktion ist eine überaus gefährliche, zweischneidige
Waffe, das haben selbst diejenigen erfahren, die, wie die
Deutschen im österreichischen Parlament, mit sehr viel
besserem Recht, d. h. unter weit zwingenderen Umständen
als es am Samstag bei uns im Reichstag geschehen ist,
ihrer sich bedienten. Unsre Stammesgenossen in Oester-
reich konnten wenigstens mit gutem Gewissen versichern,
daß sie wirklich nur in extremis, nachdem alle anderen
Kampfmittel völlig versagt hatten, zur Vertheidigung
ihres höchsten Gutes, ihrer nationalen Eigenart und
Selbständigkeit gegenüber den slavischen Herrschafts-
gelüsten, Obstruktion übten und damit eine geordnete
gesetzgeberische Thätigkeit in ihrem Vaterland unmöglich
machten. Das Recht aber über rücksichtslose Vergewalti-
gung und über den Mißbrauch des Rechts des Schwächeren
ihrerseits Klage zu führen, hatten sie damit ein für alle-
mal verwirkt; als hinterher aus minderem Anlaß auch
die Tschechen in obstruktionistische Bahnen einlenkten und
ihnen Gleiches mit Gleichem vergalten, mußten sie das
wüste Treiben resiguirt über sich ergehen lassen. Auf
jeden Protest würde man ihnen hohnlachend er-
widert haben: A corsaire corsaire et demi! Auch
den Vertretern der rothen und der blauen Demo-
kratie im Reichstage wird diese Erfahrung nicht
erspart bleiben. Sie haben -- ohne daß für sie jener
[Spaltenumbruch] unwiderstehliche Zwang vorlag, unter dessen Druck die
Deutsch-Oesterreicher einst handelten -- dem Obstruktions-
verfahren, vor dessen Anwendung man bei uns bisher
selbst inmitten der schärfsten parlamentarischen Kämpfe
zurückgeschreckt war, auch im Reichstage Bahn gebrochen
und es ist leider mit voller Sicherheit vorauszusehen,
daß dem ersten Schritte auf der abschüssigen Bahn allzu-
bald nun weitere folgen werden. Hr. Singer, der mit
seinen Genossen und Affiliirten ja doch nicht immer auf
der Seite derer stehen dürfte, denen mit der Hemmung
unsres gesetzgeberischen Apparats jeweilig gedient ist, wird
es selbst vielleicht noch manchmal zu bedanern haben,
daß er zur Verwilderung unsrer parlamentarischen Kämpfe
leichten Herzens das Signal gegeben hat; jedenfalls wird
der Shylock der Sozialdemokratie noch den Graziano
finden, der ihm spöttisch zuruft: "Dank, Jude, daß du
mich dies Wort gelehrt!"

Nichts weniger als dankbar aber werden alle die-
jenigen ihm sein, die eine ruhige und stetige Entwicklung
unsrer inneren Verhältnisse erstreben, denen ein ziel-
bewußtes und vertrauensvolles Zusammenwirken von
Volksvertretung und Regierung am Herzen liegt, und die
es aufrichtig beklagen würden, wenn das Niveau unsrer
Reichstagsverhandlungen, statt sich zu heben, tiefer noch
sinken sollte, als es leider ohnehin schon gesunken ist.
Sollte der "starke Mann", nach dem man jetzt allerwärts
so fleißig Umschau hält, wirklich gefunden und mit der
Leitung der Reichsgeschäfte betraut werden, so möchten
wir ihm den unmaßgeblichen Rath ertheilen, vor allem
einmal mit den Herren Reichsboten ein recht ernstes und ein-
dringliches Wort zu reden. Denn wer den Geist, der in
der parlamentarischen Vertretung des Reiches heute sich
kundgibt, mit demjenigen vergleicht, der die ersten Reichs-
tage nach den glorreichen Ereignissen von 1870 und 1871
durchwehte und in ihnen webte und wirkte, kann wahr-
lich nur den einen Wunsch hegen: Gott besser's!



Deutscher Reichstag.
171. Sitzung.

Tel. Die Diskussion kehrte
heute wieder in das gewohnte stillere Fahrwasser zurück,
aus dem sie durch die Stürme der lex Heinze in den letzten
Tagen verschlagen worden war; dazu wieder die leeren
Bänke -- alles wie einst! Erledigt wurde der Etat des
Reichseisenbahnamts. Abg. Pachnicke (Frs. Vgg.)
brachte die Tarifreform zur Sprache, deren Ausbleiben er der
im preußischen Eisenbahnministerium herrschenden fiskali-
schen Auffassung zuschrieb, während Bräsicke (Frs. Volksp.)
den Einfluß eines "Mächtigeren", des Finanzministers
v. Miquel, witterte. Der Präsident des Reichseisenbahn-
amts, Schulz, konnte nur, wie immer bei solchen Ge-
legenheiten, auf die engen Grenzen seiner Kompetenz und
den gänzlichen Mangel an Handhaben, in diesen wie in
anderen Fragen der Eisenbahnverwaltung einen Zwangauf die Einzelstaaten auszuüben, hinweisen. Doch trat



[Spaltenumbruch]
Feuilleton.


# Kgl. Hoftheater.

Das war einmal eine treff-
liche und interessante Aufführung von "Tristan und Isolde",
die vom Sonntag. Leider kann man nicht sagen, daß sie
durchaus mit eigenen Kräften bestritten worden ist. Unser
einheimischer Tristan, der erste nach Schnorrs Tode und
lange Zeit der einzige, Heinrich Vogl, ist zur Zeit beurlaubt,
und so mußte, um die schon lange projektirte und aus nicht
ganz klaren Gründen als unumgänglich nothwendig betrachtete
Aufführung des "Tristan" zu ermöglichen, ein fremder Tristan-
Darsteller berufen werden: Hr. Emil Gerhäuser von
Karlsruhe, der nun endlich gestern zum Auftreten in dieser
Rolle kam. Fremd ist uns übrigens Hr. Gerhäuser weder an
sich noch als Tristan. Neu und interessant sind aber die Fort-
schritte, die er seither gemacht. Einen jüngeren, schon in der
Erscheinung imponirenden Tristan zu sehen, ist allein schon
ein Vergnügen. So ganz in Einklang mit der reckenhaften
Figur des einst so schmächtigen Sängers stehen Größe und
Glanz der Stimme nun allerdings nicht: man erwartet un-
willkürlich nach beiden Richtungen von einem solchen Tristan
mehr. Gleichwohl ist Gerhäuser nach Vogl der beste Tristan,
den wir hier erlebt. Insbesondere der erste und der dritte
Akt boten Hocherfreuliches an eindringlicher Deklamation und
Größe des Stils. Tristans Tod war auch in der Darstellung
gewaltig. Das Lyrische des zweiten Aktes kam weniger gut
zum Ausdruck. Die Stimme des Gastes belegte sich da ein
paarmal beim Ansingen eines Piano, auch ließen die Deutlichkeit
der Deklamation und die Süße des Tons hier zu wünschen übrig.
Vogl wird heute noch dieser Aufgabe wenigstens in ersterer
Beziehung gerechter. Dafür fehlte Gerhäuser zum Glück das
Lehrhafte, in das der Tristan Vogls selbst in der großen
Liebesscene gern verfällt. Eine ganz unerwartet angenehme
Ueberraschung bot, mir wenigstens, die Isolde der Frau
Fränkel-Claus. Ich hatte sie nicht mehr gehört, seitdem
sie (auch mit Gerhäuser) diese Rolle als Gast hier gesungen.
Damals ein wild wüthendes Weib mit braunen Haaren, die
mit dem Gesichtchen einer Soubrette und mit dem Herzen
einer Tigerin auf der Scene herumtobte, ist sie heute eine
blonde Isolde, der wirklich nur das ja nicht abzulegende
Stumpfnäschen im Wege steht, die richtige irische Königsmaid
zu sein. Das Spiel ist zwar von Leidenschaft erfüllt, aber
[Spaltenumbruch] es ist doch gehaltener, weiblicher geworden. Das Beste aber
an dieser Isolde ist ihr Singen. Seit den besten Tagen
Therese Vogls haben wir die Isolde nicht mehr so singen
hören, wie gestern durch Frau Fränkel-Claus. Das macht
die junge, noch biegsame Stimme, ein echter. Sopran, der
auch die Höhe ohne Kreischen mühelos bewältigt. Die
Sängerin hatte ganz prachtvolle Momente, die auch von einer
selbständigen Intelligenz zeugten, nur hier und da noch stört
ein minder edler Klang, wie noch mehr einige unseine Be-
wegungen. Frau Fränkel-Clans kann sich zu den Fortschritten
gratuliren, die sie gerade in dieser gewaltigen Partie gemacht, und
wir mit ihr. Es kommt nicht oft vor, daß eine Sängerin, die
schon von dieser Rolle Besitz genommen, sich so von Grund
aus zu ändern und zu bessern vermag. Die Brangäne des
Frl. Frank schien leider nicht ganz so günstig disponirt zu
sein wie sonst. Prachtvoll war der Marke Klöpfers,
eigentlich noch besser als seinerzeit Kindermann, der die Rolle
meines Erinnerns erst in späteren Jahren gesungen hat. Die
Herren Bauberger (Kurwenal) und Mayerhofer (Hirt)
singen schöner als ihre Vorgänger Fuchs und Schlosser, sie
sind aber Beide noch nicht imstande, eine so überzeugende Ge-
müthswärme hineinzulegen wie Jene. Die ganze Auf-
führung hatte unter der Leitung Fischers einen großen Zug,
der vom vollen Hause dankbar anerkannt wurde. Fischer,
sowie der Gast und Fran Fränkel-Claus mußten zum Schluß
oftmals erscheinen.

