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Herders Conversations-Lexikon. Bd. 4. Freiburg im Breisgau, 1856.

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leichtfertige Lehrjunge wurde in Savoyen ohne viele Um stände in die kathol. Kirche aufgenommen, der sinnliche Jüngling von einer üppigen Dame mißbraucht u. an die Wollust gewöhnt, während er zugleich mit dem Treiben einer großen Stadt bekannt wurde. Als Sohn eines Genfer "Ouvrier" erbte er den Haß gegen Monarchie u. Aristokratie, der durch die Richtung des damaligen Zeitgeistes und die Haltung der höheren Stände selbst nur genährt werden konnte; ehrgeizig war R. mehr als genug, um sich für eine hohe Stellung befähigt zu halten u. in seiner Phantasie dachte er sich als Feldherr, Staatsmann u. dgl., war aber zu reizbar und ernsthafter Arbeit zu abgeneigt, um einen durchdachten Plan für seinen Lebensgang zu fassen, od. eine der dargebotenen Gelegenheiten mit Energie zu ergreifen und mit Ausdauer zu verfolgen. Ohne Religion, ohne sittliches Ideal für sich selbst, ohne eigentlichen Beruf und Stand, sinnlich und geistig äußerst reizbar, wollüstig, phantastisch, ohne gründliche Bildung, aber mit dem Bewußtsein einer überlegenen Geisteskraft, ehrgeizig und doch scheinbar anspruchlos, mußte R. mit allen Verhältnissen und Personen, mit denen er in nähere Berührung kam, in Collision kommen, und es ist nicht wunderbar, wenn er sich groben Undanks gegen Freunde und Wohlthäter schuldig machte, sich mit fast wahnsinnigem Mißtrauen plagte, von der Hypochondrie umhergetrieben wurde wie ein ausgerissener Baum in Stromwirbeln, die Weltordnung Gottes nur in lichten Augenblicken bewundern konnte, die Staatsordnung aber bitter haßte, überhaupt den sog. "Weltschmerz" ausbrütete, der auch in unsern Tagen von minder begabten aber nicht minder verwüsteten Geistern zur Schau gestellt wird. R. zeigte als Schriftsteller eine Meisterschaft in der Darstellung der Mißverhältnisse in der menschlichen Gesellschaft und der Empörung des leidenschaftlichen Herzens gegen den Zwang der Sitte und Convenienz; seine Dialektik ist blendend u. systematisch, da sie aber auf falschen Principien beruht, so wirkt sie nur zerstörend, nicht schaffend, und deßwegen gilt R. auch mit Recht als der eigentliche Vorläufer der franz. Revolution. Er wandte sich 1741 nach Paris, konnte durch einige kleinere Schriften keine Aufmerksamkeit erregen und nährte sich hauptsächlich vom Notenschreiben; 1743 bekam er bei dem franz. Gesandten in Venedig eine Anstellung als Sekretär, hielt es aber nicht lange aus u. kehrte wieder in seine ärmlichen Verhältnisse nach Paris zurück. Durch eine kleine Oper (le devin du village) gewann er 1752 die Gunst des großen Publikums, nachdem er durch seine mit geistreicher Paradoxie durchgeführte Behauptung, die Fortschritte in den Wissenschaften u. Künsten seien den Sitten schädlich, welche von der Dijoner Akademie 1750 den Preis erhielt, sich den tonangebenden Geistern in Paris bemerklich gemacht hatte; allein nun bewies er den Franzosen, daß sie keine Musik hätten, überwarf sich mit den Gelehrten und begab sich deßwegen 1754 nach Genf zurück und wurde wieder Calvinist. Es gefiel ihm aber nicht lange in Genf, es zog ihn nach Frankreich und er lebte mehre Jahre ziemlich einsam in Montmorency; hier schrieb er seinen "Contrat social" 1758, der das Programm der republikan. Fanatiker, namentlich St. Just's, wurde; den Roman "Julie ou la nouvelle Heloise" 1761, ein Meisterwerk der Leidenschaft, von dem er selbst sagt, keine reine Jungfrau werde es lesen, "Emile" 1762, in welchem er allerdings die Mängel der damaligen Erziehung nachwies und einen großen Einfluß auf die Umgestaltung des Erziehungswesens ausübte, aber Grundfalsches u. Unausführbares massenhaft beimischte. Wegen der irreligiösen Tendenz des Emil mußte R. entfliehen, und das Bach wurde auf Befehl des Parlaments öffentlich durch Henkers Hand verbrannt; R. fand in Genf, in Bern, in Moitiers Travers, in Neufchatel, auf der Petersinsel im Bieler See keinen dauernden Aufenthalt, ging 1766 zu Hume nach England, verfeindete sich mit diesem gründlich, durfte 1767 nach Frankreich zurückkehren, heirathete 1770 seine Haushälterin Therese Levasseur, mit der er 5 Kinder erzeugt, aber dieselben in das

