Allgemeine Zeitung, Nr. 81, 21. März 1848.Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung [Spaltenumbruch]
Harleß' Heerpredigt. K. Sachsen ^ Leipzig, 14 März.Die Dinge erfüllen sich Frankreich. Paris, 16 März. Die Antwort welche gestern Lamartine *) Man übersehe das Datum des Briefs nicht.
Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitung [Spaltenumbruch]
Harleß’ Heerpredigt. K. Sachſen △ Leipzig, 14 März.Die Dinge erfüllen ſich Frankreich. ♯ Paris, 16 März. Die Antwort welche geſtern Lamartine *) Man überſehe das Datum des Briefs nicht.
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Der aus Franken ſtammende, als orthodox berühmte Prediger<lb/><hi rendition="#aq">Dr.</hi> Harleß hat vorgeſtern eine „Heerpredigt“ gehalten, welche nun auch<lb/> das ganze ſtillere Publicum in Aufregung geſetzt hat. Sie wurde ſchon<lb/> geſtern unter dem Titel: „die Stimme des Herrn der Herren,“ im Druck<lb/> ausgegeben, und iſt gar wohl geeignet Propaganda zu machen auf allen<lb/> deutſchen Kanzeln. Ihr weſentlicher Inhalt und ihre Hauptſtellen ſind<lb/> folgende: <cit><quote>„Im Pſalmbuch ſteht geſchrieben: der Herr iſt König, darum<lb/> toben die Völker; er ſitzet auf Cherubim, darum regt ſich die Welt. So<lb/> laßt euch nun weiſen, ihr Könige, und laßt euch züchtigen, ihr Richter<lb/> auf Erden; denn er kommt, er kommt zu richten das Erdreich; er wird<lb/> den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit ſeiner Wahr-<lb/> heit. Der Herr macht zu nichte der Heiden Rath und wendet die Ge-<lb/> danken der Völker.“</quote></cit> Solch eine Zeit ſey gekommen, der Herr erſcheine<lb/> in Wettern, und man ſolle nicht bloß zittern, ſondern auch jauchzen vor<lb/> dem Herrn. <cit><quote>„Nun, ich weiß nicht ob ſchon vor den Tagen die gekommen<lb/> ſind euch bange geweſen iſt um das deutſche Volk. Ich weiß nicht ob<lb/> ihr ſchon vorher erkannt habt wie morſch und zerfreſſen die glänzende<lb/> Decke ſcheinbaren Wohlergehens war — das aber weiß ich daß jeder der<lb/> in Sorgen gebetet hat, jetzt ſagen muß: der Herr der Herren hat geredet!<lb/> Wir hören ſeine Stimme!“</quote></cit> Nun wird nachgewieſen daß der Herr der<lb/> Herren in Paris geredet habe. <cit><quote>„Was aber hat Gott geredet? Da, Ge-<lb/> liebte, gehen die Urtheile auseinander, und doch hängt für alle Welt,<lb/> namentlich aber für unſer deutſches Volk, alles Heil davon ab daß wir<lb/> das Wort des Herrn recht verſtehn. Wollte Gott ich könnte ſagen daß<lb/> Gott der Herr mit ſeinem Wort zunächſt Frieden zugeſagt habe unſerm<lb/> Volk! Allein ich kann es nicht ſagen, und kein Deutſcher wird jetzt bloß<lb/> von Frieden träumen.“</quote></cit> Dann zeigt er daß der Thron in Frankreich ge-<lb/> ſtürzt ſey, weil Ehre und Gerechtigkeit aus den öffentlichen Zuſtänden<lb/> gewichen — <cit><quote>„wo ſoll da Güte und Treue herkommen! Wenn nicht Ehre<lb/> im Lande wohnt, nicht Güte und Treue einander begegnen, werden nim-<lb/> mermehr Gerechtigkeit und Friede ſich küſſen; im Gegentheil, es iſt<lb/> Fürſt und Volk verloren, und zwar gerade deßhalb weil ſie wähnen der<lb/> Völker Heil ohne Achtſamkeit auf Gottes Stimme bloß mit ihrer Klug-<lb/> heit und nach ihrer Berechnung <hi rendition="#g">machen</hi> zu können.