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Tübinger Chronik. Nr. 83. [Tübingen (Württemberg)], 11. Juli 1845.

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[Beginn Spaltensatz]
Die Giftmischerin Chr. Ruthardt und das
hochnothpeinliche Halsgericht*)
. * )

    " Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe
    den ersten Stein auf sie."

Wenn ich diesen Ausspruch an die Spitze des
gegenwärtigen Aufsatzes stelle, so geschieht es kei-
neswegs, um die fluchwürdige That zu vertheidigen,
oder dem abscheulichen Verbrechen, diesem schauder-
vollen Beweis der tiefen Verderbniß menschlicher
Natur das Wort zu reden, sondern ich möchte da-
mit nur jenen splitterrichtenden Verdammungsurthei-
len das allgemeine Panier der Liebe entgegen, und
dem pharisäischen Heuchlerseufzer: "Jch danke dir,
Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute," einen
Spiegel vorhalten, in welchen Keiner, ohne ihn
durch seinen Hauch zu trüben, schauen kann. Jch
möchte dadurch die Veranlassung geben, daß Jeder,
bevor er mit grausamer Strenge aburtheilen will,
vorerst niedersteigen möge in die Tiefen seines eige-
nen Herzens, die Geschichte der Verirrungen seiner
eigenen Seele erwäge und untersuche, die leisen ge-
heimen Anfänge, die sich oft im Leben zum schau-
dervollen Abgrunde öffnen, ernstlich prüfe, und auf
jene Augenblicke hinweisen, "wo man dem Schick-
sal näher steht, als sonst." Jch möchte endlich diese
schaudererregende That nicht als eine einzelnstehende
Thatsache betrachtet wissen, sondern als den natür-
lichen Schluß einer Kette von Verbrechen, die --
wenn sie auch nicht zu Thaten wurden -- ihren
Grund ebensosehr in der tiefverdorbenen Natur der
Verbrecherin fanden, als sie von deren Ver-
hältnissen zur Gesellschaft begünstigt und
gefördert wurden.

Der Kopf der Verbrecherin ist gefallen, dem
Gesetz zur Sühne. Mit dem Leben hat sie ihre
Schuld gebüßt, durch ihr Sterben ihr Verbrechen
an der menschlichen Gesellschaft versöhnt. Jede wei-
tere Anklage muß nun verstummen. Ein höherer
Richter rächt die Uebergriffe in eine höhere Ordnung,
und der Gott der Liebe seufzt über dem mosaischen
Blutgesetz. Deßhalb sei der Mensch gerecht, und
-- "wer steht, hüte sich, daß er nicht falle."

Wir wollen nun versuchen, in gedrängter Kürze
die Verkettung der Umstände, die in jenem entsetz-
lichen Verbrechen endeten, aus der Lebensgeschichte
der Verbrecherin, soweit diese zu uns gelangen konnte,
psychologisch zu entwickeln suchen.

Der Vater der Angeschuldigten war ein berühm-
ter Arzt in Stuttgart, ein reicher, angesehener
Mann, eine genialische, aber excentrische Natur.
Er lebte in vertrauten Verhältnissen mit der noch
lebenden Mutter derselben, und die Frucht ihres
Umgangs war ein Kind, das am 11. August 1804
[Spaltenumbruch] zur Welt kam. Kaum einige Monate alt, wurde
dasselbe einer Pfarrerfamilie auf dem Lande überge-
ben, woselbst das bildschöne Kind, das gleichwohl
schon frühe ein wildes, hochfahriges Wesen zeigte,
bis in das achte Jahr blieb. Um diese Zeit kam
die Schwester des Vaters, die sich einer ehelichen
Verbindung desselben mit der Mutter des Kindes
widersetzt hatte, in das Pfarrhaus, um die Kleine
mit fort zunehmen. Der Pfarrer aber, der Wohl-
gefallen an dem Mädchen gefunden hatte, entließ
diese ungerne seiner Pflege; denn er hoffte die schon
gefahrdrohenden Eigenschaften derselben, die sich
vorerst nur in übergewöhnlichen, kindischen Unarten
geäußert hatten, durch Unterricht, liebevolle Zunei-
gung wieder auszumerzen, um sie dereinst als ein
an Körper und Geist ausgebildetes Weib der Welt
übergeben zu können. Die Tante, die Gattin eines
wohlhabenden, selbst kinderlosen Beamten, lehnte
indessen das Anerbieten ab, und so kam das Mädchen
in deren Haus, woselbst sie, einen vortrefflichen
Schulunterricht genießend, drei Jahre blieb. Die
Frau mag aber wenig geeignet zur Erziehung des
Kindes gewesen seyn. Jhr heftiges Temperament
konnte die wilden Unarten und Vergehungen nicht
ertragen, und statt dasselbe durch zärtliche Liebe oder
strafenden Ernst zu bessern, nahm sie zu körperlichen
Züchtigungen ihre Zuflucht.


