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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie.
Gegensatze des sich zum Gelbstzwecke machenden Kapitals und des Konsum-
bedürfnisses, dem die Produktion nur Mittel ist, hervorzugehen.

Hier und nirgend anders ist der Punkt, an dem die Sozialdemokratie
grundsätzlich zu bestreiten ist. Von hier aus stammen die sämtlichen Um-
kehrungen des nach menschlicher Voraussicht möglichen Werdegangs zur Be-
freiung. Und damit schafft der Doktrinarismus sich selbst die stärksten Hinder-
nisse zur Erreichung seiner grundlegenden und wichtigsten Ziele. Wenn er
wenigstens die Möglichkeit zugeben wollte, daß die Eroberung politischer Macht
nicht den Anfangs=, sondern den Endpunkt bilden möchte, daß die ausschließ-
liche Betonung der Arbeiterklasse zu eng ist, daß in der genossenschaftlichen
Organisation nicht nach solchen speziellen Parteidogmen gefragt werden, son-
dern das Ziel selbst frei von jeder Parteienge in größter Bestimmtheit klar
gemacht und zum alleinigen Leitfaden erhoben werden muß: wir wären
wahrlich schon ein Stücklein weiter. Was so viele sich von der Sozialdemokratie
fern halten läßt, ist nicht bloß die gesellschaftliche Rücksicht, sondern in der Tat
die Besorgnis, daß aus einem so unorganisch verfolgten Ziele nichts Rechtes
werden könne. Gegen den Kapitalismus selbst sind schon zahllose Menschen zu
gewinnen, die vor der Sozialdemokratie noch drei Kreuze machen.

Wenn der nunmehr aus dem Taumel der Zweifrontentheorie erwachende
Liberalismus hier anhaken, diese Gesichtspunkte scharf hervorheben und in ihre
praktischen und taktischen Konsequenzen verfolgen will, so kann man mit ihm
nur sympathisieren; wenn er aber so ganz allgemein von Verurteilung der
"Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie" redet, so kann nur das allergrößte
Mißtrauen gegen den Ernst seiner Bestrebungen rege werden. Denn klar
sagen, wohin man zielt, das ist die erste aller Forderungen. Die Aufgabe
gegenüber dem großen Gegensatz unserer Zeit besteht nicht in dem allgemeinen
Biedermannswillen, freigesinnt und liberal zu sein, sondern vor allem in der
klaren Einsicht darin, daß jede Freiheit auf hohlem Boden steht, wenn nicht die
Knebelung durch den Kapitalismus, dessen Wesen und Macht doch nunmehr
praktisch deutlich und klar genug auch dem blödesten Auge gezeigt sein sollte,
"grundsätzlich" überwunden ist.

Der Kampfruf eines ernsthaften Liberalismus müßte also sein: "Wenn
wir auch in Methode und Taktik der heutigen Sozialdemokratie in wesentlichen
Beziehungen gegnerisch gegenüberstehen, so fühlen wir uns doch gerade in dem
Ziele durchgängiger Selbstverwaltung auf allen Lebensgebieten und in dem
Gedanken, daß der Ersatz der Kapitalbeherrschung durch genossenschaftliche Or-
ganisation aller dem Kapitalismus unterworfenen Produktion unumgängliche
Bedingung hierzu sei, durchaus eins." Jn diesem Gedanken müßte ein wirk-
lich seines Namens werter Liberalismus unbeschadet der Selbständigkeit seiner
Organisation gegenüber der politischen, sozialen und geistigen Reaktion stets
Schulter an Schulter mit der Sozialdemokratie kämpfen. Wenn er aber die
wichtigsten Grundlagen seiner Existenzberechtigung verhehlt und verhüllt, so
wird er doch nur wieder in die Zweifrontentheorie hineingeraten und auch
ungewollt ein Schleppträger der Reaktion sein und in dieser Mittelstellung
zerrieben werden. Ob er wieder etwas sein wird, das hängt von der " grund-
sätzlichen " Stellungnahme in genannter Frage ab.



Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie.
Gegensatze des sich zum Gelbstzwecke machenden Kapitals und des Konsum-
bedürfnisses, dem die Produktion nur Mittel ist, hervorzugehen.

Hier und nirgend anders ist der Punkt, an dem die Sozialdemokratie
grundsätzlich zu bestreiten ist. Von hier aus stammen die sämtlichen Um-
kehrungen des nach menschlicher Voraussicht möglichen Werdegangs zur Be-
freiung. Und damit schafft der Doktrinarismus sich selbst die stärksten Hinder-
nisse zur Erreichung seiner grundlegenden und wichtigsten Ziele. Wenn er
wenigstens die Möglichkeit zugeben wollte, daß die Eroberung politischer Macht
nicht den Anfangs=, sondern den Endpunkt bilden möchte, daß die ausschließ-
liche Betonung der Arbeiterklasse zu eng ist, daß in der genossenschaftlichen
Organisation nicht nach solchen speziellen Parteidogmen gefragt werden, son-
dern das Ziel selbst frei von jeder Parteienge in größter Bestimmtheit klar
gemacht und zum alleinigen Leitfaden erhoben werden muß: wir wären
wahrlich schon ein Stücklein weiter. Was so viele sich von der Sozialdemokratie
fern halten läßt, ist nicht bloß die gesellschaftliche Rücksicht, sondern in der Tat
die Besorgnis, daß aus einem so unorganisch verfolgten Ziele nichts Rechtes
werden könne. Gegen den Kapitalismus selbst sind schon zahllose Menschen zu
gewinnen, die vor der Sozialdemokratie noch drei Kreuze machen.

Wenn der nunmehr aus dem Taumel der Zweifrontentheorie erwachende
Liberalismus hier anhaken, diese Gesichtspunkte scharf hervorheben und in ihre
praktischen und taktischen Konsequenzen verfolgen will, so kann man mit ihm
nur sympathisieren; wenn er aber so ganz allgemein von Verurteilung der
„Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie“ redet, so kann nur das allergrößte
Mißtrauen gegen den Ernst seiner Bestrebungen rege werden. Denn klar
sagen, wohin man zielt, das ist die erste aller Forderungen. Die Aufgabe
gegenüber dem großen Gegensatz unserer Zeit besteht nicht in dem allgemeinen
Biedermannswillen, freigesinnt und liberal zu sein, sondern vor allem in der
klaren Einsicht darin, daß jede Freiheit auf hohlem Boden steht, wenn nicht die
Knebelung durch den Kapitalismus, dessen Wesen und Macht doch nunmehr
praktisch deutlich und klar genug auch dem blödesten Auge gezeigt sein sollte,
„grundsätzlich“ überwunden ist.

Der Kampfruf eines ernsthaften Liberalismus müßte also sein: „Wenn
wir auch in Methode und Taktik der heutigen Sozialdemokratie in wesentlichen
Beziehungen gegnerisch gegenüberstehen, so fühlen wir uns doch gerade in dem
Ziele durchgängiger Selbstverwaltung auf allen Lebensgebieten und in dem
Gedanken, daß der Ersatz der Kapitalbeherrschung durch genossenschaftliche Or-
ganisation aller dem Kapitalismus unterworfenen Produktion unumgängliche
Bedingung hierzu sei, durchaus eins.“ Jn diesem Gedanken müßte ein wirk-
lich seines Namens werter Liberalismus unbeschadet der Selbständigkeit seiner
Organisation gegenüber der politischen, sozialen und geistigen Reaktion stets
Schulter an Schulter mit der Sozialdemokratie kämpfen. Wenn er aber die
wichtigsten Grundlagen seiner Existenzberechtigung verhehlt und verhüllt, so
wird er doch nur wieder in die Zweifrontentheorie hineingeraten und auch
ungewollt ein Schleppträger der Reaktion sein und in dieser Mittelstellung
zerrieben werden. Ob er wieder etwas sein wird, das hängt von der „ grund-
sätzlichen “ Stellungnahme in genannter Frage ab.