“ „Wir werden<lb/> ſchwere Prüfungen und Kämpfe zu beſtehen haben. Aber wir bedurften<lb/> der bittern Arznei; vom Scheitel bis zur Sohle krankt der Leib des<lb/> deutſchen Volks. Wenn aber jetzt etwa die Geſchwüre aufbrechen, ſo<lb/> kann das zwar eine Krankheit zum Tode ſeyn, aber ebenſo gut auch eine<lb/> Krankheit, ja ein Tod zur Auferſtehung und Geneſung. Denn<lb/> der einſt Lazarum aus dem Grabe ſteigen hieß, der breitet den Arm ſei-<lb/> ner Macht auch jetzt noch über unſer Volk aus, und ſo wir dieſen Arm<lb/> nicht von uns ſtoßen, brauchen wir auch nicht uns zu entſetzen vor dem<lb/> Sturze, der ohne Zweifel über vieles von dem hereinbricht was wir bis-<lb/> her den gegenwärtigen Zuſtand nannten.“ — „Denn wenn Gott der Herr<lb/> anfängt zu reden, ſo ſtürzt nicht bloß zu Boden was ſich wider Gott er-<lb/> hebt, ſondern es bricht auch zuſammen was bloß Menſchenwitz künſtlich<lb/> erdacht und gemacht und geordnet hat. Und verhehlen wir es uns<lb/> nicht, an künſtlich <hi rendition="#g">gemachtem</hi>, nicht aus Gott und dem wirklichen Le-<lb/> ben gequollenem haben wir Deutſche reichlichen Ueberfluß. Das alles<lb/> wird zuſammenbrechen. Vor allem und zuerſt die deutſche Schulweis-<lb/> heit, von der linken wie von der rechten Seite, welche ſtatt aus dem<lb/> Brunnquell des wirklichen und wahren Lebens zu ſchöpfen mit nebel-<lb/> haften Lehren und Doctrinen aller nur denkbaren Art hat unſerm Volk<lb/> Heilung bringen wollen. Nun kommen Gottes Wetter und werfen<lb/> alle dieſe Weisheit um. Nur Wahrheit und Wirklichkeit werde beſtehn.<lb/> Der Kampf aber werde uns ein Segen werden, und nicht in „falſchem<lb/> Frieden und in falſcher Einheit und Einigung“ ſey Hülfe. „Niemand<lb/> darf preisgeben was er als das Rechte erkannt hat. Aber von dem einen<lb/> Gedanken der gemeinſamen Vaterlandgefahr ſoll jetzt alles Kleinliche, Hä-<lb/> miſche, Gehäſſige des Parteiweſens verſchlungen werden“ — jetzt gilt es die<lb/> Rettung Deutſchlands durch Zuſammentritt aller Deutſchgeſinnten. <hi rendition="#g">Die</hi><lb/> Fahne weht über unſern Häuptern, zu dieſer Fahne haben wir alle ge-<lb/><cb/> ſchworen. Wer aber hat dieß Banner jetzt aufgepflanzt? Des <hi rendition="#g">Herrn</hi><lb/> Verhängniß hat es gethan, deſſen Donnerſtimme hat einen faulen Völ-<lb/> kerfrieden brechen wollen.“ — „Ach daß wir des Herrn Stimme fürchte-<lb/> ten und ſeine Gnade ſuchten! Das heißt aber in der Gegenwart nicht bloß<lb/> im einſamen Kämmerlein ſorgen und beten, ſondern in dieſer Zeit der Tha-<lb/> ten muß es die That beweiſen. Weg mit den Gedanken an eigenen Vortheil,<lb/> an Parteivortheil, an den Vortheil des Augenblicks, an die kleinliche Spanne<lb/> nächſtliegender, häuslicher, örtlicher, landesgränzlicher Intereſſen. An<lb/> die Zukunft des ganzen großen Deutſchlands denkt; Gott hat die Ver-<lb/> antwortlichkeit hiefür auf unſer Haupt, auf die Häupter der gegenwärti-<lb/> gen Geſchlechter gelegt. So bedenkt denn daß ihr von Gottes Gnaden<lb/> Deutſche ſeyd und thut darnach; und Schmach über die welche wagen<lb/> ſollten an irgendeine fremde Sache, an irgendein eigennütziges Beſtre-<lb/> ben den gottgegebenen Beruf Deutſchlands zu verrathen!“</quote></cit> — Welchein Sig-<lb/> nal! Ich habe ſchon geſagt daß Harleß zur orthodoxen Richtung in der<lb/> Kirche gehört, und zwar zur ſtrengen. Jetzt vergegenwärtige man ſich<lb/> von welcher politiſchen Seite immerdar Heil geſucht wurde, bei othodoxer<lb/> Theologie für die künſtliche Erhaltung, die „gemachte“ Weiterbildung des<lb/> Beſtehenden, und nun ermeſſe man was es zu bedeuten hat, wenn ſolch<lb/> ein Geiſtlicher rückhaltlos von der Kanzel herab auf die Seite der Natio-<lb/> nalpartei tritt. Die ächten Jugendkeime gehen alle auf: Harleß war<lb/> Burſchenſchafter in Erlangen. Und am hieſigen Orte, hier in Sachſen,<lb/> iſt ſolch eine nationale Heerpredigt von entſcheidender Wichtigkeit. Wir<lb/> bilden hier die Brücke zwiſchen Süd- und Norddeutſchland, wir empfin-<lb/> den hier am tiefſten die troſtloſe Schweigſamkeit welche in Berlin noch<lb/> immer nicht gebrochen wird. Preußiſche Regimenter liegen zwei Stun-<lb/> den von hier, ſie ſind an der Gränze angekommen, ohne daß ihr Weg<lb/> nach Weſten hier vorüberführte, <note place="foot" n="*)">Man überſehe das Datum des Briefs nicht.