( Fortsetzung folgt. )

Hiesiges.
Ueber die gewerblichen Zustände in Deutsch-
land, England und Frankreich.
Eine geschichtliche Skizze.
Dem hiesigen Gewerbsverein vorgetragen von
Kaufmann Louis Schmidt.
Fortsetzung.

Solche Gewerbe übrigens, die sich auf Verferti-
gung der Waffen und deren Verzierungen legten, so-
wie der Geräthe zum Kirchendienste, z. B. Goldschmiede,
blühten bald auf und dies ist auch das erste freie Ge-
werbe in Deutschland.

Was aber die erste Ursache und Gründung eines
freien Bürger= und Gewerbstandes war, das sind die
erwähnten Kriege mit den Ungarn. Um den Einfäl-
len dieser Barbaren mit kräftigem Widerstand begeg-
nen zu können, gründete im Anfang des 10ten Jahr-
hunderts Heinrich I. wohlbefestigte Städte.

Da aber unsere Väter lieber im Freien lebten,
als in den Mauern der Städte, so bewilligte er den-
jenigen, die in die Städte zogen, mehrere Freiheiten,
worunter auch diese, daß sich die einzelnen Gewerbe
zu Genossenschaften oder Zünften vereinigen durften,
eigene Gerichtsbarkeit in Person ihrer Aldermänner
oder Obermeister hatten Am Schlusse des 11ten
und Anfang des 12ten Jahrhunderts finden wir solche
Gilden und Zünfte auch in England und Frankreich.
( Anders. Gesch. des Handels. J. 1090 und 1126. )
Aber nicht nur, um die Städte zu bevölkern, ertheilte
man dem Gewerbe= und auch gleichzeitig dem Han-
delsstande solche Rechte, sondern um in dem freien
[Ende Spaltensatz]

*) Wir könnten uns füglich jedes Weiteren über den in
allen Blättern aufs Breiteste besprochenen Gegenstand
enthalten; da wir indeßen unsern Lesern früher schon
eine weitere Mittheilung versprochen haben und bis-
her durch die Verhältnisse davon abgehalten wurden,
so geben wir dieselbe hiemit.
   Anmerkung der Redaction.
* ) Wir könnten uns füglich jedes Weiteren über den in
allen Blättern aufs Breiteste besprochenen Gegenstand
enthalten; da wir indeßen unsern Lesern früher schon
eine weitere Mittheilung versprochen haben und bis-
her durch die Verhältnisse davon abgehalten wurden,
so geben wir dieselbe hiemit.
    Anmerkung der Redaction.
[Beginn Spaltensatz]
Die Giftmischerin Chr. Ruthardt und das
hochnothpeinliche Halsgericht*)
. * )

    „ Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe
    den ersten Stein auf sie.“

Wenn ich diesen Ausspruch an die Spitze des
gegenwärtigen Aufsatzes stelle, so geschieht es kei-
neswegs, um die fluchwürdige That zu vertheidigen,
oder dem abscheulichen Verbrechen, diesem schauder-
vollen Beweis der tiefen Verderbniß menschlicher
Natur das Wort zu reden, sondern ich möchte da-
mit nur jenen splitterrichtenden Verdammungsurthei-
len das allgemeine Panier der Liebe entgegen, und
dem pharisäischen Heuchlerseufzer: „Jch danke dir,
Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute,“ einen
Spiegel vorhalten, in welchen Keiner, ohne ihn
durch seinen Hauch zu trüben, schauen kann. Jch
möchte dadurch die Veranlassung geben, daß Jeder,
bevor er mit grausamer Strenge aburtheilen will,
vorerst niedersteigen möge in die Tiefen seines eige-
nen Herzens, die Geschichte der Verirrungen seiner
eigenen Seele erwäge und untersuche, die leisen ge-
heimen Anfänge, die sich oft im Leben zum schau-
dervollen Abgrunde öffnen, ernstlich prüfe, und auf
jene Augenblicke hinweisen, „wo man dem Schick-
sal näher steht, als sonst.“ Jch möchte endlich diese
schaudererregende That nicht als eine einzelnstehende
Thatsache betrachtet wissen, sondern als den natür-
lichen Schluß einer Kette von Verbrechen, die --
wenn sie auch nicht zu Thaten wurden -- ihren
Grund ebensosehr in der tiefverdorbenen Natur der
Verbrecherin fanden, als sie von deren Ver-
hältnissen zur Gesellschaft begünstigt und
gefördert wurden.

Der Kopf der Verbrecherin ist gefallen, dem
Gesetz zur Sühne. Mit dem Leben hat sie ihre
Schuld gebüßt, durch ihr Sterben ihr Verbrechen
an der menschlichen Gesellschaft versöhnt. Jede wei-
tere Anklage muß nun verstummen. Ein höherer
Richter rächt die Uebergriffe in eine höhere Ordnung,
und der Gott der Liebe seufzt über dem mosaischen
Blutgesetz. Deßhalb sei der Mensch gerecht, und
-- „wer steht, hüte sich, daß er nicht falle.“

Wir wollen nun versuchen, in gedrängter Kürze
die Verkettung der Umstände, die in jenem entsetz-
lichen Verbrechen endeten, aus der Lebensgeschichte
der Verbrecherin, soweit diese zu uns gelangen konnte,
psychologisch zu entwickeln suchen.