W. Theater am Gärtnerplatz.

Frau Eleonora
Duse
begann Samstag Abend ihr Gastspiel mit dem frag-
würdigsten der Stücke, die sie uns diesmal mitbringt: mit
der "comedie larmoyante" "Die zweite Frau" von dem
englischen Macher A. W. Pinero. Das Stück beweist es
besonders deutlich, daß das moderne englische Drama 50 Jahre
hinter dem europäischen nachhinkt. Diese "Second Mrs. Tan-
queray"
stammt direkt aus den Lorettensalons des zweiten
Kaiserreichs: der jüngere Dumas ist ihr Vater und die
Camiliendame ihre französische Halbschwester. Ein angejahrter
englischer Gentleman heirathet ein leichtes Dämchen --
nuance anglaise --, das sich als ehrliche Frau langweilt und
unglücklich wird, weil ihre madonnenhafte Stieftochter, die
in ihr die Abenteurerin wittert, sie nicht lieben kann. Als
der Oberflächlichen nun vollends in dem Bräutigam dieser
Stieftochter ein ehemaliger Liebhaber entgegentritt, da geht
sie, nach einer interessanten Beichte, in den Tod. Das Stück
[Spaltenumbruch] ist schlecht, aber bedeutsam als Dokument einer Volkspsychologie;
es zeigt, wie der Hang zum Moralisiren durch das Medium eines
Kunstwerkes dem Vollblutangelsachsen, der im Theater sitzt, Be-
dürfniß ist; es soll ganz einfach abschrecken von solchen Ehen,
es ist voll der Moralität der Fabel. Die Heldin selbst zer-
gliedert sozusagen ihren Fall und verräth dabei auch, daß sie
Nietzsche gelesen hat: "Die größte Distanz der Welt tragen
wir in uns -- die Entfernung zwischen Mann und Weib."
Solche Aussprüche, die sich im Mund der ganz unmöglichen
Gestalt seltsam genug ausnehmen, sind das eigentlich Moderne
an dem fragwürdigen Stück, von seiner Kompromißtechnik
natürlich abgesehen. Und damit komme ich zu der unancen-
reichen Kunst der Duse, der es fast gelang, die Gestalt der
Paula glaubwürdig zu machen. Warum die große Künstlerin
gerade dieses Stück ihrem Repertoire einverleibt haben mag?
Wegen der Verwandtschaft mit dem französischen Konver-
sationsstück, dem sie so viele Erfolge verdankt? Das franzö-
sische Unsittenstück gestattet aber ein breiteres Ausleben. Die
Technik des Engländers ist konciser und zwingt die Künstlerin,
die Aeußerungen des Lebens bis ins Kleinste hinein zu
unanciren. Die Gefahr der Manier liegt nahe: Agnes Sorma,
die auch diesem Hang fröhnt, ist ihr nicht entgangen. Die
Duse weiß sie immer zu vermeiden: die Grazie südländischen
Lebens ist in ihr so mächtig, daß sie alles wagen kann. Wer
lernen will, welche Fülle des Ausdrucks eine große Künstlerin
in ein einziges Wort legen kann, mag sehen, wie sie
unter der bedeutsamsten Geste das Wort moralita
im zweiten Akt gleichsam auseinander rupft, um seine Fetzen
der Welt der "respectability" vor die Füße zu werfen. Und
ihre Ausgestaltung der Titelrolle ist überreich an solchen hin-
reißenden Einzelheiten. Daß die außerordentliche Kunst der
Duse -- alles in allem eine etwas morbide Kunst -- sich
mit Vorliebe an wunden Seelen oder mißhandelten Geschöpfen
versucht, ist bekannt. Fast noch größer als in den berührten
leidenschaftlichen Auseinandersetzungen ist sie in jenen Momenten,
wo derartige Naturen in sich versinken und höchstens durch
einen Blick oder eine Geste andeuten, was in ihnen vorgeht.
Der Reichthum der Mittel, über die die große Künstlerin
verfügt, setzt immer wieder in Erstaunen, und gestern bot ihr
das fragwürdige Stück nicht einmal Gelegenheit, alle Register
zu ziehen, dank der Kompromißtechnik des Machers, der von
einzelnen englischen Kritikern der englische Ibsen genannt
wird. -- Die Truppe der Duse steht auf einer sehr respektablen


Nr. 77. Morgenblatt. 103. Jahrgang.
München, Dienſtag, 20. März 1900.


Allgemeine Zeitung.
Wöchentlich
12 Ausgaben.
Bezugspreiſe:
Durch die Poſtämter:
jährlich M. 36. —,
ohne Beil. M. 18. —
(viertelj. M. 9. —,
ohne Beil. M. 4.50);
in München b. d Ex-
pedition od. d. Depots
monatlich M. 2. —,
ohne Beil. M. 1.20.
Zuſtellg, mil. 50 Pf.
Direkter Bezug für
Deutſchl. u. Oeſterreich
monatlich M. 4. —,
ohne Beil. M. 3. —,
Ausland M. 5.60,
ohne Beil. M. 4.40.
Inſertionspreis
für die kleinſpaltige
Colonelzeile od. deren
Raum 25 Pfennig;
finanzielle Anzeigen
35 Pf.; lokale Ver-
kaufsanzeig. 20 Pf.;
Stellengeſucht 15 Pf.


Redaktion und Expe-
dition befinden ſich
Schwanthalerſtr. 36
in München.