</note> und die ärgſten Deutungen ſind na-<lb/> türlich, das traurigſte Wort „es ſtehe eine Spaltung zwiſchen Süd-<lb/> und Norddeutſchland bevor,“ ein Wort welches um jeden Preis nieder-<lb/> gehalten werden muß, wird ausgeſprochen — da iſt eine ſolche nationale<lb/> Heerpredigt wahrlich am Orte. Von Tag zu Tag haben wir erwartet<lb/> daß von Berlin die Aufhebung der Cenſur, die Einberufung des Land-<lb/> tags ausgeſprochen, daß die Periode des „Machens“ einer Staatsverfaſ-<lb/> ſung für beendigt erklärt, die volle überall bereite Theilnahme der preu-<lb/> ßiſchen Völkerſchaften in Anſpruch genommen werde für eine ſo frucht-<lb/> bar wie furchtbar ſich ankündigende Zukunft. Wir haben erwartet, un-<lb/> ſer ſtärkſter Staat werde ſeine Stärke großartig benützen zum harren-<lb/> den populären Werke; wir warten noch, aber die Hoffnung wird immer<lb/> geringer. Möge das ſchreckliche Loſungswort: „Es iſt zu ſpät!“ welches<lb/> ſeit Wochen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land fliegt wie der Ruf<lb/> eines unſichtbaren Nachtvogels, möge es nicht auch um unſere Ohren<lb/> ſchwirren! Die günſtigen Momente wollen heutigen Tages in der poli-<lb/> tiſchen Welt blitzſchnell ergriffen ſeyn, ſonſt ſind ſie dahin für immer.</p> </div> </div><lb/> <div type="jPoliticalNews" n="2"> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Frankreich.</hi> </head><lb/> <div type="jComment" n="4"> <dateline>♯ <hi rendition="#b">Paris</hi>, 16 März.</dateline><lb/> <p>Die Antwort welche geſtern Lamartine<lb/> dem „Club für Sicherung der Wahlfreiheit“ gegeben, als derſelbe vor der<lb/> Regierung der öffentlichen Stimmung über das Rundſchreiben Ledru-<lb/> Rollin’s energiſchen Ausdruck gab, hat günſtig gewirkt. Geſtern<lb/> Abends hatten ſich in allen Quartieren von Paris auf den Plätzen, in<lb/> den Straßen Volksverſammlungen gebildet, welche ſehr gereizt gegen<lb/> Hrn. Ledru-Rollin ſich ausſprachen. Endlich erſchienen die Mitglieder<lb/> jenes Clubs welche mit auf dem Stadthauſe die Antwort des Hrn. La-<lb/> martine vernommen hatten, und theilten ſie überall dem Volke mit, in-<lb/> dem ſie auf Stühle ſtiegen um ſo von allen Seiten vernommen werden<lb/> zu können. Lauter Beifall brach aus und der Ruf es lebe Lamartine!<lb/> Aber gleich darauf ſuchten die Anhänger Ledru-Rollin’s, gegen den ſo<lb/> eben nicht ſehr ſchmeichelhafte Aeußerungen gefallen waren, die Stim-<lb/> mung wieder zu deſſen Gunſten zu bearbeiten, was indeſſen nur zum<lb/> Theil gelang. In der Nationalgarde hat die Abſchaffung der ſoge-<lb/> nannten Elitecompagnien große Aufregung gemacht. Geſtern ſchon er-<lb/> ſchienen Deputationen mit Vorſtellungen dagegen, erhielten aber ab-<lb/> ſchlägige Antwort. Heute ſammelten ſich nun ſämmtliche Grenadiere<lb/> und Voltigeurs aller Legionen, in einer Maſſe die wohl 30,000 (?) Mann<lb/> bilden mochte, ohne Waffen, und zogen vor das Stadthaus zu wieder-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </floatingText> </div> </body> </text> </TEI> [0017]
Außerordentliche Beilage zur Allgemeinen Zeitungvom 21 März 1848.