leichtfertige Lehrjunge wurde in Savoyen ohne viele Um stände in die kathol. Kirche aufgenommen, der sinnliche Jüngling von einer üppigen Dame mißbraucht u. an die Wollust gewöhnt, während er zugleich mit dem Treiben einer großen Stadt bekannt wurde. Als Sohn eines Genfer „Ouvrier“ erbte er den Haß gegen Monarchie u. Aristokratie, der durch die Richtung des damaligen Zeitgeistes und die Haltung der höheren Stände selbst nur genährt werden konnte; ehrgeizig war R. mehr als genug, um sich für eine hohe Stellung befähigt zu halten u. in seiner Phantasie dachte er sich als Feldherr, Staatsmann u. dgl., war aber zu reizbar und ernsthafter Arbeit zu abgeneigt, um einen durchdachten Plan für seinen Lebensgang zu fassen, od. eine der dargebotenen Gelegenheiten mit Energie zu ergreifen und mit Ausdauer zu verfolgen. Ohne Religion, ohne sittliches Ideal für sich selbst, ohne eigentlichen Beruf und Stand, sinnlich und geistig äußerst reizbar, wollüstig, phantastisch, ohne gründliche Bildung, aber mit dem Bewußtsein einer überlegenen Geisteskraft, ehrgeizig und doch scheinbar anspruchlos, mußte R. mit allen Verhältnissen und Personen, mit denen er in nähere Berührung kam, in Collision kommen, und es ist nicht wunderbar, wenn er sich groben Undanks gegen Freunde und Wohlthäter schuldig machte, sich mit fast wahnsinnigem Mißtrauen plagte, von der Hypochondrie umhergetrieben wurde wie ein ausgerissener Baum in Stromwirbeln, die Weltordnung Gottes nur in lichten Augenblicken bewundern konnte, die Staatsordnung aber bitter haßte, überhaupt den sog. „Weltschmerz“ ausbrütete, der auch in unsern Tagen von minder begabten aber nicht minder verwüsteten Geistern zur Schau gestellt wird. R. zeigte als Schriftsteller eine Meisterschaft in der Darstellung der Mißverhältnisse in der menschlichen Gesellschaft und der Empörung des leidenschaftlichen Herzens gegen den Zwang der Sitte und Convenienz; seine Dialektik ist blendend u. systematisch, da sie aber auf falschen Principien beruht, so wirkt sie nur zerstörend, nicht schaffend, und deßwegen gilt R. auch mit Recht als der eigentliche Vorläufer der franz. Revolution. Er wandte sich 1741 nach Paris, konnte durch einige kleinere Schriften keine Aufmerksamkeit erregen und nährte sich hauptsächlich vom Notenschreiben; 1743 bekam er bei dem franz. Gesandten in Venedig eine Anstellung als Sekretär, hielt es aber nicht lange aus u. kehrte wieder in seine ärmlichen Verhältnisse nach Paris zurück. Durch eine kleine Oper (le devin du village) gewann er 1752 die Gunst des großen Publikums, nachdem er durch seine mit geistreicher Paradoxie durchgeführte Behauptung, die Fortschritte in den Wissenschaften u. Künsten seien den Sitten schädlich, welche von der Dijoner Akademie 1750 den Preis erhielt, sich den tonangebenden Geistern in Paris bemerklich gemacht hatte; allein nun bewies er den Franzosen, daß sie keine Musik hätten, überwarf sich mit den Gelehrten und begab sich deßwegen 1754 nach Genf zurück und wurde wieder Calvinist. Es gefiel ihm aber nicht lange in Genf, es zog ihn nach Frankreich und er lebte mehre Jahre ziemlich einsam in Montmorency; hier schrieb er seinen „Contrat social“ 1758, der das Programm der republikan. Fanatiker, namentlich St. Justʼs, wurde; den Roman „Julie ou la nouvelle Heloise“ 1761, ein Meisterwerk der Leidenschaft, von dem er selbst sagt, keine reine Jungfrau werde es lesen, „Emile“ 1762, in welchem er allerdings die Mängel der damaligen Erziehung nachwies und einen großen Einfluß auf die Umgestaltung des Erziehungswesens ausübte, aber Grundfalsches u. Unausführbares massenhaft beimischte. Wegen der irreligiösen Tendenz des Emil mußte R. entfliehen, und das Bach wurde auf Befehl des Parlaments öffentlich durch Henkers Hand verbrannt; R. fand in Genf, in Bern, in Moitiers Travers, in Neufchâtel, auf der Petersinsel im Bieler See keinen dauernden Aufenthalt, ging 1766 zu Hume nach England, verfeindete sich mit diesem gründlich, durfte 1767 nach Frankreich zurückkehren, heirathete 1770 seine Haushälterin Therese Levasseur, mit der er 5 Kinder erzeugt, aber dieselben in das