Berichte ſind an die
Redaktion, Inſerat-
aufträge an die Ex-
pedition franko ein-
zuſenden.


Abonnements für Berlin, nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen.
Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. Siegle, 30 Lime Str., London; für Frankreich,
Portugal und Spanien A. Ammel und C. Klinckſieck in Paris; für Belgien, Bulgarien, Dänemark, Italien,
Niederlande, Rumänien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Serbien die dortigen Poſtämter; für den Orient
das k. k. Poſtamt in Wien oder Trieſt; für Nordamerika F. W. Chriſtern, E. Steiger u. Co., Guſt.
E. Stechert, Weſtermann u. Co., International News Comp., 83 und 85 Duane Str. in New-York.
[Abbildung]
Inſeratenannahme in München bei der Expedition, Schwanthalerſtraße 36, in Berlin in unſerer Filiale,
Leipzigerſtraße 11, ferner in Berlin, Hamburg, Breslau, Köln, Leipzig, Frankfurt a. M., Stuttgart, Nürnberg,
Wien, Peſt, London, Zürich, Baſel ꝛc. bei den Annoncenbureaux R. Moſſe, Haaſenſtein u. Vogler, G. L.
Daube u. Co
. In den Filialen der Zeitungsbureaux Invalidendank zu Berlin, Dresden, Leipzig, Chemnitz ꝛc.
Außerdem in Berlin bei B. Arndt (Mohrenſtraße 26) und S. Kornik (Kochſtraße 23); für Frankreich bei John
F. Jones u. Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris.
Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſt, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München.
Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München.


[Spaltenumbruch]
Neue parlamentariſche Sitten — aber nicht
beſſere.

Die Obſtruktion, d. h. die exceſſive, mißbräuchliche An-
wendung der zum Schutze der Minderheit feſtgeſetzten Ge-
ſchäftsordnungsbeſtimmungen, gehört von nun an auch im
Deutſchen Reichstage zu den durch die Praxis ſanktionirten,
alſo nicht mehr ſchlechthin verpönten Kampfmitteln. Bour-
geois- und Sozialdemokratie haben am Samſtag — infolge
eines Zufalls gerade am zehnten Jahrestage des letzten
vom Fürſten Bismarck geleiteten Miniſterrathes — bei
der Verhandlung über die noch reſtirenden Paragraphen
der lex Heinze Obſtruktion geübt, und zwar ſofort mit
zweifelloſem Erfolg. Die klerikal-konſervative Majorität
hat, trotz ihrer ſehr erheblichen numeriſchen Ueberlegen-
heit, weniger Widerſtandsfähigkeit bekundet, als wir vor-
ausſehen zu müſſen glaubten, denn der Präſident Graf
Balleſtrem hat — offenbar im Einvernehmen mit den
Vertrauensmännern der Mehrheitsparteien — die heiß
umſtrittene lex Heinze einſtweilen von der Tagesordnung
abgeſetzt, allerdings mit der Motivirung, daß es nur ge-
ſchehe, um die rechtzeitige Erledigung des Etats, der bis
zum 1. April Geſetzeskraft erlangen muß, nicht in Frage
zu ſtellen. Aber gleichviel, welche Motive für dieſen Ent-
ſchluß maßgebend geweſen ſind, und gleichviel, ob der einſt-
weiligen Zurückſtellung des Entwurfs die definitive Preis-
gebung nachfolgt — für den Augenblick darf die demo-
kratiſche Oppoſition ſich eines Sieges rühmen und ihre
Preßorgane ſowie die ihr nahe ſtehenden linksliberalen
Blätter laſſen es an Jubelhymnen auch nicht fehlen.

Was uns betrifft, ſo haben wir ſeinerzeit den Geſetz-
entwurf mit dem ominöſen Namen in derjenigen Faſſung,
welche der Reichstag ihm auf Betreiben der vom Cen-
trum beeinflußten Kommiſſion gelegentlich der zweiten
Leſung gegeben hatte, als vollkommen verfehlt bezeichnet
und die Erklärung der Regierung, daß auch ſie ihn in
dieſer Form für unannehmbar halte, mit aufrichtiger
Genugthuung begrüßt. Gleichzeitig haben wir freilich
ſein Hehl daraus gemacht daß die in Berlin, in München
und an anderen Orten beſchloſſenen Proteſte gegen die
Vorlage wenn nicht in der Sache, ſo doch in der Form,
namentlich aber in der Art ihrer Begründung, unſres
Erachtens über das Ziel vielfach hinausſchöſſen und in-
folgedeſſen die grundſätzlichen Vertheidiger der lex eher
reizen und verſtimmen als überzeugen und gewinnen
könnten. Durch die inzwiſchen von Vertretern der Mehr-
heitsparteien in gemeinſamen Berathungen vereinbarten
und im bisherigen Verlauf der dritten Leſung auch vom
Plenum durchweg gutgeheißenen Kompromißvorſchläge, die
den verbündeten Regierungen das Placet ermöglichen
ſollten, iſt die Vorlage zwar nicht unweſentlich modifizirt
worden — man hat ihr damit, wie wir letzthin be-
merkten, die ſchlimmſten Giftzähne ausgebrochen —, allein
wir würden ihr, ſollte ſie im letzten Berathungsſtadium
wirklich noch ſcheitern, ſelbſt jetzt keine Thräne nach-
weinen. Als ein beſonders erfreuliches Produkt deut-
[Spaltenumbruch] ſcher legislatoriſcher Arbeit, als ein den alten Savigny
desavouirender Beweis für den Beruf unſrer Zeit zur
Geſetzgebung würde ſie keinesfalls zu gelten haben. Für
eine Aktion, die lediglich gegen das Zuhälterthum und
die aus ihm ſich ergebenden oder mit ihm zuſammen-
hängenden Mißſtände ſich richtete, würden, ſo meinen wir,
alle Parteien des Reichstags auch fernerhin ſtets zu
haben ſein; zu einer Verkoppelung der dahinzielenden
Geſetzesbeſtimmungen mit neuen, verſchärften ſtrafgeſetz-
lichen Vorſchriften gegen einen Mißbrauch oder gegen
etwaige Abirrungen der Kunſt, lag aber und liegt, wie
wir ſchon betonten, ein irgendwie zwingender Anlaß
nicht vor. Sollte es wirklich wahr ſein, daß in München,
der Kunſtſtadt par excellence, die Polizei eine Nach-
bildung der Venus von Milo aus der Auslage einer
Kunſthandlung als „anſtößig“ zu entfernen vermochte, ohne
daß von höherer Stelle alsbald Remedur geſchaffen wurde,
ſo wäre damit doch der unanfechtbare Nachweis geliefert,
daß polizeilichen Eingriffen in Sachen der Kunſt und
der Aeſthetik ſchon in statu quo, alſo ohne daß wir eine
lex Heinze haben, eher zu viel als zu wenig Spielraum
gewährt iſt. Eine Erweiterung der Polizeibeſugniſſe nach
dieſer Seite hin könnte daher nur unheilvoll wirken.