Harleß’ Heerpredigt.
K. Sachſen △ Leipzig, 14 März.
Die Dinge erfüllen ſich
wunderbar! Hier iſt vorgeſtern in der Hauptkirche ein deutſcher Pater
Ventura oder Abbè Lacordaire aufgetreten, welcher in donnernder Be-
redſamkeit die Sache des deutſchen Volks als die Sache Gottes erklärt
hat. Der aus Franken ſtammende, als orthodox berühmte Prediger
Dr. Harleß hat vorgeſtern eine „Heerpredigt“ gehalten, welche nun auch
das ganze ſtillere Publicum in Aufregung geſetzt hat. Sie wurde ſchon
geſtern unter dem Titel: „die Stimme des Herrn der Herren,“ im Druck
ausgegeben, und iſt gar wohl geeignet Propaganda zu machen auf allen
deutſchen Kanzeln. Ihr weſentlicher Inhalt und ihre Hauptſtellen ſind
folgende: „Im Pſalmbuch ſteht geſchrieben: der Herr iſt König, darum
toben die Völker; er ſitzet auf Cherubim, darum regt ſich die Welt. So
laßt euch nun weiſen, ihr Könige, und laßt euch züchtigen, ihr Richter
auf Erden; denn er kommt, er kommt zu richten das Erdreich; er wird
den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit ſeiner Wahr-
heit. Der Herr macht zu nichte der Heiden Rath und wendet die Ge-
danken der Völker.“ Solch eine Zeit ſey gekommen, der Herr erſcheine
in Wettern, und man ſolle nicht bloß zittern, ſondern auch jauchzen vor
dem Herrn. „Nun, ich weiß nicht ob ſchon vor den Tagen die gekommen
ſind euch bange geweſen iſt um das deutſche Volk. Ich weiß nicht ob
ihr ſchon vorher erkannt habt wie morſch und zerfreſſen die glänzende
Decke ſcheinbaren Wohlergehens war — das aber weiß ich daß jeder der
in Sorgen gebetet hat, jetzt ſagen muß: der Herr der Herren hat geredet!