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[257/0017] Prof. F. Staudinger: Sozialliberalismus und Sozialdemokratie. Gegensatze des sich zum Gelbstzwecke machenden Kapitals und des Konsum- bedürfnisses, dem die Produktion nur Mittel ist, hervorzugehen. Hier und nirgend anders ist der Punkt, an dem die Sozialdemokratie grundsätzlich zu bestreiten ist. Von hier aus stammen die sämtlichen Um- kehrungen des nach menschlicher Voraussicht möglichen Werdegangs zur Be- freiung. Und damit schafft der Doktrinarismus sich selbst die stärksten Hinder- nisse zur Erreichung seiner grundlegenden und wichtigsten Ziele. Wenn er wenigstens die Möglichkeit zugeben wollte, daß die Eroberung politischer Macht nicht den Anfangs=, sondern den Endpunkt bilden möchte, daß die ausschließ- liche Betonung der Arbeiterklasse zu eng ist, daß in der genossenschaftlichen Organisation nicht nach solchen speziellen Parteidogmen gefragt werden, son- dern das Ziel selbst frei von jeder Parteienge in größter Bestimmtheit klar gemacht und zum alleinigen Leitfaden erhoben werden muß: wir wären wahrlich schon ein Stücklein weiter. Was so viele sich von der Sozialdemokratie fern halten läßt, ist nicht bloß die gesellschaftliche Rücksicht, sondern in der Tat die Besorgnis, daß aus einem so unorganisch verfolgten Ziele nichts Rechtes werden könne. Gegen den Kapitalismus selbst sind schon zahllose Menschen zu gewinnen, die vor der Sozialdemokratie noch drei Kreuze machen. Wenn der nunmehr aus dem Taumel der Zweifrontentheorie erwachende Liberalismus hier anhaken, diese Gesichtspunkte scharf hervorheben und in ihre praktischen und taktischen Konsequenzen verfolgen will, so kann man mit ihm nur sympathisieren; wenn er aber so ganz allgemein von Verurteilung der „Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie“ redet, so kann nur das allergrößte Mißtrauen gegen den Ernst seiner Bestrebungen rege werden. Denn klar sagen, wohin man zielt, das ist die erste aller Forderungen. Die Aufgabe gegenüber dem großen Gegensatz unserer Zeit besteht nicht in dem allgemeinen Biedermannswillen, freigesinnt und liberal zu sein, sondern vor allem in der klaren Einsicht darin, daß jede Freiheit auf hohlem Boden steht, wenn nicht die Knebelung durch den Kapitalismus, dessen Wesen und Macht doch nunmehr praktisch deutlich und klar genug auch dem blödesten Auge gezeigt sein sollte, „grundsätzlich“ überwunden ist. Der Kampfruf eines ernsthaften Liberalismus müßte also sein: „Wenn wir auch in Methode und Taktik der heutigen Sozialdemokratie in wesentlichen Beziehungen gegnerisch gegenüberstehen, so fühlen wir uns doch gerade in dem Ziele durchgängiger Selbstverwaltung auf allen Lebensgebieten und in dem Gedanken, daß der Ersatz der Kapitalbeherrschung durch genossenschaftliche Or- ganisation aller dem Kapitalismus unterworfenen Produktion unumgängliche Bedingung hierzu sei, durchaus eins.“ Jn diesem Gedanken müßte ein wirk- lich seines Namens werter Liberalismus unbeschadet der Selbständigkeit seiner Organisation gegenüber der politischen, sozialen und geistigen Reaktion stets Schulter an Schulter mit der Sozialdemokratie kämpfen. Wenn er aber die wichtigsten Grundlagen seiner Existenzberechtigung verhehlt und verhüllt, so wird er doch nur wieder in die Zweifrontentheorie hineingeraten und auch ungewollt ein Schleppträger der Reaktion sein und in dieser Mittelstellung zerrieben werden. Ob er wieder etwas sein wird, das hängt von der „ grund- sätzlichen “ Stellungnahme in genannter Frage ab.

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/17>, abgerufen am 21.11.2024.