So wenig wir uns mithin durch den Gedanken be-
ſchwert fühlen, daß die vielgeſcholtene Vorlage, die von
ihren Freunden und Vertheidigern bereits bis hart an
den Eingang des rettenden Ports gelootst worden war,
im letzten Augenblick doch noch Havarie erleiden und auf
den Strand geſetzt werden könnte, ſo lebhaft bedauern wir
die zur Herbeiführung dieſes Reſultats von der intran-
ſigenten Oppoſition in Anwendung gebrachten Mittel
Die Obſtruktion iſt eine überaus gefährliche, zweiſchneidige
Waffe, das haben ſelbſt diejenigen erfahren, die, wie die
Deutſchen im öſterreichiſchen Parlament, mit ſehr viel
beſſerem Recht, d. h. unter weit zwingenderen Umſtänden
als es am Samſtag bei uns im Reichstag geſchehen iſt,
ihrer ſich bedienten. Unſre Stammesgenoſſen in Oeſter-
reich konnten wenigſtens mit gutem Gewiſſen verſichern,
daß ſie wirklich nur in extremis, nachdem alle anderen
Kampfmittel völlig verſagt hatten, zur Vertheidigung
ihres höchſten Gutes, ihrer nationalen Eigenart und
Selbſtändigkeit gegenüber den ſlaviſchen Herrſchafts-
gelüſten, Obſtruktion übten und damit eine geordnete
geſetzgeberiſche Thätigkeit in ihrem Vaterland unmöglich
machten. Das Recht aber über rückſichtsloſe Vergewalti-
gung und über den Mißbrauch des Rechts des Schwächeren
ihrerſeits Klage zu führen, hatten ſie damit ein für alle-
mal verwirkt; als hinterher aus minderem Anlaß auch
die Tſchechen in obſtruktioniſtiſche Bahnen einlenkten und
ihnen Gleiches mit Gleichem vergalten, mußten ſie das
wüſte Treiben reſiguirt über ſich ergehen laſſen. Auf
jeden Proteſt würde man ihnen hohnlachend er-
widert haben: A corsaire corsaire et demi! Auch
den Vertretern der rothen und der blauen Demo-
kratie im Reichstage wird dieſe Erfahrung nicht
erſpart bleiben. Sie haben — ohne daß für ſie jener
[Spaltenumbruch] unwiderſtehliche Zwang vorlag, unter deſſen Druck die
Deutſch-Oeſterreicher einſt handelten — dem Obſtruktions-
verfahren, vor deſſen Anwendung man bei uns bisher
ſelbſt inmitten der ſchärfſten parlamentariſchen Kämpfe
zurückgeſchreckt war, auch im Reichstage Bahn gebrochen
und es iſt leider mit voller Sicherheit vorauszuſehen,
daß dem erſten Schritte auf der abſchüſſigen Bahn allzu-
bald nun weitere folgen werden. Hr. Singer, der mit
ſeinen Genoſſen und Affiliirten ja doch nicht immer auf
der Seite derer ſtehen dürfte, denen mit der Hemmung
unſres geſetzgeberiſchen Apparats jeweilig gedient iſt, wird
es ſelbſt vielleicht noch manchmal zu bedanern haben,
daß er zur Verwilderung unſrer parlamentariſchen Kämpfe
leichten Herzens das Signal gegeben hat; jedenfalls wird
der Shylock der Sozialdemokratie noch den Graziano
finden, der ihm ſpöttiſch zuruft: „Dank, Jude, daß du
mich dies Wort gelehrt!“

Nichts weniger als dankbar aber werden alle die-
jenigen ihm ſein, die eine ruhige und ſtetige Entwicklung
unſrer inneren Verhältniſſe erſtreben, denen ein ziel-
bewußtes und vertrauensvolles Zuſammenwirken von
Volksvertretung und Regierung am Herzen liegt, und die
es aufrichtig beklagen würden, wenn das Niveau unſrer
Reichstagsverhandlungen, ſtatt ſich zu heben, tiefer noch
ſinken ſollte, als es leider ohnehin ſchon geſunken iſt.
Sollte der „ſtarke Mann“, nach dem man jetzt allerwärts
ſo fleißig Umſchau hält, wirklich gefunden und mit der
Leitung der Reichsgeſchäfte betraut werden, ſo möchten
wir ihm den unmaßgeblichen Rath ertheilen, vor allem
einmal mit den Herren Reichsboten ein recht ernſtes und ein-
dringliches Wort zu reden. Denn wer den Geiſt, der in
der parlamentariſchen Vertretung des Reiches heute ſich
kundgibt, mit demjenigen vergleicht, der die erſten Reichs-
tage nach den glorreichen Ereigniſſen von 1870 und 1871
durchwehte und in ihnen webte und wirkte, kann wahr-
lich nur den einen Wunſch hegen: Gott beſſer’s!



Deutſcher Reichstag.
171. Sitzung.

Tel. Die Diskuſſion kehrte
heute wieder in das gewohnte ſtillere Fahrwaſſer zurück,
aus dem ſie durch die Stürme der lex Heinze in den letzten
Tagen verſchlagen worden war; dazu wieder die leeren
Bänke — alles wie einſt! Erledigt wurde der Etat des
Reichseiſenbahnamts. Abg. Pachnicke (Frſ. Vgg.)
brachte die Tarifreform zur Sprache, deren Ausbleiben er der
im preußiſchen Eiſenbahnminiſterium herrſchenden fiskali-
ſchen Auffaſſung zuſchrieb, während Bräſicke (Frſ. Volksp.)
den Einfluß eines „Mächtigeren“, des Finanzminiſters
v. Miquel, witterte. Der Präſident des Reichseiſenbahn-
amts, Schulz, konnte nur, wie immer bei ſolchen Ge-
legenheiten, auf die engen Grenzen ſeiner Kompetenz und
den gänzlichen Mangel an Handhaben, in dieſen wie in
anderen Fragen der Eiſenbahnverwaltung einen Zwangauf die Einzelſtaaten auszuüben, hinweiſen. Doch trat



[Spaltenumbruch]
Feuilleton.