Wir hören ſeine Stimme!“ Nun wird nachgewieſen daß der Herr der
Herren in Paris geredet habe. „Was aber hat Gott geredet? Da, Ge-
liebte, gehen die Urtheile auseinander, und doch hängt für alle Welt,
namentlich aber für unſer deutſches Volk, alles Heil davon ab daß wir
das Wort des Herrn recht verſtehn. Wollte Gott ich könnte ſagen daß
Gott der Herr mit ſeinem Wort zunächſt Frieden zugeſagt habe unſerm
Volk! Allein ich kann es nicht ſagen, und kein Deutſcher wird jetzt bloß
von Frieden träumen.“ Dann zeigt er daß der Thron in Frankreich ge-
ſtürzt ſey, weil Ehre und Gerechtigkeit aus den öffentlichen Zuſtänden
gewichen — „wo ſoll da Güte und Treue herkommen! Wenn nicht Ehre
im Lande wohnt, nicht Güte und Treue einander begegnen, werden nim-
mermehr Gerechtigkeit und Friede ſich küſſen; im Gegentheil, es iſt
Fürſt und Volk verloren, und zwar gerade deßhalb weil ſie wähnen der
Völker Heil ohne Achtſamkeit auf Gottes Stimme bloß mit ihrer Klug-
heit und nach ihrer Berechnung machen zu können.“ „Wir werden
ſchwere Prüfungen und Kämpfe zu beſtehen haben. Aber wir bedurften
der bittern Arznei; vom Scheitel bis zur Sohle krankt der Leib des
deutſchen Volks. Wenn aber jetzt etwa die Geſchwüre aufbrechen, ſo
kann das zwar eine Krankheit zum Tode ſeyn, aber ebenſo gut auch eine
Krankheit, ja ein Tod zur Auferſtehung und Geneſung. Denn
der einſt Lazarum aus dem Grabe ſteigen hieß, der breitet den Arm ſei-
ner Macht auch jetzt noch über unſer Volk aus, und ſo wir dieſen Arm
nicht von uns ſtoßen, brauchen wir auch nicht uns zu entſetzen vor dem
Sturze, der ohne Zweifel über vieles von dem hereinbricht was wir bis-
her den gegenwärtigen Zuſtand nannten.“ — „Denn wenn Gott der Herr
anfängt zu reden, ſo ſtürzt nicht bloß zu Boden was ſich wider Gott er-
hebt, ſondern es bricht auch zuſammen was bloß Menſchenwitz künſtlich
erdacht und gemacht und geordnet hat. Und verhehlen wir es uns
nicht, an künſtlich gemachtem, nicht aus Gott und dem wirklichen Le-
ben gequollenem haben wir Deutſche reichlichen Ueberfluß. Das alles
wird zuſammenbrechen. Vor allem und zuerſt die deutſche Schulweis-
heit, von der linken wie von der rechten Seite, welche ſtatt aus dem
Brunnquell des wirklichen und wahren Lebens zu ſchöpfen mit nebel-
haften Lehren und Doctrinen aller nur denkbaren Art hat unſerm Volk
Heilung bringen wollen. Nun kommen Gottes Wetter und werfen
alle dieſe Weisheit um. Nur Wahrheit und Wirklichkeit werde beſtehn.
Der Kampf aber werde uns ein Segen werden, und nicht in „falſchem
Frieden und in falſcher Einheit und Einigung“ ſey Hülfe. „Niemand
darf preisgeben was er als das Rechte erkannt hat. Aber von dem einen
Gedanken der gemeinſamen Vaterlandgefahr ſoll jetzt alles Kleinliche, Hä-
miſche, Gehäſſige des Parteiweſens verſchlungen werden“ — jetzt gilt es die
Rettung Deutſchlands durch Zuſammentritt aller Deutſchgeſinnten. Die
Fahne weht über unſern Häuptern, zu dieſer Fahne haben wir alle ge-
ſchworen. Wer aber hat dieß Banner jetzt aufgepflanzt? Des Herrn
Verhängniß hat es gethan, deſſen Donnerſtimme hat einen faulen Völ-
kerfrieden brechen wollen.“ — „Ach daß wir des Herrn Stimme fürchte-
ten und ſeine Gnade ſuchten! Das heißt aber in der Gegenwart nicht bloß
im einſamen Kämmerlein ſorgen und beten, ſondern in dieſer Zeit der Tha-
ten muß es die That beweiſen. Weg mit den Gedanken an eigenen Vortheil,
an Parteivortheil, an den Vortheil des Augenblicks, an die kleinliche Spanne
nächſtliegender, häuslicher, örtlicher, landesgränzlicher Intereſſen. An
die Zukunft des ganzen großen Deutſchlands denkt; Gott hat die Ver-
antwortlichkeit hiefür auf unſer Haupt, auf die Häupter der gegenwärti-
gen Geſchlechter gelegt. So bedenkt denn daß ihr von Gottes Gnaden
Deutſche ſeyd und thut darnach; und Schmach über die welche wagen
ſollten an irgendeine fremde Sache, an irgendein eigennütziges Beſtre-