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[777/0778] leichtfertige Lehrjunge wurde in Savoyen ohne viele Um stände in die kathol. Kirche aufgenommen, der sinnliche Jüngling von einer üppigen Dame mißbraucht u. an die Wollust gewöhnt, während er zugleich mit dem Treiben einer großen Stadt bekannt wurde. Als Sohn eines Genfer „Ouvrier“ erbte er den Haß gegen Monarchie u. Aristokratie, der durch die Richtung des damaligen Zeitgeistes und die Haltung der höheren Stände selbst nur genährt werden konnte; ehrgeizig war R. mehr als genug, um sich für eine hohe Stellung befähigt zu halten u. in seiner Phantasie dachte er sich als Feldherr, Staatsmann u. dgl., war aber zu reizbar und ernsthafter Arbeit zu abgeneigt, um einen durchdachten Plan für seinen Lebensgang zu fassen, od. eine der dargebotenen Gelegenheiten mit Energie zu ergreifen und mit Ausdauer zu verfolgen. Ohne Religion, ohne sittliches Ideal für sich selbst, ohne eigentlichen Beruf und Stand, sinnlich und geistig äußerst reizbar, wollüstig, phantastisch, ohne gründliche Bildung, aber mit dem Bewußtsein einer überlegenen Geisteskraft, ehrgeizig und doch scheinbar anspruchlos, mußte R. mit allen Verhältnissen und Personen, mit denen er in nähere Berührung kam, in Collision kommen, und es ist nicht wunderbar, wenn er sich groben Undanks gegen Freunde und Wohlthäter schuldig machte, sich mit fast wahnsinnigem Mißtrauen plagte, von der Hypochondrie umhergetrieben wurde wie ein ausgerissener Baum in Stromwirbeln, die Weltordnung Gottes nur in lichten Augenblicken bewundern konnte, die Staatsordnung aber bitter haßte, überhaupt den sog. „Weltschmerz“ ausbrütete, der auch in unsern Tagen von minder begabten aber nicht minder verwüsteten Geistern zur Schau gestellt wird. R. zeigte als Schriftsteller eine Meisterschaft in der Darstellung der Mißverhältnisse in der menschlichen Gesellschaft und der Empörung des leidenschaftlichen Herzens gegen den Zwang der Sitte und Convenienz; seine Dialektik ist blendend u. systematisch, da sie aber auf falschen Principien beruht, so wirkt sie nur zerstörend, nicht schaffend, und deßwegen gilt R. auch mit Recht als der eigentliche Vorläufer der franz. Revolution. Er wandte sich 1741 nach Paris, konnte durch einige kleinere Schriften keine Aufmerksamkeit erregen und nährte sich hauptsächlich vom Notenschreiben; 1743 bekam er bei dem franz. Gesandten in Venedig eine Anstellung als Sekretär, hielt es aber nicht lange aus u. kehrte wieder in seine ärmlichen Verhältnisse nach Paris zurück. Durch eine kleine Oper (le devin du village) gewann er 1752 die Gunst des großen Publikums, nachdem er durch seine mit geistreicher Paradoxie durchgeführte Behauptung, die Fortschritte in den Wissenschaften u. Künsten seien den Sitten schädlich, welche von der Dijoner Akademie 1750 den Preis erhielt, sich den tonangebenden Geistern in Paris bemerklich gemacht hatte; allein nun bewies er den Franzosen, daß sie keine Musik hätten, überwarf sich mit den Gelehrten und begab sich deßwegen 1754 nach Genf zurück und wurde wieder Calvinist. Es gefiel ihm aber nicht lange in Genf, es zog ihn nach Frankreich und er lebte mehre Jahre ziemlich einsam in Montmorency; hier schrieb er seinen „Contrat social“ 1758, der das Programm der republikan. Fanatiker, namentlich St. Justʼs, wurde; den Roman „Julie ou la nouvelle Heloise“ 1761, ein Meisterwerk der Leidenschaft, von dem er selbst sagt, keine reine Jungfrau werde es lesen, „Emile“ 1762, in welchem er allerdings die Mängel der damaligen Erziehung nachwies und einen großen Einfluß auf die Umgestaltung des Erziehungswesens ausübte, aber Grundfalsches u. Unausführbares massenhaft beimischte. Wegen der irreligiösen Tendenz des Emil mußte R. entfliehen, und das Bach wurde auf Befehl des Parlaments öffentlich durch Henkers Hand verbrannt; R. fand in Genf, in Bern, in Moitiers Travers, in Neufchâtel, auf der Petersinsel im Bieler See keinen dauernden Aufenthalt, ging 1766 zu Hume nach England, verfeindete sich mit diesem gründlich, durfte 1767 nach Frankreich zurückkehren, heirathete 1770 seine Haushälterin Therese Levasseur, mit der er 5 Kinder erzeugt, aber dieselben in das

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Zitationshilfe: Herders Conversations-Lexikon. Bd. 4. Freiburg im Breisgau, 1856, S. 777. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_conversationslexikon04_1856/778>, abgerufen am 25.11.2024.