# Kgl. Hoftheater.

Das war einmal eine treff-
liche und intereſſante Aufführung von „Triſtan und Iſolde“,
die vom Sonntag. Leider kann man nicht ſagen, daß ſie
durchaus mit eigenen Kräften beſtritten worden iſt. Unſer
einheimiſcher Triſtan, der erſte nach Schnorrs Tode und
lange Zeit der einzige, Heinrich Vogl, iſt zur Zeit beurlaubt,
und ſo mußte, um die ſchon lange projektirte und aus nicht
ganz klaren Gründen als unumgänglich nothwendig betrachtete
Aufführung des „Triſtan“ zu ermöglichen, ein fremder Triſtan-
Darſteller berufen werden: Hr. Emil Gerhäuſer von
Karlsruhe, der nun endlich geſtern zum Auftreten in dieſer
Rolle kam. Fremd iſt uns übrigens Hr. Gerhäuſer weder an
ſich noch als Triſtan. Neu und intereſſant ſind aber die Fort-
ſchritte, die er ſeither gemacht. Einen jüngeren, ſchon in der
Erſcheinung imponirenden Triſtan zu ſehen, iſt allein ſchon
ein Vergnügen. So ganz in Einklang mit der reckenhaften
Figur des einſt ſo ſchmächtigen Sängers ſtehen Größe und
Glanz der Stimme nun allerdings nicht: man erwartet un-
willkürlich nach beiden Richtungen von einem ſolchen Triſtan
mehr. Gleichwohl iſt Gerhäuſer nach Vogl der beſte Triſtan,
den wir hier erlebt. Insbeſondere der erſte und der dritte
Akt boten Hocherfreuliches an eindringlicher Deklamation und
Größe des Stils. Triſtans Tod war auch in der Darſtellung
gewaltig. Das Lyriſche des zweiten Aktes kam weniger gut
zum Ausdruck. Die Stimme des Gaſtes belegte ſich da ein
paarmal beim Anſingen eines Piano, auch ließen die Deutlichkeit
der Deklamation und die Süße des Tons hier zu wünſchen übrig.
Vogl wird heute noch dieſer Aufgabe wenigſtens in erſterer
Beziehung gerechter. Dafür fehlte Gerhäuſer zum Glück das
Lehrhafte, in das der Triſtan Vogls ſelbſt in der großen
Liebesſcene gern verfällt. Eine ganz unerwartet angenehme
Ueberraſchung bot, mir wenigſtens, die Iſolde der Frau
Fränkel-Claus. Ich hatte ſie nicht mehr gehört, ſeitdem
ſie (auch mit Gerhäuſer) dieſe Rolle als Gaſt hier geſungen.
Damals ein wild wüthendes Weib mit braunen Haaren, die
mit dem Geſichtchen einer Soubrette und mit dem Herzen
einer Tigerin auf der Scene herumtobte, iſt ſie heute eine
blonde Iſolde, der wirklich nur das ja nicht abzulegende
Stumpfnäschen im Wege ſteht, die richtige iriſche Königsmaid
zu ſein. Das Spiel iſt zwar von Leidenſchaft erfüllt, aber
[Spaltenumbruch] es iſt doch gehaltener, weiblicher geworden. Das Beſte aber
an dieſer Iſolde iſt ihr Singen. Seit den beſten Tagen
Thereſe Vogls haben wir die Iſolde nicht mehr ſo ſingen
hören, wie geſtern durch Frau Fränkel-Claus. Das macht
die junge, noch biegſame Stimme, ein echter. Sopran, der
auch die Höhe ohne Kreiſchen mühelos bewältigt. Die
Sängerin hatte ganz prachtvolle Momente, die auch von einer
ſelbſtändigen Intelligenz zeugten, nur hier und da noch ſtört
ein minder edler Klang, wie noch mehr einige unſeine Be-
wegungen. Frau Fränkel-Clans kann ſich zu den Fortſchritten
gratuliren, die ſie gerade in dieſer gewaltigen Partie gemacht, und
wir mit ihr. Es kommt nicht oft vor, daß eine Sängerin, die
ſchon von dieſer Rolle Beſitz genommen, ſich ſo von Grund
aus zu ändern und zu beſſern vermag. Die Brangäne des
Frl. Frank ſchien leider nicht ganz ſo günſtig disponirt zu
ſein wie ſonſt. Prachtvoll war der Marke Klöpfers,
eigentlich noch beſſer als ſeinerzeit Kindermann, der die Rolle
meines Erinnerns erſt in ſpäteren Jahren geſungen hat. Die
Herren Bauberger (Kurwenal) und Mayerhofer (Hirt)
ſingen ſchöner als ihre Vorgänger Fuchs und Schloſſer, ſie
ſind aber Beide noch nicht imſtande, eine ſo überzeugende Ge-
müthswärme hineinzulegen wie Jene. Die ganze Auf-
führung hatte unter der Leitung Fiſchers einen großen Zug,
der vom vollen Hauſe dankbar anerkannt wurde. Fiſcher,
ſowie der Gaſt und Fran Fränkel-Claus mußten zum Schluß
oftmals erſcheinen.

W. Theater am Gärtnerplatz.

Frau Eleonora
Duſe
begann Samſtag Abend ihr Gaſtſpiel mit dem frag-
würdigſten der Stücke, die ſie uns diesmal mitbringt: mit
der „comédie larmoyante“Die zweite Frau“ von dem
engliſchen Macher A. W. Pinero. Das Stück beweist es
beſonders deutlich, daß das moderne engliſche Drama 50 Jahre
hinter dem europäiſchen nachhinkt. Dieſe „Second Mrs. Tan-
queray“
ſtammt direkt aus den Lorettenſalons des zweiten
Kaiſerreichs: der jüngere Dumas iſt ihr Vater und die
Camiliendame ihre franzöſiſche Halbſchweſter. Ein angejahrter
engliſcher Gentleman heirathet ein leichtes Dämchen —
nuance anglaise —, das ſich als ehrliche Frau langweilt und
unglücklich wird, weil ihre madonnenhafte Stieftochter, die
in ihr die Abenteurerin wittert, ſie nicht lieben kann. Als
der Oberflächlichen nun vollends in dem Bräutigam dieſer
Stieftochter ein ehemaliger Liebhaber entgegentritt, da geht
ſie, nach einer intereſſanten Beichte, in den Tod. Das Stück
[Spaltenumbruch] iſt ſchlecht, aber bedeutſam als Dokument einer Volkspſychologie;
es zeigt, wie der Hang zum Moraliſiren durch das Medium eines
Kunſtwerkes dem Vollblutangelſachſen, der im Theater ſitzt, Be-
dürfniß iſt; es ſoll ganz einfach abſchrecken von ſolchen Ehen,
es iſt voll der Moralität der Fabel. Die Heldin ſelbſt zer-
gliedert ſozuſagen ihren Fall und verräth dabei auch, daß ſie
Nietzſche geleſen hat: „Die größte Diſtanz der Welt tragen
wir in uns — die Entfernung zwiſchen Mann und Weib.“
Solche Ausſprüche, die ſich im Mund der ganz unmöglichen
Geſtalt ſeltſam genug ausnehmen, ſind das eigentlich Moderne
an dem fragwürdigen Stück, von ſeiner Kompromißtechnik
natürlich abgeſehen. Und damit komme ich zu der unancen-
reichen Kunſt der Duſe, der es faſt gelang, die Geſtalt der
Paula glaubwürdig zu machen. Warum die große Künſtlerin
gerade dieſes Stück ihrem Repertoire einverleibt haben mag?
Wegen der Verwandtſchaft mit dem franzöſiſchen Konver-
ſationsſtück, dem ſie ſo viele Erfolge verdankt? Das franzö-
ſiſche Unſittenſtück geſtattet aber ein breiteres Ausleben. Die
Technik des Engländers iſt konciſer und zwingt die Künſtlerin,
die Aeußerungen des Lebens bis ins Kleinſte hinein zu
unanciren. Die Gefahr der Manier liegt nahe: Agnes Sorma,
die auch dieſem Hang fröhnt, iſt ihr nicht entgangen. Die
Duſe weiß ſie immer zu vermeiden: die Grazie ſüdländiſchen
Lebens iſt in ihr ſo mächtig, daß ſie alles wagen kann. Wer
lernen will, welche Fülle des Ausdrucks eine große Künſtlerin
in ein einziges Wort legen kann, mag ſehen, wie ſie
unter der bedeutſamſten Geſte das Wort moralità
im zweiten Akt gleichſam auseinander rupft, um ſeine Fetzen
der Welt der „respectability“ vor die Füße zu werfen. Und
ihre Ausgeſtaltung der Titelrolle iſt überreich an ſolchen hin-
reißenden Einzelheiten. Daß die außerordentliche Kunſt der
Duſe — alles in allem eine etwas morbide Kunſt — ſich
mit Vorliebe an wunden Seelen oder mißhandelten Geſchöpfen
verſucht, iſt bekannt. Faſt noch größer als in den berührten
leidenſchaftlichen Auseinanderſetzungen iſt ſie in jenen Momenten,
wo derartige Naturen in ſich verſinken und höchſtens durch
einen Blick oder eine Geſte andeuten, was in ihnen vorgeht.
Der Reichthum der Mittel, über die die große Künſtlerin
verfügt, ſetzt immer wieder in Erſtaunen, und geſtern bot ihr
das fragwürdige Stück nicht einmal Gelegenheit, alle Regiſter
zu ziehen, dank der Kompromißtechnik des Machers, der von
einzelnen engliſchen Kritikern der engliſche Ibſen genannt
wird. — Die Truppe der Duſe ſteht auf einer ſehr reſpektablen