ben den gottgegebenen Beruf Deutſchlands zu verrathen!“ — Welchein Sig-
nal! Ich habe ſchon geſagt daß Harleß zur orthodoxen Richtung in der
Kirche gehört, und zwar zur ſtrengen. Jetzt vergegenwärtige man ſich
von welcher politiſchen Seite immerdar Heil geſucht wurde, bei othodoxer
Theologie für die künſtliche Erhaltung, die „gemachte“ Weiterbildung des
Beſtehenden, und nun ermeſſe man was es zu bedeuten hat, wenn ſolch
ein Geiſtlicher rückhaltlos von der Kanzel herab auf die Seite der Natio-
nalpartei tritt. Die ächten Jugendkeime gehen alle auf: Harleß war
Burſchenſchafter in Erlangen. Und am hieſigen Orte, hier in Sachſen,
iſt ſolch eine nationale Heerpredigt von entſcheidender Wichtigkeit. Wir
bilden hier die Brücke zwiſchen Süd- und Norddeutſchland, wir empfin-
den hier am tiefſten die troſtloſe Schweigſamkeit welche in Berlin noch
immer nicht gebrochen wird. Preußiſche Regimenter liegen zwei Stun-
den von hier, ſie ſind an der Gränze angekommen, ohne daß ihr Weg
nach Weſten hier vorüberführte, *) und die ärgſten Deutungen ſind na-
türlich, das traurigſte Wort „es ſtehe eine Spaltung zwiſchen Süd-
und Norddeutſchland bevor,“ ein Wort welches um jeden Preis nieder-
gehalten werden muß, wird ausgeſprochen — da iſt eine ſolche nationale
Heerpredigt wahrlich am Orte. Von Tag zu Tag haben wir erwartet
daß von Berlin die Aufhebung der Cenſur, die Einberufung des Land-
tags ausgeſprochen, daß die Periode des „Machens“ einer Staatsverfaſ-
ſung für beendigt erklärt, die volle überall bereite Theilnahme der preu-
ßiſchen Völkerſchaften in Anſpruch genommen werde für eine ſo frucht-
bar wie furchtbar ſich ankündigende Zukunft. Wir haben erwartet, un-
ſer ſtärkſter Staat werde ſeine Stärke großartig benützen zum harren-
den populären Werke; wir warten noch, aber die Hoffnung wird immer
geringer. Möge das ſchreckliche Loſungswort: „Es iſt zu ſpät!“ welches
ſeit Wochen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land fliegt wie der Ruf
eines unſichtbaren Nachtvogels, möge es nicht auch um unſere Ohren
ſchwirren! Die günſtigen Momente wollen heutigen Tages in der poli-
tiſchen Welt blitzſchnell ergriffen ſeyn, ſonſt ſind ſie dahin für immer.
Frankreich.
♯ Paris, 16 März.
Die Antwort welche geſtern Lamartine
dem „Club für Sicherung der Wahlfreiheit“ gegeben, als derſelbe vor der
Regierung der öffentlichen Stimmung über das Rundſchreiben Ledru-
Rollin’s energiſchen Ausdruck gab, hat günſtig gewirkt. Geſtern
Abends hatten ſich in allen Quartieren von Paris auf den Plätzen, in
den Straßen Volksverſammlungen gebildet, welche ſehr gereizt gegen
Hrn. Ledru-Rollin ſich ausſprachen. Endlich erſchienen die Mitglieder
jenes Clubs welche mit auf dem Stadthauſe die Antwort des Hrn. La-
martine vernommen hatten, und theilten ſie überall dem Volke mit, in-
dem ſie auf Stühle ſtiegen um ſo von allen Seiten vernommen werden
zu können. Lauter Beifall brach aus und der Ruf es lebe Lamartine!
Aber gleich darauf ſuchten die Anhänger Ledru-Rollin’s, gegen den ſo
eben nicht ſehr ſchmeichelhafte Aeußerungen gefallen waren, die Stim-
mung wieder zu deſſen Gunſten zu bearbeiten, was indeſſen nur zum
Theil gelang. In der Nationalgarde hat die Abſchaffung der ſoge-
nannten Elitecompagnien große Aufregung gemacht. Geſtern ſchon er-
ſchienen Deputationen mit Vorſtellungen dagegen, erhielten aber ab-
ſchlägige Antwort. Heute ſammelten ſich nun ſämmtliche Grenadiere
und Voltigeurs aller Legionen, in einer Maſſe die wohl 30,000 (?) Mann
bilden mochte, ohne Waffen, und zogen vor das Stadthaus zu wieder-
*) Man überſehe das Datum des Briefs nicht.
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(2022-04-08T12:00:00Z)
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert. Tabellen und Anzeigen wurden dabei textlich nicht erfasst und sind lediglich strukturell ausgewiesen.
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