Der Vater der Angeschuldigten war ein berühm-
ter Arzt in Stuttgart, ein reicher, angesehener
Mann, eine genialische, aber excentrische Natur.
Er lebte in vertrauten Verhältnissen mit der noch
lebenden Mutter derselben, und die Frucht ihres
Umgangs war ein Kind, das am 11. August 1804
[Spaltenumbruch] zur Welt kam. Kaum einige Monate alt, wurde
dasselbe einer Pfarrerfamilie auf dem Lande überge-
ben, woselbst das bildschöne Kind, das gleichwohl
schon frühe ein wildes, hochfahriges Wesen zeigte,
bis in das achte Jahr blieb. Um diese Zeit kam
die Schwester des Vaters, die sich einer ehelichen
Verbindung desselben mit der Mutter des Kindes
widersetzt hatte, in das Pfarrhaus, um die Kleine
mit fort zunehmen. Der Pfarrer aber, der Wohl-
gefallen an dem Mädchen gefunden hatte, entließ
diese ungerne seiner Pflege; denn er hoffte die schon
gefahrdrohenden Eigenschaften derselben, die sich
vorerst nur in übergewöhnlichen, kindischen Unarten
geäußert hatten, durch Unterricht, liebevolle Zunei-
gung wieder auszumerzen, um sie dereinst als ein
an Körper und Geist ausgebildetes Weib der Welt
übergeben zu können. Die Tante, die Gattin eines
wohlhabenden, selbst kinderlosen Beamten, lehnte
indessen das Anerbieten ab, und so kam das Mädchen
in deren Haus, woselbst sie, einen vortrefflichen
Schulunterricht genießend, drei Jahre blieb. Die
Frau mag aber wenig geeignet zur Erziehung des
Kindes gewesen seyn. Jhr heftiges Temperament
konnte die wilden Unarten und Vergehungen nicht
ertragen, und statt dasselbe durch zärtliche Liebe oder
strafenden Ernst zu bessern, nahm sie zu körperlichen
Züchtigungen ihre Zuflucht.


( Fortsetzung folgt. )

Hiesiges.
Ueber die gewerblichen Zustände in Deutsch-
land, England und Frankreich.
Eine geschichtliche Skizze.
Dem hiesigen Gewerbsverein vorgetragen von
Kaufmann Louis Schmidt.
Fortsetzung.

Solche Gewerbe übrigens, die sich auf Verferti-
gung der Waffen und deren Verzierungen legten, so-
wie der Geräthe zum Kirchendienste, z. B. Goldschmiede,
blühten bald auf und dies ist auch das erste freie Ge-
werbe in Deutschland.

Was aber die erste Ursache und Gründung eines
freien Bürger= und Gewerbstandes war, das sind die
erwähnten Kriege mit den Ungarn. Um den Einfäl-
len dieser Barbaren mit kräftigem Widerstand begeg-
nen zu können, gründete im Anfang des 10ten Jahr-
hunderts Heinrich I. wohlbefestigte Städte.

Da aber unsere Väter lieber im Freien lebten,
als in den Mauern der Städte, so bewilligte er den-
jenigen, die in die Städte zogen, mehrere Freiheiten,
worunter auch diese, daß sich die einzelnen Gewerbe
zu Genossenschaften oder Zünften vereinigen durften,
eigene Gerichtsbarkeit in Person ihrer Aldermänner
oder Obermeister hatten Am Schlusse des 11ten
und Anfang des 12ten Jahrhunderts finden wir solche
Gilden und Zünfte auch in England und Frankreich.
( Anders. Gesch. des Handels. J. 1090 und 1126. )
Aber nicht nur, um die Städte zu bevölkern, ertheilte
man dem Gewerbe= und auch gleichzeitig dem Han-
delsstande solche Rechte, sondern um in dem freien
[Ende Spaltensatz]

*) Wir könnten uns füglich jedes Weiteren über den in
allen Blättern aufs Breiteste besprochenen Gegenstand
enthalten; da wir indeßen unsern Lesern früher schon
eine weitere Mittheilung versprochen haben und bis-
her durch die Verhältnisse davon abgehalten wurden,
so geben wir dieselbe hiemit.
   Anmerkung der Redaction.
* ) Wir könnten uns füglich jedes Weiteren über den in
allen Blättern aufs Breiteste besprochenen Gegenstand
enthalten; da wir indeßen unsern Lesern früher schon
eine weitere Mittheilung versprochen haben und bis-
her durch die Verhältnisse davon abgehalten wurden,
so geben wir dieselbe hiemit.
    Anmerkung der Redaction.
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Zitationshilfe: Tübinger Chronik. Nr. 83. [Tübingen (Württemberg)], 11. Juli 1845, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_chronik083_1845/2>, abgerufen am 03.12.2024.