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Vogl wird heute noch die&#x017F;er Aufgabe wenig&#x017F;tens in er&#x017F;terer<lb/>
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Liebes&#x017F;cene gern verfällt. Eine ganz unerwartet angenehme<lb/>
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There&#x017F;e Vogls haben wir die I&#x017F;olde nicht mehr &#x017F;o &#x017F;ingen<lb/>
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[0001] Nr. 77. Morgenblatt. 103. Jahrgang. München, Dienſtag, 20. März 1900. Allgemeine Zeitung. Wöchentlich 12 Ausgaben. Bezugspreiſe: Durch die Poſtämter: jährlich M. 36. —, ohne Beil. M. 18. — (viertelj. M. 9. —, ohne Beil. M. 4.50); in München b. d Ex- pedition od. d. Depots monatlich M. 2. —, ohne Beil. M. 1.20. Zuſtellg, mil. 50 Pf. Direkter Bezug für Deutſchl. u. Oeſterreich monatlich M. 4. —, ohne Beil. M. 3. —, Ausland M. 5.60, ohne Beil. M. 4.40. Inſertionspreis für die kleinſpaltige Colonelzeile od. deren Raum 25 Pfennig; finanzielle Anzeigen 35 Pf.; lokale Ver- kaufsanzeig. 20 Pf.; Stellengeſucht 15 Pf. Redaktion und Expe- dition befinden ſich Schwanthalerſtr. 36 in München. Berichte ſind an die Redaktion, Inſerat- aufträge an die Ex- pedition franko ein- zuſenden. Abonnements für Berlin, nimmt unſere dortige Filiale in der Leipzigerſtraße 11 entgegen. Abonnements für das Ausland nehmen an: für England A. 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Co., 31 bis Faubourg Montmartre in Paris. Verantwortlich für den politiſchen Theil der Chefredakteur Hans Tournier, für das Feuilleton Alfred Frhr. v. Menſt, für den Handelstheil Ernſt Barth, ſämmtlich in München. Druck und Verlag der Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung „Verlag der Allgemeinen Zeitung“ in München. Neue parlamentariſche Sitten — aber nicht beſſere. Die Obſtruktion, d. h. die exceſſive, mißbräuchliche An- wendung der zum Schutze der Minderheit feſtgeſetzten Ge- ſchäftsordnungsbeſtimmungen, gehört von nun an auch im Deutſchen Reichstage zu den durch die Praxis ſanktionirten, alſo nicht mehr ſchlechthin verpönten Kampfmitteln. Bour- geois- und Sozialdemokratie haben am Samſtag — infolge eines Zufalls gerade am zehnten Jahrestage des letzten vom Fürſten Bismarck geleiteten Miniſterrathes — bei der Verhandlung über die noch reſtirenden Paragraphen der lex Heinze Obſtruktion geübt, und zwar ſofort mit zweifelloſem Erfolg. Die klerikal-konſervative Majorität hat, trotz ihrer ſehr erheblichen numeriſchen Ueberlegen- heit, weniger Widerſtandsfähigkeit bekundet, als wir vor- ausſehen zu müſſen glaubten, denn der Präſident Graf Balleſtrem hat — offenbar im Einvernehmen mit den Vertrauensmännern der Mehrheitsparteien — die heiß umſtrittene lex Heinze einſtweilen von der Tagesordnung abgeſetzt, allerdings mit der Motivirung, daß es nur ge- ſchehe, um die rechtzeitige Erledigung des Etats, der bis zum 1. April Geſetzeskraft erlangen muß, nicht in Frage zu ſtellen. Aber gleichviel, welche Motive für dieſen Ent- ſchluß maßgebend geweſen ſind, und gleichviel, ob der einſt- weiligen Zurückſtellung des Entwurfs die definitive Preis- gebung nachfolgt — für den Augenblick darf die demo- kratiſche Oppoſition ſich eines Sieges rühmen und ihre Preßorgane ſowie die ihr nahe ſtehenden linksliberalen Blätter laſſen es an Jubelhymnen auch nicht fehlen. Was uns betrifft, ſo haben wir ſeinerzeit den Geſetz- entwurf mit dem ominöſen Namen in derjenigen Faſſung, welche der Reichstag ihm auf Betreiben der vom Cen- trum beeinflußten Kommiſſion gelegentlich der zweiten Leſung gegeben hatte, als vollkommen verfehlt bezeichnet und die Erklärung der Regierung, daß auch ſie ihn in dieſer Form für unannehmbar halte, mit aufrichtiger Genugthuung begrüßt. Gleichzeitig haben wir freilich ſein Hehl daraus gemacht daß die in Berlin, in München und an anderen Orten beſchloſſenen Proteſte gegen die Vorlage wenn nicht in der Sache, ſo doch in der Form, namentlich aber in der Art ihrer Begründung, unſres Erachtens über das Ziel vielfach hinausſchöſſen und in- folgedeſſen die grundſätzlichen Vertheidiger der lex eher reizen und verſtimmen als überzeugen und gewinnen könnten. Durch die inzwiſchen von Vertretern der Mehr- heitsparteien in gemeinſamen Berathungen vereinbarten und im bisherigen Verlauf der dritten Leſung auch vom Plenum durchweg gutgeheißenen Kompromißvorſchläge, die den verbündeten Regierungen das Placet ermöglichen ſollten, iſt die Vorlage zwar nicht unweſentlich modifizirt worden — man hat ihr damit, wie wir letzthin be- merkten, die ſchlimmſten Giftzähne ausgebrochen —, allein wir würden ihr, ſollte ſie im letzten Berathungsſtadium wirklich noch ſcheitern, ſelbſt jetzt keine Thräne nach- weinen. Als ein beſonders erfreuliches Produkt deut- ſcher legislatoriſcher Arbeit, als ein den alten Savigny desavouirender Beweis für den Beruf unſrer Zeit zur Geſetzgebung würde ſie keinesfalls zu gelten haben. Für eine Aktion, die lediglich gegen das Zuhälterthum und die aus ihm ſich ergebenden oder mit ihm zuſammen- hängenden Mißſtände ſich richtete, würden, ſo meinen wir, alle Parteien des Reichstags auch fernerhin ſtets zu haben ſein; zu einer Verkoppelung der dahinzielenden Geſetzesbeſtimmungen mit neuen, verſchärften ſtrafgeſetz- lichen Vorſchriften gegen einen Mißbrauch oder gegen etwaige Abirrungen der Kunſt, lag aber und liegt, wie wir ſchon betonten, ein irgendwie zwingender Anlaß nicht vor. Sollte es wirklich wahr ſein, daß in München, der Kunſtſtadt par excellence, die Polizei eine Nach- bildung der Venus von Milo aus der Auslage einer Kunſthandlung als „anſtößig“ zu entfernen vermochte, ohne daß von höherer Stelle alsbald Remedur geſchaffen wurde, ſo wäre damit doch der unanfechtbare Nachweis geliefert, daß polizeilichen Eingriffen in Sachen der Kunſt und der Aeſthetik ſchon in statu quo, alſo ohne daß wir eine lex Heinze haben, eher zu viel als zu wenig Spielraum gewährt iſt. Eine Erweiterung der Polizeibeſugniſſe nach dieſer Seite hin könnte daher nur unheilvoll wirken. So wenig wir uns mithin durch den Gedanken be- ſchwert fühlen, daß die vielgeſcholtene Vorlage, die von ihren Freunden und Vertheidigern bereits bis hart an den Eingang des rettenden Ports gelootst worden war, im letzten Augenblick doch noch Havarie erleiden und auf den Strand geſetzt werden könnte, ſo lebhaft bedauern wir die zur Herbeiführung dieſes Reſultats von der intran- ſigenten Oppoſition in Anwendung gebrachten Mittel Die Obſtruktion iſt eine überaus gefährliche, zweiſchneidige Waffe, das haben ſelbſt diejenigen erfahren, die, wie die Deutſchen im öſterreichiſchen Parlament, mit ſehr viel beſſerem Recht, d. h. unter weit zwingenderen Umſtänden als es am Samſtag bei uns im Reichstag geſchehen iſt, ihrer ſich bedienten. Unſre Stammesgenoſſen in Oeſter- reich konnten wenigſtens mit gutem Gewiſſen verſichern, daß ſie wirklich nur in extremis, nachdem alle anderen Kampfmittel völlig verſagt hatten, zur Vertheidigung ihres höchſten Gutes, ihrer nationalen Eigenart und Selbſtändigkeit gegenüber den ſlaviſchen Herrſchafts- gelüſten, Obſtruktion übten und damit eine geordnete geſetzgeberiſche Thätigkeit in ihrem Vaterland unmöglich machten. Das Recht aber über rückſichtsloſe Vergewalti- gung und über den Mißbrauch des Rechts des Schwächeren ihrerſeits Klage zu führen, hatten ſie damit ein für alle- mal verwirkt; als hinterher aus minderem Anlaß auch die Tſchechen in obſtruktioniſtiſche Bahnen einlenkten und ihnen Gleiches mit Gleichem vergalten, mußten ſie das wüſte Treiben reſiguirt über ſich ergehen laſſen. Auf jeden Proteſt würde man ihnen hohnlachend er- widert haben: A corsaire corsaire et demi! Auch den Vertretern der rothen und der blauen Demo- kratie im Reichstage wird dieſe Erfahrung nicht erſpart bleiben. Sie haben — ohne daß für ſie jener unwiderſtehliche Zwang vorlag, unter deſſen Druck die Deutſch-Oeſterreicher einſt handelten — dem Obſtruktions- verfahren, vor deſſen Anwendung man bei uns bisher ſelbſt inmitten der ſchärfſten parlamentariſchen Kämpfe zurückgeſchreckt war, auch im Reichstage Bahn gebrochen und es iſt leider mit voller Sicherheit vorauszuſehen, daß dem erſten Schritte auf der abſchüſſigen Bahn allzu- bald nun weitere folgen werden. Hr. Singer, der mit ſeinen Genoſſen und Affiliirten ja doch nicht immer auf der Seite derer ſtehen dürfte, denen mit der Hemmung unſres geſetzgeberiſchen Apparats jeweilig gedient iſt, wird es ſelbſt vielleicht noch manchmal zu bedanern haben, daß er zur Verwilderung unſrer parlamentariſchen Kämpfe leichten Herzens das Signal gegeben hat; jedenfalls wird der Shylock der Sozialdemokratie noch den Graziano finden, der ihm ſpöttiſch zuruft: „Dank, Jude, daß du mich dies Wort gelehrt!“ Nichts weniger als dankbar aber werden alle die- jenigen ihm ſein, die eine ruhige und ſtetige Entwicklung unſrer inneren Verhältniſſe erſtreben, denen ein ziel- bewußtes und vertrauensvolles Zuſammenwirken von Volksvertretung und Regierung am Herzen liegt, und die es aufrichtig beklagen würden, wenn das Niveau unſrer Reichstagsverhandlungen, ſtatt ſich zu heben, tiefer noch ſinken ſollte, als es leider ohnehin ſchon geſunken iſt. Sollte der „ſtarke Mann“, nach dem man jetzt allerwärts ſo fleißig Umſchau hält, wirklich gefunden und mit der Leitung der Reichsgeſchäfte betraut werden, ſo möchten wir ihm den unmaßgeblichen Rath ertheilen, vor allem einmal mit den Herren Reichsboten ein recht ernſtes und ein- dringliches Wort zu reden. Denn wer den Geiſt, der in der parlamentariſchen Vertretung des Reiches heute ſich kundgibt, mit demjenigen vergleicht, der die erſten Reichs- tage nach den glorreichen Ereigniſſen von 1870 und 1871 durchwehte und in ihnen webte und wirkte, kann wahr- lich nur den einen Wunſch hegen: Gott beſſer’s! Deutſcher Reichstag. 171. Sitzung. = Berlin, 19. März. Tel. Die Diskuſſion kehrte heute wieder in das gewohnte ſtillere Fahrwaſſer zurück, aus dem ſie durch die Stürme der lex Heinze in den letzten Tagen verſchlagen worden war; dazu wieder die leeren Bänke — alles wie einſt! Erledigt wurde der Etat des Reichseiſenbahnamts. Abg. Pachnicke (Frſ. Vgg.) brachte die Tarifreform zur Sprache, deren Ausbleiben er der im preußiſchen Eiſenbahnminiſterium herrſchenden fiskali- ſchen Auffaſſung zuſchrieb, während Bräſicke (Frſ. Volksp.) den Einfluß eines „Mächtigeren“, des Finanzminiſters v. Miquel, witterte. Der Präſident des Reichseiſenbahn- amts, Schulz, konnte nur, wie immer bei ſolchen Ge- legenheiten, auf die engen Grenzen ſeiner Kompetenz und den gänzlichen Mangel an Handhaben, in dieſen wie in anderen Fragen der Eiſenbahnverwaltung einen Zwangauf die Einzelſtaaten auszuüben, hinweiſen. Doch trat Feuilleton. # Kgl. Hoftheater. Das war einmal eine treff- liche und intereſſante Aufführung von „Triſtan und Iſolde“, die vom Sonntag. Leider kann man nicht ſagen, daß ſie durchaus mit eigenen Kräften beſtritten worden iſt. Unſer einheimiſcher Triſtan, der erſte nach Schnorrs Tode und lange Zeit der einzige, Heinrich Vogl, iſt zur Zeit beurlaubt, und ſo mußte, um die ſchon lange projektirte und aus nicht ganz klaren Gründen als unumgänglich nothwendig betrachtete Aufführung des „Triſtan“ zu ermöglichen, ein fremder Triſtan- Darſteller berufen werden: Hr. Emil Gerhäuſer von Karlsruhe, der nun endlich geſtern zum Auftreten in dieſer Rolle kam. Fremd iſt uns übrigens Hr. Gerhäuſer weder an ſich noch als Triſtan. Neu und intereſſant ſind aber die Fort- ſchritte, die er ſeither gemacht. Einen jüngeren, ſchon in der Erſcheinung imponirenden Triſtan zu ſehen, iſt allein ſchon ein Vergnügen. So ganz in Einklang mit der reckenhaften Figur des einſt ſo ſchmächtigen Sängers ſtehen Größe und Glanz der Stimme nun allerdings nicht: man erwartet un- willkürlich nach beiden Richtungen von einem ſolchen Triſtan mehr. Gleichwohl iſt Gerhäuſer nach Vogl der beſte Triſtan, den wir hier erlebt. Insbeſondere der erſte und der dritte Akt boten Hocherfreuliches an eindringlicher Deklamation und Größe des Stils. Triſtans Tod war auch in der Darſtellung gewaltig. Das Lyriſche des zweiten Aktes kam weniger gut zum Ausdruck. Die Stimme des Gaſtes belegte ſich da ein paarmal beim Anſingen eines Piano, auch ließen die Deutlichkeit der Deklamation und die Süße des Tons hier zu wünſchen übrig. Vogl wird heute noch dieſer Aufgabe wenigſtens in erſterer Beziehung gerechter. Dafür fehlte Gerhäuſer zum Glück das Lehrhafte, in das der Triſtan Vogls ſelbſt in der großen Liebesſcene gern verfällt. Eine ganz unerwartet angenehme Ueberraſchung bot, mir wenigſtens, die Iſolde der Frau Fränkel-Claus. Ich hatte ſie nicht mehr gehört, ſeitdem ſie (auch mit Gerhäuſer) dieſe Rolle als Gaſt hier geſungen. Damals ein wild wüthendes Weib mit braunen Haaren, die mit dem Geſichtchen einer Soubrette und mit dem Herzen einer Tigerin auf der Scene herumtobte, iſt ſie heute eine blonde Iſolde, der wirklich nur das ja nicht abzulegende Stumpfnäschen im Wege ſteht, die richtige iriſche Königsmaid zu ſein. Das Spiel iſt zwar von Leidenſchaft erfüllt, aber es iſt doch gehaltener, weiblicher geworden. Das Beſte aber an dieſer Iſolde iſt ihr Singen. Seit den beſten Tagen Thereſe Vogls haben wir die Iſolde nicht mehr ſo ſingen hören, wie geſtern durch Frau Fränkel-Claus. Das macht die junge, noch biegſame Stimme, ein echter. Sopran, der auch die Höhe ohne Kreiſchen mühelos bewältigt. Die Sängerin hatte ganz prachtvolle Momente, die auch von einer ſelbſtändigen Intelligenz zeugten, nur hier und da noch ſtört ein minder edler Klang, wie noch mehr einige unſeine Be- wegungen. Frau Fränkel-Clans kann ſich zu den Fortſchritten gratuliren, die ſie gerade in dieſer gewaltigen Partie gemacht, und wir mit ihr. Es kommt nicht oft vor, daß eine Sängerin, die ſchon von dieſer Rolle Beſitz genommen, ſich ſo von Grund aus zu ändern und zu beſſern vermag. Die Brangäne des Frl. Frank ſchien leider nicht ganz ſo günſtig disponirt zu ſein wie ſonſt. Prachtvoll war der Marke Klöpfers, eigentlich noch beſſer als ſeinerzeit Kindermann, der die Rolle meines Erinnerns erſt in ſpäteren Jahren geſungen hat. Die Herren Bauberger (Kurwenal) und Mayerhofer (Hirt) ſingen ſchöner als ihre Vorgänger Fuchs und Schloſſer, ſie ſind aber Beide noch nicht imſtande, eine ſo überzeugende Ge- müthswärme hineinzulegen wie Jene. Die ganze Auf- führung hatte unter der Leitung Fiſchers einen großen Zug, der vom vollen Hauſe dankbar anerkannt wurde. Fiſcher, ſowie der Gaſt und Fran Fränkel-Claus mußten zum Schluß oftmals erſcheinen. W. Theater am Gärtnerplatz. Frau Eleonora Duſe begann Samſtag Abend ihr Gaſtſpiel mit dem frag- würdigſten der Stücke, die ſie uns diesmal mitbringt: mit der „comédie larmoyante“ „Die zweite Frau“ von dem engliſchen Macher A. W. Pinero. Das Stück beweist es beſonders deutlich, daß das moderne engliſche Drama 50 Jahre hinter dem europäiſchen nachhinkt. Dieſe „Second Mrs. Tan- queray“ ſtammt direkt aus den Lorettenſalons des zweiten Kaiſerreichs: der jüngere Dumas iſt ihr Vater und die Camiliendame ihre franzöſiſche Halbſchweſter. Ein angejahrter engliſcher Gentleman heirathet ein leichtes Dämchen — nuance anglaise —, das ſich als ehrliche Frau langweilt und unglücklich wird, weil ihre madonnenhafte Stieftochter, die in ihr die Abenteurerin wittert, ſie nicht lieben kann. Als der Oberflächlichen nun vollends in dem Bräutigam dieſer Stieftochter ein ehemaliger Liebhaber entgegentritt, da geht ſie, nach einer intereſſanten Beichte, in den Tod. Das Stück iſt ſchlecht, aber bedeutſam als Dokument einer Volkspſychologie; es zeigt, wie der Hang zum Moraliſiren durch das Medium eines Kunſtwerkes dem Vollblutangelſachſen, der im Theater ſitzt, Be- dürfniß iſt; es ſoll ganz einfach abſchrecken von ſolchen Ehen, es iſt voll der Moralität der Fabel. Die Heldin ſelbſt zer- gliedert ſozuſagen ihren Fall und verräth dabei auch, daß ſie Nietzſche geleſen hat: „Die größte Diſtanz der Welt tragen wir in uns — die Entfernung zwiſchen Mann und Weib.“ Solche Ausſprüche, die ſich im Mund der ganz unmöglichen Geſtalt ſeltſam genug ausnehmen, ſind das eigentlich Moderne an dem fragwürdigen Stück, von ſeiner Kompromißtechnik natürlich abgeſehen. Und damit komme ich zu der unancen- reichen Kunſt der Duſe, der es faſt gelang, die Geſtalt der Paula glaubwürdig zu machen. Warum die große Künſtlerin gerade dieſes Stück ihrem Repertoire einverleibt haben mag? Wegen der Verwandtſchaft mit dem franzöſiſchen Konver- ſationsſtück, dem ſie ſo viele Erfolge verdankt? Das franzö- ſiſche Unſittenſtück geſtattet aber ein breiteres Ausleben. Die Technik des Engländers iſt konciſer und zwingt die Künſtlerin, die Aeußerungen des Lebens bis ins Kleinſte hinein zu unanciren. Die Gefahr der Manier liegt nahe: Agnes Sorma, die auch dieſem Hang fröhnt, iſt ihr nicht entgangen. Die Duſe weiß ſie immer zu vermeiden: die Grazie ſüdländiſchen Lebens iſt in ihr ſo mächtig, daß ſie alles wagen kann. Wer lernen will, welche Fülle des Ausdrucks eine große Künſtlerin in ein einziges Wort legen kann, mag ſehen, wie ſie unter der bedeutſamſten Geſte das Wort moralità im zweiten Akt gleichſam auseinander rupft, um ſeine Fetzen der Welt der „respectability“ vor die Füße zu werfen. Und ihre Ausgeſtaltung der Titelrolle iſt überreich an ſolchen hin- reißenden Einzelheiten. Daß die außerordentliche Kunſt der Duſe — alles in allem eine etwas morbide Kunſt — ſich mit Vorliebe an wunden Seelen oder mißhandelten Geſchöpfen verſucht, iſt bekannt. Faſt noch größer als in den berührten leidenſchaftlichen Auseinanderſetzungen iſt ſie in jenen Momenten, wo derartige Naturen in ſich verſinken und höchſtens durch einen Blick oder eine Geſte andeuten, was in ihnen vorgeht. Der Reichthum der Mittel, über die die große Künſtlerin verfügt, ſetzt immer wieder in Erſtaunen, und geſtern bot ihr das fragwürdige Stück nicht einmal Gelegenheit, alle Regiſter zu ziehen, dank der Kompromißtechnik des Machers, der von einzelnen engliſchen Kritikern der engliſche Ibſen genannt wird. — Die Truppe der Duſe ſteht auf einer ſehr reſpektablen

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Christopher Georgi, Manuel Wille, Jurek von Lingen: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2022-02-11T12:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung, Nr. 77, 20. März 1900, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_allgemeine77_1900/1>, abgerufen am 21.11.2024.